Sahra Wagenknecht wird nicht erneut als Linke-Fraktionsvizechefin kandidieren, der Machtbulle Gregor Gysi hat sie besiegt. Doch damit scheint sie sich gut abfinden zu können. Eine Begegnung.

Die Blumen müssen nicht aufs Laufband, sie werden nicht durchleuchtet? Aber jetzt mal im Ernst, liebe Sicherheitsleute und Paranoia-Spezialisten an der Schleuse zum Abgeordnetenhaus, da könnte doch ein Schraubenzieher drin sein, heutzutage, oder ein Messer oder eine Dynamitstange!

Ich könnte Islamist sein oder depressiver Amokläufer, ich könnte auf jeden Fall das Zeug zum Massenmörder haben, was heißt hier schon Interview? Nun, der Fotograf und ich werden abgeholt von Sahra Wagenknechts Bürodame, eine gläserne Fahrt in den vierten Stock, lange Gänge, der Blick hinab in den schmalen Lichthof, Reihen geschlossener Türen, die Bürodame mag den Blick nicht, es ist ein Zuchthausblick im Zellenblock. Sie haben es nicht leicht unsere Volksvertreter. Umso schöner, wenn mal jemand mit Blumen kommt, oder? Vor allem an einem Tag wie diesem, an dem praktisch von nichts anderem als der Germanwings-Katastrophe die Rede ist!

Und jetzt die Blumen, und sogar die Sonne hat frühlingshaft durch die Wolken geblinzelt! Und dann freut sie sich tatsächlich, Sahra Wagenknecht, Haare hoch wie immer, blaues Kostüm, kerzengerader Rücken, kohlschwarze Augen, leichtes Lächeln, überrascht.

Jawoll, das hier, bitteschön, knisterndes Papier, das sind keine roten Kämpfer-Nelken, sondern weiße Hochzeits-Rosen! Und gelbe dazwischen, kleine Marotte, gelb-weiß sind die Farben des Vatikans, sie lächelt weiter, Franziskus ist eine Offenbarung, sagt sie, was für ein toller Papst.

Also: Herzlichen Glückwunsch zur Hochzeit, das war ja vielleicht überraschend, Frau Wagenknecht!

“Na, so sehr auch nicht”, sagt sie, “wir mussten ja erst mal unsere Scheidungen abwarten, und schließlich war es dann so weit.”

Ich korrigiere: überraschend insofern, dass dann doch dieser formale, bürgerliche Schritt gemacht wird.

“Na ja, wenn man der Meinung ist, dass man zusammenbleibt, kann man diesen Schritt schon tun.”

Erhards “Wohlstand für alle” auf dem Schreibtisch

So klingt sie wohl, die verhaltene Begeisterung pommerscher Fontane-Figuren. Aber dann, plötzlich sekundenschwärmerisch: “Ich find ja auch, das Ideal wäre, wenn man mit 18 den Mann seines Lebens trifft, dann braucht man sich nie wieder zu trennen, aber die Lebensrealität ist eine andere.”

Blöde, stumpfsinnige, unpoetische Realität, die diese Mädchenhaftigkeit nicht zulässt. Die Schröders sind gerade von ihr eingeholt worden. Ja, während Oskar Lafontaine seine Sahra heiratet, lässt sich sein einstiger Kampfgenosse Gerhard Schröder scheiden. Das hat eine gewisse Symmetrie, besonders da Schröder mit einer Ehe nach Punkten vorne liegt.

Ihr Büro sieht unbezogen aus, wie hastig angemietet. Leere Aktenordner, unbeschriftet. Schreibtisch mit Computer, roter Teppichboden, Kiefernregale halb leer. Ein paar Exemplare ihres Bestsellers “Freiheit statt Kapitalismus”, tatsächlich, ein Plädoyer für die Marktwirtschaft von der roten Sahra. Ach, und Ludwig Erhards “Wohlstand für alle”.

Ein verrückter Tag. Sie muss hier sein, weil über Dobrindts Maut abgestimmt wird. Namentlich, fünf Mal. Kein Mensch interessiert sich für die Maut. “Alle halten sie für Schwachsinn”, sagt sie, “vermutlich selbst viele CSUler, außer den Funktionären.”

Anfang der Woche war ihre heimliche Hochzeit mit Oskar die Schlagzeile, seit drei Tagen ist es der Todesflug der Germanwings. Gespenstisch. Das Flugzeug als Waffe, als Hinrichtung, als Bombe aus einem falschen Leben. Grauenhafter Amokflug eines Depressiven. Sahra Wagenknecht fliegt oft, jede Woche mindestens zweimal. Man denkt doch, die sind alle durchgecheckt und gesund, sagt sie. Und dann: “Was weiß man schon vom anderen?”

