Franziskus ist schwer zu greifen. Weder links noch rechts: Der Papst ist in erster Linie nur eins – beliebt. Und das genießt er wie kaum je einer. Darin ähnelt er einem Landsmann.
Man war sich doch schon einig in unseren deutschen Landen über diesen fröhlichen Papst vom anderen Ende der Welt: Ein undogmatischer Himmelsstürmer ist er, ein lächelnder Umstürzler, dieser Sandalen tragende Freund der Armen, und es blieb nur die bange Frage, ob er “an den verkrusteten Machtstrukturen im vatikanischen Herrschaftsapparat” scheitert, wie es jüngst eine Diskussionsveranstaltung auf dem Hambacher Schloss formulierte, an der Protestanten und feministische Katholikinnen teilnahmen.
Auf der vorbereitenden Familiensynode im vergangenen Herbst, in der die Frage der Zulassung von Wiederverheirateten zur Kommunion verhandelt wurde, schwieg der Papst, aber die Strafversetzung des dogmatischen Kardinals Burke zum Leiter des Malteserordens schien ein deutliches Signal: Jetzt wird aufgeräumt mit den verstockten Konservativen!
Kommunion für Wiederverheiratete? Eine Frage der Barmherzigkeit, und obendrein eine Petitesse! Doch diese “manchmal winzigen Fragen der Theologie”, schrieb G. K. Chesterton in seiner “Orthodoxie” schon zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts, können “Erdbeben” auslösen. Warum? Weil sich die Kirche in ihrem “großartigen und gewagten Experiment” eines “unregelmäßigen Gleichgewichts” bisweilen keine Abweichung leisten kann, “nicht um Haaresbreite”.
“Die Mär vom heiligen Opi”
Und eine solche Gewichtsverlagerung stand und steht dann doch zur Debatte in der Frage der Wiederverheiratung. Denn im Kern geht es um die viel größere Frage, nämlich, ob das Volk der Kirche und den Jesus-Worten folgen soll (“Was Gott im Himmel zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden”) oder ob die Kirche dem Volk hinterherrennen soll, das schließlich zunehmend in Scheidungsgesellschaften lebt. Oder noch einfacher: Zählt die Lehre oder, wie bei den Protestanten, nur noch die subjektive Gewissensentscheidung?
Die lächelnde Sphinx auf dem Petri-Thron hatte zu den stürmischen Diskussionen geschwiegen. In seinem Schlusswort hatte er allerdings den kleinen Kardinal Kasper mit seinem Vorstoß zur laxen “Barmherzigkeit” in dieser Grundfrage katholischer Ethik derart abgebügelt, dass dem progressiven Lager der deutschen Katholiken unter Führung von Kardinal Marx Zweifel gekommen sein müssen am päpstlichen Reformeifer.
Auch die katholische Feministin Christiane Florin ist mittlerweile irritiert, spätestens nach der saloppen Franziskus-Bemerkung, dass ein kleiner Klaps in der Kindererziehung nicht schade, solange man nicht ins Gesicht schlage. Die Chefredakteurin der Beilage “Christ und Welt” tremolierte entsetzt: “Der Papst hält also das Schlagen von Kindern für in Ordnung?” Und textete, angeekelt: “Die Mär vom heiligen Opi.” Ultramontane Loyalitäten bröckeln schnell in Deutschland, das Land der Reformation liebt Sonderwege.
Wer ist dieser Papst? Mit zunehmender Dringlichkeit fragen sich das die Konservativen und die Progressiven
Egal, was Rom entscheide, man werde sich wahrscheinlich an den Vorstellungen des deutschen Moraltheologen Eberhard Schockenhoff ausrichten, der die Wiederverheiratung ermöglichen möchte und den Segen für gleichgeschlechtliche Paare, also das, was Franziskus einst als “des Teufels” bezeichnete.
Nun fragt sich die katholische Welt, immer noch und einmal mehr: Wer ist dieser Papst? Mit zunehmender Dringlichkeit fragen sich das die Konservativen und die Progressiven. Beide Seiten zerren. Gerade hat der konservative Kardinal Burke aus Wisconsin mit Ungehorsam gedroht, sollte der Papst die reine Lehre verändern, und nun drohen die Progressiven ebenfalls, für den Fall, dass er sie unverändert lässt? Steht die Kirchenspaltung bevor?
