Schließlich, es war gegen sechs Uhr morgens unserer Zeit, fand der Präsident die Worte wieder, die ihn einst ins Amt gebracht hatten, Worte eines Visionärs, eines Predigers, Bibelsprache. »Der Weg war hart, die Reise war lang. Aber tief in unserem Herzen wissen wir: Das Beste für die Vereinigten Staaten kommt noch.« Er machte klar: Er will sie wieder führen, die ganze Nation, einmal mehr das auserwählte Volk ins gelobte Land. Aus der Finsternis ins Licht! Und der Unterlegene? Forderte seine Anhänger auf, für den Sieger und die Nation zu beten.

In den Stunden zuvor war die größte Show auf Erden, die Wahl ihres mächtigsten Mannes, auf dem Empire State Building in Manhattan sichtbar auf die Spitze getrieben worden: eine blaue Säule für Präsident Obama, eine rote für Herausforderer Mitt Romney. Wie in einer gigantischen Spielshow konnte das globale Dorf verfolgen, wer von den beiden die Nase vorn hatte.

In diese Nadelspitze waren die Sehnsüchte und Träume und Erlösungshoffnungen einer ganzen Nation gepumpt. Obama oder Romney? Immer wieder wurde zu den Quartieren der beiden Kandidaten geschaltet, um ihre Stimmungen und Erwartungen abzufragen. Prompt wurden auch ihre Bulletins eingefüttert in den Kreislauf, ein gemeinsamer Pulsschlag belebte die Nacht, in der das Volk seinen Präsidenten erkor.

Die Schamanen von CNN tippten auf magic boards, zogen Wahlkreise auf, ließen Prozentsäulen wachsen, wischten Torten zur Seite, blätterten demografische und ethnische Daten auf, die Alten, die Jungen, die Schwarzen und ihre Einstellungen, eher zu Gesundheitsreform und Defizit und eher weniger zur Welt draußen, kurz: Sie zelebrierten den großen Hokuspokus der Tele-Demokratie.

Sie versuchten zu quantifizieren, was sich nicht messen lässt, nämlich Wirkung, Ausstrahlung, das Sieger-Gen. Sie waren gefangen in einer Zaubernummer, die sie gleichzeitig zu erklären suchten.

Sie wussten, dass sie es mit einem abgebrühten Publikum zu tun hatten, einem, das sich auskennt. Charisma ist keine unschuldige Sache im Fernsehzeitalter. Wir alle sind Entertainment-Spezialisten. Wir alle schauen den Kandidaten ins Gesicht und können ihre Poren zählen. Frisur, Stimme, Kleidung, Gesamteindruck.

Eine paradoxe Lage: Herz gegen Kopf. Wir wollen bewegt werden – und wissen Bescheid, wie es funktioniert. Wir geben Haltungsnoten für den Zauber. Und die Kandidaten überlassen nichts dem Zufall: Rund sechs Milliarden Dollar gaben sie aus, um das eigene Charisma leuchten zu lassen und das des Gegners auszutreten.

Und dann entscheiden plötzlich Bilder: Nicht die Arbeitslosenzahlen und das Defizit hätten Obama fast die Wiederwahl gekostet, sondern sein niedergeschlagener Blick während der ersten Fernsehdebatte. Plötzlich glänzte Romney als jugendfrischer Herausforderer, und Obama stand da als müder Verteidiger des schlechten Bestehenden. Ein unerwarteter Rollentausch.

Dann wieder eine Drehung der Bühne. Im Wirbelsturm »Sandy« wischten Bilder des Präsidenten als Krisenhelfer in der Lederjacke alle Zweifel an seiner Entschlusskraft fort. Nun wirkte Romney mit seinem weißen Hemd und seinem weißen Lächeln wie ein verschlagener Verkäufer vor der Haustür, den man eigentlich nicht in die Küche lassen wollte.

Charisma ist durchaus eine wetterwendische Angelegenheit.

Michelle Obama

Michelle Obama

Foto: Platon / Trunk Archive

Notlagen bringen es zum Leuchten. Romney, den blankpolierten Mormonen-Manager, zu vermenschlichen war im Wahlkampf der Job von Ann Romney, seiner Ehefrau. »Sie hat eine Menge Material, um die Leute zu bewegen«, konnte man auf der Website »Politico« lesen. Das Material? Multiple Sklerose, Brustkrebs, Fehlgeburt, Schicksalsschläge. Das Material kam gut an.

Auf der Gegenseite war es Michelle Obamas Job, als Karrierefrau und Fashion-Ikone und Löwenmutter zu glänzen. Sie tat es in einem pinkfarbenen Glitzerkleid und riss die Delegierten auf dem Parteitag aus den Sitzen, die sich als eher verschüchterte Pfingstlerversammlung der multikulturellen Gesellschaft in North Carolina zusammengefunden hatten, um auf ihren Erlöser zu warten.