Es gibt so diese Zwischenwelt-Momente. Als schaute man durchs verkehrte Ende eines Fernrohrs aufs eigene Leben. Das ist jetzt so einer. Wo könnte der Fehler sein?

Das Amt macht nur Sinn, wenn die Fraktion hinter einem steht und den politischen Zielen

Sahra Wagenknecht (Linke)
Vizevorsitzende der Bundestagsfraktion
Vor einigen Tagen hat sie bekannt gegeben, im kommenden Herbst nicht für den Fraktionsvorsitz der Linken im Bundestag kandidieren zu wollen. Lange Zeit schien der Fraktionsvorsitz ihr erstrebtes Ziel zu sein, lange Zeit hat der Macht-BulleGregor Gysi genau das zu verhindern gewusst, und jetzt gibt sie auf? Vielleicht weil sie ahnt, dass es noch ein anderes Leben gibt jenseits dieser scheußlichen Flure und scheußlichen Büros?

Ihr Entschluss, sagt sie, “ist rein politisch”, nee, ist klar. “Das Amt macht nur Sinn, wenn die Fraktion hinter einem steht und den politischen Zielen.” Und das ist nicht mehr der Fall. In der Abstimmung zum Griechenkredit hatte sie für Enthaltung plädiert, während die Fraktion hinter und mit Gysi zustimmte, und zwar mit Volldampf. Hammer. Muss man sich mal vorstellen, Zustimmung statt Enthaltung! Das zieht einem natürlich den Teppich unter den Füßen weg. Wenn man so will.

Oskar kocht, und das tut er gut

Der Job des Fraktionsvorsitzenden der Linken scheint ohnehin nicht besonders erstrebenswert zu sein – jetzt hat auch Parteichefin Katja Kipping dankend abgelehnt, wegen der “Work-Life-Balance”, die da ins Kippen käme.

Ist da eine neue Generation von Klassenkämpferinnen unterwegs, die sich nicht mehr voll reinhängen will und das als Lebensklugheit verkauft? Wir kommen auf Marx und die kommunistische Utopie zu sprechen, auf den berühmten Satz aus der “Deutschen Ideologie”, nämlich “Morgens Jäger, mittags Fischer und abends kritischer Kritiker” zu sein, die Utopie des vollständigen, des nicht entfremdeten Lebens zu leben.

“Jeder braucht Freiräume”, sagt Sahra Wagenknecht und will kurz das Thema Arbeitszeitverkürzung wenigstens streifen. Die Bürodame, Frau Schillen, bringt die Rosen in einer Vase herein. Das Büro sieht jetzt genauso unbewohnt aus, nur eben mit einem Strauß Blumen. Noch rund eine halbe Stunde zur Abstimmung. Über diese idiotische Maut.

Wo auf der Welt würde sie ihre Traumvilla hinsetzen? “Genau da, wo unser Häuschen steht”, sagt sie, “und es muss keine Villa sein.” Da, in diesem Dorf Silwingen bei Merzig (Saarland), ist sie glücklich. Sie sagt tatsächlich: “Da bin ich glücklich.” Oskar kocht, und zwar gut. Manchmal schauen sie sich einen Krimi zusammen an, auf Arte, irgendwas Schwarz-Weißes. Sie joggt. Sie unternehmen Fahrradtouren. Die Landschaft sieht aus wie die ihrer Kindheit, das grüne Thüringen mit seinem Mittelgebirge.

Eigentlich war Blockupy als friedlicher Protest gedacht, das ist nicht Schuld des Bündnisses, wenn da irgendwelche Idioten ihr eigenes Spiel aufziehen

Sahra Wagenknecht (Linke)
Vizevorsitzende der Bundestagsfraktion
Manchmal reden sie über Auftritte, Manöverkritik, “da hast du arrogant ausgesehen”, solche Sachen. Bei ihrem Auftritt jüngst auf dem Römer, nachdem die Randalierer Frankfurt zur Kriegszone gemacht hatten, hätte sie sich da nicht deutlicher distanzieren sollen?

“Hab ich doch gemacht, eigentlich war Blockupy als friedlicher Protest gedacht, das ist nicht Schuld des Bündnisses, wenn da irgendwelche Idioten ihr eigenes Spiel aufziehen.” Sie stand da, kerzengerader Rücken nach dieser Kriegsnacht, und wetterte im roten Kostüm gegen die EZB-Politik, die Millionäre noch reicher mache und die Sparguthaben der kleinen Leute durch die Null-Zins-Politik vernichte.

