Fasten ist mehr als Verzicht auf schlechte Angewohnheiten. Fasten entschlackt Körper und Seele, ist ein religiöser Akt. Die Geschichte einer spirituellen Reise zu den Urgründen des Christentums.

Fasten. Das ist freiwilliges Hungern. Und Hungern kennen wir nicht mehr, meine Generation kennt ihn nicht. Wir haben weder Krieg noch Hunger erlebt. Wir sind die Generation ohne Schicksal. Wir kennen den Hunger aus der Tagesschau. Wir kennen ihn aus den Erzählungen der Eltern.

Ich kenne ihn aus Knut Hamsuns Roman “Hunger”, und ich litt. Wie kann man freiwillig hungern?

Jesus ging in die Wüste um 40 Tage zu Fasten und Zwiegespräch mit dem Vater zu halten und sich vom Satan versuchen zu lassen. Er fastete, um in der Stille der Wüste diese innere Stimme zu hören. Wer fastet wird hellhörig. Ich habe es erlebt, tatsächlich.

Es gibt diesen Berliner Kalauer: “Jestern, mir war langweilig, bin ick in kurz jegangen – war ooch nischt los.”

Beim Fasten ist jede Menge los. Gier, Ratlosigkeit, Nervosität, Mangel, doch dann: Glück, hirnrissiges Glück – ich habe es im vergangenen Sommer absolviert, acht Tage fasten, eine Wette mit mir selber, ich wollte mir das Rauchen abgewöhnen. Es hat geklappt, ich habe drüber geschrieben (in “Bilanz”, Februar-Heft)

Jetzt faste ich aus anderen Gründen. Aus religiösen Gründen, schließlich ist Fastenzeit. Der Ramadan wird von Millionen von Muslims peinlich genau eingehalten. Wir, in unseren säkularen Breiten, haben den religiösen Sinn dieser Übung weitgehend vergessen.

Wir haben ihn eingetauscht gegen Gesundheitsgründe, unsere neue Religion, die nicht zu verachten ist, Paulus spricht vom Köper als “Tempel der Seele”. Und der Körper braucht Zeiten, in denen er von der eigenen Substanz lebt, wie die Tiere in der freien Natur in futterarmen Zeiten.

Zeiten der Entschlackung, das ist seit hunderttausend Jahren so, unser Organismus ist darauf eingestellt. Also gibt es das Heilfasten, nach der Buchinger-Methode mit Saft und Tee. Otto Buchinger hatte durch 20-tägiges Fasten eine schlimme rheumatische Entzündung kuriert.

Begleiterscheinung: Pfunde abwerfen. Auch ich werfe ab, rund acht Kilo in zwölf Tagen. Aber ich faste aus anderen Gründen. Es ist Fastenzeit.

In meiner Kindheit hatten die Etappen des Kirchenkalenders besondere Färbungen. Beide großen Besinnungszeiten erstreckten sich im Winter. Zunächst die kerzendurchstrahlte Adventszeit, an deren Ende mit Krippe und Christbaum Jesu Geburt gefeiert wird und der Beginn unserer Zeitrechnung.

Und zum Winterausgang die Fastenzeit! Die Vorbereitung auf die Passion und triumphal die Auferstehung im Osterfest.

Die Fastenzeit war eine gedämpfte Zeit. Sie begann nach den Karnevalstagen, die im Ruhrgebiet so ausgelassen gefeiert wurden wie in Köln, der Zug kam an unserm Haus vorbei, wir waren Cowboy oder Rotkäppchen, die Kamellen flogen auf unsern Balkon.

Meine Eltern fasteten. Meine Mutter ließ die eine oder andere Mahlzeit aus, mein Vater verzichtete an manchen Tagen ganz auf feste Nahrung, es gab kaum Fleisch und keine Schokolade, die wir uns heimlich bei der Oma besorgten.