Er spricht an allen Institutionen vorbei
Die Antwort liegt in Argentinien und dessen Geschichte. Papst Franziskus ist – lange war diese Bezeichnung nicht mehr so gerechtfertigt – der Charismatiker auf dem Petri-Thron. Er ist weder links noch rechts, er ist in erster Linie beliebt, und er genießt es wie kaum je einer. Darin erinnert er an seinen argentinischen Landsmann, den populistischen Präsidenten Juan Perón. Er herrscht durch Charisma.
Er spricht die Menschen direkt an. Er lässt sie in Großaktionen befragen. Geradezu süchtig nach Berührung, dauern seine Generalaudienzen Stunden, denn da ist immer noch eine Rollstuhlfahrerin, die geherzt werden will, immer noch eine Pilgergruppe aus der Heimat, die ein paar Worte verdient.
Diejenigen, die ihn noch als Kardinal Bergoglio aus Buenos Aires kennen, sprechen von einer frappierenden Wandlung – von einem eher kühl regierenden Kirchenfürsten zum alle umarmenden herzlichen Menschenfischer. Franziskus hat die Rolle seines Lebens gefunden. Er spricht direkt zum Kirchenvolk, ohne Umwege, an allen Institutionen vorbei.
Sein Charisma manifestiert sich jeden Sonntag auf dem Petersplatz in Rom, wenn er den Angelus-Segen gibt – die Gläubigen stehen bis hinunter in die Via della Conciliazione, wenn er mit ihnen betet. Dass er längst als Phänomen der Popkultur definiert ist, beweist die Musikzeitschrift “Rolling Stone”, die ihn auf dem Titelblatt abbildete.
Papst Franziskus predigt nicht vom Blatt, sondern er folgt seinen Eingebungen, und erzeugt damit jedes Mal Schweißausbrüche im päpstlichen Stab. So erklären sich die wunderbaren Saloppheiten wie die, dass katholische Paare sich auch ohne Empfängnisverhütung ja nicht gleich “wie Karnickel vermehren müssten”, also drei Kinder seien doch eigentlich genug.
Oder eben, dass ein kleiner Klaps in der Erziehung noch nie geschadet habe. “Er (der Vater) muss bestrafen, aber er macht es gerecht und geht dann weiter.” So reden die kleinen Leute nach der Arbeit in der Bodega, so reden die Armen in den Slums, die oft sechs oder mehr Kinder haben, warum sollte er sich salbungsvoller ausdrücken?
Der Charismatiker spricht die Sprache des Volkes. Das hat eine große Tradition: Im Pfingstgeschehen, der Gründungssituation der Kirche, kommt der Heilige Geist über die Jünger und beschenkt sie reich mit Charisma, mit der “Gnadengabe”. Diese setzt sie in den Stand, in Zungen zu reden und jeden im Herzen zu berühren.
Max Weber, der große deutsche Soziologe, hat die charismatische Herrschaft von der legalen und der traditionellen unterschieden. Die charismatische Herrschaft ist nicht durch Institutionen oder Apparate abgesichert. Sie stützt sich in erster Linie aufs Volk. Juan Perón herrschte so. Es kann klappen, es kann aber auch schiefgehen.
Dass Franziskus in seiner Weihnachtsansprache mit leichter Verachtung von der Kurie sprach, passt ins Bild. Sie steht im Wege, wenn er zu seinem Bündnispartner – dem einfachen Volk – unterwegs ist. In Manila strömte es in einer historisch nie da gewesenen Zahl zusammen – sieben Millionen Gläubige wollten mit ihm Messe feiern.
Wie sehr Franziskus dem brausenden Pfingstgedanken des Charismas verbunden ist, zeigte sich kürzlich, als er überaus freundlich von den Pfingstlern, den Evangelikalen, sprach. Er kennt sie aus seiner Heimat, aus seinem Kontinent, den sie wie in einem Flächenbrand neu für die Worte Christi entzünden.
Was soll er da anfangen mit den Bedenklichkeiten der deutschen Katholiken, die reich sind und entsetzlich gelehrt und die in der Weltkirche eine winzige, weitgehend ungläubige Minderheit darstellen?
Eines ist sicher bei diesem Papst – dass nichts sicher ist.
Erschienen am 08.03.15 www.welt.de
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