Nein, ihre Stärke ist sicher nicht die Hinterzimmerpolitik, die “Kärrnerarbeit”, sie geht “dahin, wo die Leute sind, auf die Marktplätze oder in die Talkshows”. Und sie kommt gut an, für eine Linke. Die Mehrheit der Deutschen wünscht sich für sie eine “aktivere Rolle in der Politik”, und laut “Playboy” ganz besonders die Männer.

In einem Punkt völlig einig mit der AfD

Ich hab sie zum letzten mal auf dem Katholikentag in Mannheim erlebt, stand mit ihr auf einem Podium zusammen. Sie hat den Saal gerockt. Es lief ungefähr darauf hinaus, dass Jesus eigentlich das Parteiprogramm der Linken verkünden wollte und sich wohl nur aus Zeitgründen mit der Bergpredigt begnügte.

Sahra Wagenknecht, diese merkwürdig aus der Zeit Gefallene mit ihren strengen Kostümen, ihren leicht sperrigen Bewegungen, mit ihrem 19.-Jahrhundert-Charme, will Wirkung. Und sie weiß, Menschen für sich einzunehmen, besonders linke Katholiken. Was soll sie da in irgendwelchen Hinterzimmern.

Was der Unterschied zwischen der Arbeit im Europaparlament und der im Bundestag ist? “Du spürst bei uns die Wirkung und in Brüssel kein bisschen.” Man muss sich, ihren Schilderungen nach, das Europaparlament wie ein transsilvanisches Bürokratenspukschloss vorstellen: leer, bis auf den, der gerade spricht und den nächsten, der ihn ablöst.

Keine rhetorischen Finessen, die Simultandolmetscher mischen alles auf Alltagssprech herunter. Witze gehen gar nicht, weil die verschiedenen Sprachen unterschiedlich lange Zündschnüre haben. Und niemand da, der antwortet, ein schwarzes Loch. “Um Gottes willen, keine weiteren Befugnisse aus den Nationalparlamenten nach Brüssel”, sagt sie. In dem Punkt passt zwischen sie und die AfD kein Blatt Papier.

Welches Ministeramt sie reizen würde, wenn 2017 Rot-Rot-Grün übernimmt und eventuell wieder ein neues Leben beginnt? “Mit der SPD kriegen Sie doch einen Regierungswechsel nicht hin”, sagt sie, belustigt. “Der Gabriel räumt doch alle Unterschiede zur CDU ab, ob es TTIP ist oder die Vermögenssteuer”, nein, der will das nicht. “Mit der jetzigen Politik kommen die nie aus ihrem 25-Prozent-Loch.” Ramelow macht das gut in Thüringen. “Der geht aufrecht.” Bisher, wenn die Linke irgendwo Junior-Partner war, war sie eben nur das. Irgendwie krumm. (Wie etwa in Berlin mit Gysi, denkt man sich).

Der Ramelow aber, der weiß, was er will. Der lässt Gehässigkeiten abperlen. Wer weiß, vielleicht ist er die Zukunft der Linken. (Im Gegensatz zu Gysi. Das sagt sie jetzt nicht, aber sie denkt es.)

Jeder in seinem eigenen Traum vom richtigen Leben

Es plätschert so in diesem halb leeren tristen Büro, plötzlich eine Art verstimmtes Dröhnen, ein Tröten wie zur Feuerschutzübung. Es ist das Zeichen zur Abstimmung über Dobrindts Jahrhundertwerk, die Maut, und in den monotonen Zellblocks öffnen sich die Türen auf den verschiedenen Etagen, die Abgeordneten schlendern aus ihren Büros und bewegen sich durch einen unterirdischen Tunnel hinüber zum Reichstag.

Das ist jetzt pure Science-Fiction, all diese Menschen kommen zusammen wie in der “Unheimlichen Begegnung der Dritten Art”, das Mauerwerk im Reichstag zum Teil noch mit den Graffiti aus den letzten Kriegstagen, hoch drüber die postmoderne gläserne Kuppel, da kommt Gysi, da ist Dieter Dehm, im Fahrstuhl mit Petra Pau und Charles Huber von der CDU, und Sahra Wagenknecht mit ihrem kerzengeraden Rücken wirkt wie eine freundliche Roboterdame in diesem Raumschiff Orion. Dann sammeln sich alle unter der gläsernen Kuppel, um ein ziemlich überflüssiges Gesetz zu verabschieden.

Jeder in seinem eigenen Traum vom richtigen Leben. Und jeder damit beschäftigt, den Schrecken zu verjagen, der sich in diesen Tagen beharrlich ins Gesichtsfeld schiebt. Wer weiß schon, was den anderen treibt.

Erschienen am 29.03.15 www.welt.de