Wir bekamen eine Art introvertierter Feierlichkeit zu spüren, die in der Karwoche kulminierte, da waren die mit violetten Tüchern abgehängten Gemälde und Kreuze in der Kirche, die Klappern statt der Schellen zur Kommunion. Am Karfreitag die von den Eltern angemahnte Stille auch im Kinderzimmer (Lesen!), Karsamstag ein merkwürdiger Zwischentag. Jesus war tot.

Dann die aufregende Osternacht in der dunklen Kirche, das “lumen Christi”, eine Kerze nach der anderen wurde entzündet, bis das Licht im Kirchenschiff erstrahlte. Vor 20 Jahren erlebte ich im mexikanischen Puerto Vallarta zum Ruf “Christ ist erstanden” überschäumende Freude und Rufe und ein Feuerwerk mit Knallerei im Kirchenschiff – heute würde man dort wohl bleich werden bei diesen Schüssen.

Schließlich also das Osterfest, auf das die Fastenzeit hinführte. In meiner Erinnerung schien die Sonne heller als sonst, prächtig und glanzvoll und triumphierend. Wir hatten gelbe Narzissen auf dem Frühstückstisch, die Osterglocken. Das Osterlamm gab es als Sandkuchen unter Puderzucker. Die Wohnung wurde eingesegnet. Der Herr ist erstanden. Die Nacht ist gewichen. Und später wurden Ostereier gesucht im Garten.

So spiegelte der Kirchenkalender, der in die Jahreszeiten eingepasst war wie eine Reihe von frommen Bauernregeln, Fronleichnam, Mariä Himmelfahrt, Pfingsten, Allerseelen, Totensonntag eine tiefe Menschenklugheit, die vom Werden und vom Vergehen erzählte.

Für alles gibt es eine Zeit, wie das Kohelet sagt, das die Byrds zur Hippie-Hymne schlechthin machten: “To every thing, turn, turn, turn, there is a season, turn, turn, turn, and a time to every purpose under heaven.”

Marlene Dietrich sang diesen Song auf deutsch 1963 “Für alles kommt die Zeit (glaub’, glaub’, glaub’)”, mit dunkler rauchiger Stimme. “Die Zeit zum Singen, die Zeit zum Beten…” Tatsächlich Bibelverse, fundamentalistisch, wie fremd das klingt auf deutsch und wie vertraut und nah als Song der amerikanischen Popkultur.

Ich war wieder an den Bodensee gefahren. Um zu fasten. Nach Überlingen in die Wilhelmi-Buchinger Klinik. Bei meinem letzten Besuch war Sommer, es war kurz nach der triumphalen WM, das Sanatorium hoch überm See mit den winzigen weißen Segeln. Es war schön auf diesem Zauberberg, zwischen Patienten in weißen Frottee-Bademänteln, in einer Pracht an Feld- und Wiesenblumen. Gedämpftes luxuriöses Gesundheits-Geplauder. Reiche Araber versuchten hier in den Ramadan zu kommen. Über uns ein blauer Himmel mit Schäfchenwolken.

Die Prozedur war diesmal die gleiche: Einläufe und dann nur noch Wasser und Säfte, und Suppe abends, aber doch war alles anders. Karg und herb und kalt der Park, die beschnittenen Bäumchen streckten ihre Rümpfe und Stummel in den Nebel, statt der Blumen und Gräser nur einige Strohbüschel in den bereiften Beeten.

Die Natur hatte sich zurückgezogen und fastete mit.

Nun, bei der Begrüßung der Neuankömmlinge durch den Klinikchef Raimund Wilhelmi und seiner Frau Francoise Toledo-Wilhelmi, fiel mir auf, dass die meisten in Begleitung erschienen waren. Als sei das Fasten eine gefahrenreiche Expedition, bei er man sich auf Vertraute verlassen wollte: Männer in Begleitung ihrer Frauen, Mütter mit ihren Töchtern, Verlobte mit ihren Freunden, aus Paris oder dem Ardeche-Tal, aus Basel oder Freiburg oder Berlin.