Als nun in dieser Nacht der Nächte am vergangenen Dienstag die Säule auf der Spitze über Manhattan ganz in Blau erstrahlte, sah sie aus wie eine gigantische Injektionsnadel, für Präsident und Volk: ein Schuss Hoffnung, ein Schuss in die Sterne.

Sind wir immun dagegen?

Ist uns etwa ein graues, gesichtsloses Politbüro, das unsere Geschicke bestimmt, lieber als der Einzelne, der sich zeigt und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft bündelt?

 

Wünschen nicht auch wir uns, im politisch ausgenüchterten Deutschland, Charismatiker, die alle bewegen, alle mitreißen, alle einschwören können auf eine große Vision? Alt-Bundespräsident Herzog forderte genau das von der politischen Klasse ein.

Wir stecken im Stau, ärgern uns über den Klappskalli, der hinter uns hupt. Der Tag im Büro war beschissen, der Nachrichtensprecher liest seine Katastrophen gewohnt teilnahmslos vom Blatt, das Wetter ist auch wieder mies, und der Club of Rome sagt das Ende der Welt in 30 Jahren voraus, wenn nicht SCHNELL etwas passiert.

Wir stecken fest in diesem Sirup aus Mutlosigkeit und Langeweile, in einer Welt aus gehässigen Bürokraten, Euro-Schlamassel, Polit-Clowns, islamistischen Messerstechern, rechtsradikalen Mördern, Modezicken, Blendern mit erschlichenen Doktortiteln, Haarausfall.

Wie wäre einer, der mit der Vorsehung im Bunde wäre? Nicht links, nicht rechts, sondern entschlossen. Der es gar nicht zulassen würde, dass wir uns zerreißen in einer Diskussion über 150 Euro Betreuungsgeld in einer Gesellschaft, die Kinder weitgehend abgeschafft hat. Wie wäre es, wenn uns einer da rausführte, einer, der gut aussähe und mit Messer und Gabel essen könnte und eventuell einen echten Doktortitel hätte, wobei es darauf nicht im Geringsten ankäme?

Video (2:35) Was macht einen Menschen charismatisch? SPIEGEL-Autor Matthias Matussek über den Dalai Lama und Muhammad Ali, Lady Di und Joachim Gauck

Video (2:35) Was macht einen Menschen charismatisch?
SPIEGEL-Autor Matthias Matussek über den Dalai Lama und Muhammad Ali, Lady Di und Joachim Gauck

Und wenn wir den Blick über den Tellerrand hinauswerfen und sehen, dass die Kaste der Büroleiter nicht in der Lage ist, den System-Bankrott zu verhindern oder wenigstens die Euro-Frage zu lösen, sind wir da nicht zu jeder Regression bereit?

Wir leben auf Pump und schämen uns leise. Wir gewinnen Autotreibstoff aus Lebensmitteln und brennen den Regenwald für Hamburger ab. Wir sind schuldig, wir trödeln wie verspielte Kinder dem Abgrund entgegen. Jedes zweite Buch sagt: So geht’s nicht weiter, doch wir haben nur Teenager aufzubieten, die mal schnell die Welt retten, bevor sie Suppe fassen im nächsten Occupy-Indianerzelt.

Kein Steher in unserer Stimmungsdemokratie.

Kein Fels in unseren Erregungsgemeinschaften.

Wie müsste er beschaffen sein, der Retter?

Sicherlich nicht wie die Rechnerin Angela Merkel, der man vorwirft, sie habe »keine Vision«, sie könne »nicht kommunizieren«, sie habe »keine große Erzählung« – alles Code-Namen für das, was ihr fehlt: Charisma. Der Einzige, der in diesen Monaten eine Erzählung hat und ein Thema, nämlich die »Freiheit«, ist Bundespräsident Joachim Gauck. Er hat Charisma, aber keine Macht. Ähnliches gilt auch für Helmut Schmidt, der umso beliebter wird, je länger seine Kanzlerschaft zurückliegt.

Charisma ist ein ganz besonderes Fluidum. Es ist nicht messbar. In einer durchrationalisierten Welt ist es der pure Widerstand, die siegreiche Rebellion gegen Sachzwang und Apparat, es ist eine traditionsbrechende Kraft.

Charisma, das ist in einem auf Enzymketten und Synapsen heruntergebrochenen Menschenbild so wenig vorgesehen wie Genie oder Seele. Es lässt sich nicht nachweisen im Labor, aber jeder von uns weiß, dass es existiert, wenn es ihm begegnet. Es macht sich bemerkbar über die Wirkung, die es erzielt.

Der Soziologe Max Weber (1864 bis 1920) hat die charismatische Herrschaftsform von der legalen und der traditionalen scharf abgegrenzt. Sie ist in keiner Rechtsordnung oder politischen Verfassung vorgesehen. Sie legitimiert sich durch sich selbst. Ja, sie de-institutionalisiert die Ordnung. Sie macht Parlamente arbeitslos. Sie ist das Medium von Putschisten, siegreichen Generälen, Volkstribunen, Demagogen, Schamanen, von Führern und Verführern und allen, die behaupten, mit der göttlichen Vorsehung im Bunde zu stehen.