Oder aus Riad oder Amman, denn die gab es auch, sie übten wohl für den Ramadan.

Fasten. Hungern. Eine Erfahrung, die meine Generation – von Menschen mit Essstörungen abgesehen – nur noch aus der Literatur kennt. Die Wüstenheiligen, die Säulenheiligen haben gefastet. Der Heilige Antonius hat so widerstanden. Flaubert hat daraus ein beeindruckendes Theaterstück gemacht.

Ich will nicht ausschließen, dass mich dieser Versuch zur Imitatio Sancti auch aus theatralischen Gründen interessierte. Action! In die Fussstapfen der Heiligen, zur Fastenzeit! Die Verzückung der Askese erleben, himmelwärts gewendet wie auf einem Gemälde von Greco.

Ich bin wohl anfällig für Hemmungslosigkeiten, in beide Richtungen. Sünde und Reue, beide haben ihre Verlockungen.

Eines Tages, in meiner katholischen Kindheit, in der ich mit Heiligenlegenden aufwuchs, wollte ich Johannes dem Täufer nacheifern, der bekanntermaßen von Heuschrecken und Wildem Honig lebte. Im Sandkasten hatten ich mit meinem kleinen Bruder aus ein Paar Zweigen eine “Laubhütte” errichtet, danach schlichen wir uns in die Vorratskammer und stahlen ein Glas Honig und setzten uns in die Hütte.

Ich weiß nicht, warum ich meinen Bruder mitnahm. Wahrscheinlich als Jünger. Ich hatte das Gebetsbuch dabei und blätterte ernst, obwohl ich noch nicht lesen konnte. Nach einer ernsten Endlosigkeit (etwa zehn Minuten) brach ich das Experiment ab. Wir holten noch ein wenig Honig aus dem Glas und stellten es wieder zurück.

Natürlich flog die Sache auf und wir kriegten tüchtig was auf den Po.

Auch jetzt habe ich meinen Bruder dabei, Professor für Kulturwissenschaften mit einer beachtlichen Liste von Veröffentlichungen, Goethefachmann und Heide wie der Alte. Er ist schon zum vierten oder fünften Mal hier oben. Tut ihm gut. Er empfindet nicht mehr religiös. Schließt einen Schöpfergott aus. Lange Gespräche über die Evolution, über Glauben und Illusionen und die Entwicklung des Menschen aus dem Pantoffetierchen.

Unten in Überlingen am See, der nebelverhangen ist und nur in geisterhaften Schemen die Fähre nach Konstanz erahnen lässt, lautlos, laufen noch die mit bunten Flicken kostümierten “Hänsele” durch die Gassen, und lassen ihre Peitschen knallen. Einer davon, drei Jahre alt, sitzt am Fastnacht-Sonntag mit Kinder-Peitsche neben mir im Münster auf dem Arm der Mutter. Sie ist als Miezekatze geschminkt.

Vorne predigt der Pfarrer in Reimform, über die Heilung des “Aussätzigen”, über “Berührung” und “Haut”, über die ehrliche und die faule Haut und darüber, wie es ist, aus der Haut zu fahren, ein kleines Kunstwerk. Beim “Vater Unser” darf der Kleine auf den Arm des Pfarrers hinterm Altar, von wo er majestätisch aufs Kirchenvolk hinunter schaut.

Ich hungere nun am zweiten Tag, spüre dieses ungewohnte, dieses störende Gefühl, dieses Loch im Bauch, das bleibt, obwohl es ständig mit Wasser zugeschüttet wird. Der Hunger fällt nicht darauf rein. Tee besänftigt ihn, ein wenig, aber er bleibt wach, ist ständig da. Mangelgefühle, die sonst mit Nuckelkram zugestopft werden oder, früher, mit Zigaretten, treten deutlicher hervor, schmerzhaft.

Trinken. Noch mehr trinken. Antrinken auch gegen die Migräne, die mich diesmal überfällt, ein fürchterliches Bohren hinter der Stirn, mal links, mal rechts, mal zentral. Blaise Pascal, das Rechengenie, dieser Meister der französischen Sprache, hat sein ganzes kurzes Leben lang unter mörderischen Kopfschmerzen gelitten. Sein Hauptwerk, die große Apologie des Christenglaubens “Les Pensées” hat er in knappen Sätzen auf Zettel geschrieben, die er mit Stricken zu Kapiteln bündelte – er kam nicht mehr dazu, sie zu einem kohärenten Werk auszuarbeiten.

Wie schafft man diese Formulierungen, diese genialen mathematischen Formeln mit Migräne? Ich kann doch schon ohne Kopfschmerzen nicht rechnen!

Nach drei, vier Tagen wird der Hunger erstaunlicherweise müde. Gleichzeitig wacht der Verstand auf und weitet sich, und als die Kopfschmerzen abklingen, ist es, als würde ein Vorhang aufgerissen. Der Kopf, der sich vorher müde gesorgt hat um den Nahrungsnachschub, wird klar. Du wirst leicht und Energie strömt, du kannst Bäume ausreißen.

Dann der Aschermittwoch. Das Asche-Kreuz. Und diese Stelle im Evangelium nach Markus. Betet, tut Buße, aber schließt die Kammer ab! Macht es nicht wie die Heuchler!

“Sie stellen sich beim Gebet gern in die Synagogen und an die Straßenecken, damit sie gesehen werden.” Mit Leidensmine an den Straßenecken! Jesus hatte Humor, sagt Jesuitenpater Brantschen, der mit mir und der Klinikchefin Toledo-Wilhelmi den Gottesdienst besucht.

Francoise Toledo gibt mir ein schmales Buch, eine Schrift des verstorbenen orthodoxen Theologen Alexander Schmemann über “Die große Fastenzeit”, sie hat darüber Vorträge gehalten. Das Fasten, darauf legt sie wert, ist auch eine spirituelle Übung.

Die Schrift ist wie das Öffnen einer uralten Schatztruhe!

Sie führt vor, was wir weitgehend verloren haben. Sie führt in die vorösterliche Zeit ein, in die Vorbereitung auf das Fest der Feste, so, wie die Orthodoxen sie begehen.

Es ist Zeit der reuevollen Umkehr. Die Zeit, die die Orthodoxie als die einer “Glanzvollen Traurigkeit” bezeichnet. Wie prunkvoll diese Frömmigkeit. Sie schimmert golden wie der Hintergrund einer Ikone. Sie führt auf die Osternacht zu, und von dorther überstrahlt sie die Fastenzeit.

Das lithurgische Begleitbuch zu dieser Zeit, das Triodion, ist in Vergessenheit geraten, es enthält die Lithurgischen Texte und die Hymnen, und diese wiederholen in unendlich schönen Versen immer wieder zwei Wahrheiten: das Fasten erfordert auch eine seelische Anstrengung. Sie heißt Reue. Und so setzt die Hymne ein:

“Öffne mir die Pforten der Reue / Du, der du das Leben schenkst”.

Von den Anfängen erzählt das Triodion. Bis zur sündigen Gegenwart. Die Ursünde bestand im Bruch der Enthaltsamkeit: “Adam wurde aus dem Paradies vertrieben / weil er von der Frucht gekostet hat / deshalb saß er weinend davor / und rief aus: “Wehe mir…”

Die Alten haben die vierzigtägige Fastenzeit verglichen mit den vierzig Jahren, in denen das Volk Israels durch die Wüste zog. Sie ist eine geistliche Reise, und das Triodion weist in ihrer Lithurgie die Markierungspunkte, vom Sündenfall über den Bund und die Zeit der Patriarchen bis zu Jesus und seiner Passion und Auferstehung.

Und sie legt ihren Schwerpunkt auf das Bereuen. Sie ist eine große, prächtige Reue-Partitur. Sie treibt die Reue geradezu in Verzückungsspitzen. Hier geht es nicht mehr nur das formale Entsagen von Speisen – die Reue ist die Seele des Fastens, und zwar eine, die glänzt in ihrer Schönheit:

“Der Frühling des Fastens ist gekommen, / die Blütezeit der Reue / Nehmen wir mit Freude die Ankündigung der Fastenzeit auf! Denn wenn unser Stammvater Adam das Fasten befolgt hätte, wären wir nicht des Paradieses verlustig gegangen…”

Es kann wohl keinen inbrünstigeren Beweggrund zum Fasten geben als diesen: die ganze Menschheit, die Welt wäre gerettet worden, hätte Adam der Speise entsagt. Und deshalb müssen wir es nachholen, zu unserm Heil.

Vor meinem inneren Auge sehe ich die Popen in ihren uralten lithurgischen Verrichtungen, mit ihren schmalen brennenden Kerzen, die das Gold der Ikonen zum Leuchten bringen und ich höre die Gesänge und bin zurückversetzt in die frühen Jahrhunderte des Christentums.

Während ich dort oben unter einem schweren grauen Himmel durch abgeerntete Felder laufe, hoch überm See diese Mondlandschaft, muss ich an die ersten Christen denken, die assyrischen Christen, sie kennen das Triodion, die große Fastenzeit, ihre Lithurgie ist verwandt mit der der russischen Orthodoxie.

Man nennt sie auch “Aramäer”. Tatsächlich, sie sprechen aramäisch, die Sprache, in der Jesus gepredigt hat.

In der SZ, die in der Klinik ausliegt, lese ich von den Gräueltaten des IS, lese ich hilflose Kommentare darüber, ob man wohl mit Bodentruppen hineingehen sollte, es spricht so vieles dagegen, finden die Leitartikler, und so vieles dafür.

Derzeit werden dort, im uralten Heimatland des Evangeliums, in der Wiege der Menschheit, die syrischen Christen niedergemetzelt von den gut ausgestatteten Terroristen des IS. So erleben sie die Fastenzeit: Die Männer werden erschossen, Frauen werden vergewaltigt und mit ihren Kindern als Sklaven fortgeführt, ihre Dörfer werden zerstört, eines nach dem anderen und der Westen schaut verlegen vorbei.

Es ist der so genannte islamische Staat, der den Endsieg anstrebt über das, was er die “Nation des Kreuzes” nennt und womit er den Westen meint. Tatsächlich hat die Truppe nichts mehr mit dem Islam zu tun, sie ist eine schwarze Flamme der Zerstörung, eine nihilistische Orgie der Vernichtung.

Für mich ist sie die Verkörperung des Bösen. Ja, ich glaube, dass es das objektiv Böse gibt. Im Mittelalter hat man vom Satan gesprochen. Es schwelgt im antihumanen Nichts, mag es sich auch mit noch so viele Fahnen und Glaubensbekenntnissen maskieren. Sein wahres Ziel ist kein Kalifat, sondern die Auslöschung, die Auslöschung des Kreuzes.

Das Böse kann sich als bürokratische Banalität maskieren, wie es Hannah Arendt für die Nazis diagnostiziert hat, es kann sich aber auch die Kriegsbemalung mittelalterlicher Krieger auflegen. Erklärungen und Rationalisierungen, wie sie uns die Instrumente der Aufklärung zuspielen, Erziehung oder Logik oder Kultur greifen zu kurz.

Und da sitzen wir in unseren Frottee-Mänteln und fasten.

Und ich vertiefe mich in das Triodion. Wenn es das Böse ist, denke ich mir dort oben, ist das Gebet vielleicht tatsächlich die wirksamste Waffe.

Das Wunder des Triodion, das Wunder der Fastenzeit besteht tatsächlich in diesem Glanz, der aus dem Paradies scheint. Diese kommende Nacht der einzigartigen Freude, wenn die Orthodoxen in ihrer Lithurgie singen: “Heute ist alles mit Licht erfüllt, Himmel und Erde und Totenwelt…” Es ist das Strahlen aus dem Grab, das Strahlen, das den Tod besiegt, das neue Leben, das seit zweitausend Jahren denen geschenkt ist, die an Christus glauben.

Das müssten zwei Drittel unserer Leser sein, zwei Drittel unserer Bevölkerung müssten diesen Sog aus dem Paradies her spüren. Mitten in der Fastenzeit, die für die Orthodoxen auch die Zeit der Wiederentdeckung des Glaubens ist. Und damit die Wiederentdeckung des Lebens.

Tatsächlich gehört der Entzug an Speisen wesensmäßig zur Fastenzeit. Nicht nur der Verzicht auf schlechte Angewohnheiten, sondern der Verzicht auf Nahrung. Wohl deshalb nennt die katholische Kirche ihre Fastenmotive “Hungertuch”. Oft wird dieses Hungertuch von Künstlern der dritten und vierten Welt gestaltet, mit Figurenensembles, die Bibelstellen entsprechen.

In diesem Jahr wird zum ersten Mal eine Abstraktion gezeigt. Sie stammt von einem chinesischen Künstler, eine Tuschemalerei, in der durch ein breites schwarzes Band unserer Daseinsnacht ein Goldbrocken stürzt. Der Himmelsglanz des Ostergeschehens durchbricht unsere Finsternis. Das Hungertuch als Hoffnungstuch, ganz in der Fülle und der Freude der Orthodoxie.

Erst im Entzug der Nahrung übrigens entdecken wir neu, wie gut sie schmeckt, und wie sehr wir danken dürfen dafür, das sie uns geschenkt ist. Das erlebe ich in den Aufbautagen. Wie wunderbar diese Nüsse. Was für eine Sensation auf dem Gaumen dieser Apfelmus. Und die Kartoffelsuppe am zweiten Aufbau-Tag abends, nie vorher so eine wundervolle gegessen.

Nach sieben Tagen des Fastens muss vorsichtig wieder nach oben gestiegen werden, und es ist tatsächlich, als hätte der Körper eine Art Winterschlaf gehalten, er ist fit.

Ich habe gelernt: In der Entsagung liegt die Lust. Erst wenn wir auf oberflächliches Geplänkel verzichten – in der Buchingerklinik gibt es keine TV-Geräte in den Zimmern –, wird uns klar, wie kostbar echte Begegnungen sind. Erst in der stillen Betrachtung auch können wir die Kunst und ihre Wahrheit entdecken.

Wichtig ist die innere Erneuerungslust, die mich überkommt, die kindliche Lust, ein besserer Mensch zu werden.

Auf den Spaziergänge über schneebedeckte Felder, am See. Klare Luft, die vereinzelten einsame rote Bänke im Nebel, bald wird es wieder wimmeln, eine schlafende Natur, von der ich weiß, dass sie Kraft sammelt, um in sieben Wochen zu explodieren in Keimen und Blüten und Farben.

“Vom Eise befreit sind Strom und Bäche / durch des Frühlings holden, belebenden Blick / im Tale grünet Hoffnungsglück…” Und ich weiß, dass uns dieses Glück, das unser Faust auf seinem Osterspaziergang erlebt, jedes Jahr neu geschenkt wird, auch mir, und eine Welle von Dankbarkeit überschwemmt mich.

Und ich bete für unsere Glaubensbrüder in Syrien und wünsche mir für alle, die es schaffen, sich zu uns zu retten, unsere weit offenen Arme.

Erschienen am 29.03.15 www.welt.de