Um Charisma zu verstehen, müssen wir an die Wurzel, an jene Urszene, die sich am Pfingsttag vor knapp 2000 Jahren in Jerusalem zugetragen hat, am fünfzigsten Tag nach dem Osterfest, und wir müssen es schon deshalb, weil 76 Prozent der Deutschen nicht mehr wissen, was Pfingsten ist. Geschweige denn Charisma. Wir sind entwöhnt, nicht ohne Grund.

Video-Übung (5:30) Das eigene Charisma stärken Erfolgscoach Stephan W. Ludwig zeigt, wie man Charisma aufbaut, indem man an seine inneren Überzeugungen anknüpft.

Video-Übung (5:30) Das eigene Charisma stärken
Erfolgscoach Stephan W. Ludwig zeigt, wie man Charisma aufbaut, indem man an seine inneren Überzeugungen anknüpft.

So soll sich das damals angekündigt haben, dem Evangelisten Lukas zufolge: mit einem Brausen in der Luft, dem Sturm, dem Geist.

Die Jünger haben sich versammelt, sie denken an ihren Herrn, der ihnen erschienen war nach Ostern und dann vor ihren Augen in den Himmel auffuhr, was für ein Abschied, was für ein Versprechen auf baldige Wiederkehr!

Und plötzlich kommt dieser Sturm auf, sie fürchten sich, ihr Beten schwillt an, und dann tanzen Feuerzungen im Raum, über den Köpfen der zwölf!

Was für eine großartige Halluzination, um mal kurz von der Sprache der Apostelgeschichte in die der Psychologie zu wechseln, und gleichzeitig schwindet die Angst und macht einer Verwunderung Platz, plötzlich ist da ein antikes Woodstock, ein Fest der Entgrenzungen und des Glücks, ja der Ekstase, einige fallen um wie in Trance, und die anderen sprechen in Zungen, sie lallen in allen bekannten Sprachen, sie wirken auf die Umstehenden wie betrunken, und sie werden keinen Moment zögern, sich steinigen zu lassen für ihre Botschaft.

Und der Heilige Geist, so wird er genannt, ergießt sich über alle Jünger, sie werden ausgestattet mit Gnadengaben, sie können plötzlich prophezeien und heilen und den Geist durch Handauflegen weiterreichen. Sie sagen: »Yes, we can.«

An diesem Tage haben sie alle »Charisma«, griechisch für »Gnadengeschenk«, erhalten, um es weiterzugeben, denn es soll, wie es Paulus, der Politikchef des christlichen Glaubens, in seinem Korintherbrief sagt, den »anderen nützen«.

Müssen nicht auch Politiker nützen? Müssten nicht auch sie für ein Pfingstfest sorgen?

Paulus übrigens war damals so wenig dabei wie Romney oder Obama und doch so dicht dran wie jener unerhört fiebernde Modernist der Spätrenaissance, dieser El Greco, der knapp 1600 Jahre später die Pfingstszene malte. Er tat dies nicht wie zuvor üblich als sittsam-mittelalterlichen Stuhlkreis, sondern als Moment der Anarchie. Als bildberstenden Tanz aus Leibern, mit glühendem Pinselstrich und popbunten Farben, unter gleißendem Licht von oben, ein magischer Realist, empfänglich für Inspiration und Erleuchtung, ein Charismatiker auch er.

Sicherlich gab es auch vor jener pfingstlichen Urszene Charismatiker. Sokrates wäre zu nennen, der sich leiten ließ von einem eu daimon, einem guten Dämon, und der mit seinem Charisma alle späteren Gründerfiguren der Philosophie, die Platoniker und die Epikureer, die Stoiker und die Kyniker beeinflusste.

Ein leuchtender Zug von charismatischen Einzelnen paradiert durch die Geschichte des Abendlandes, von Abenteurern des Glaubens wie Franziskus, von Weltentdeckern wie Columbus, von Weltumstürzlern wie Luther oder Thomas Müntzer, von Poeten und Musikern wie Shakespeare und Mozart, von Künstlern wie Michelangelo oder Joseph Beuys, von spirituellen Weltveränderern wie Gandhi oder Martin Luther King, von Nelson Mandela oder dem Dalai Lama. Von solchen, die unsere Weltbilder verändert haben wie Einstein oder Steve Jobs, vom polnischen Löwen Papst Johannes Paul II., der die kommunistische Diktatur in die Knie betete, von Mutter Theresa, von all denen, die uns bewegen bis heute.

Mutter Theresa, 1988, Angelina Jolie, 2008,Muhammad Ali, 1970: In ihren größten Momenten verändern Charismatiker unseren Blick auf das Leben

Mutter Theresa, 1988, Angelina Jolie, 2008,
Muhammad Ali, 1970:
In ihren größten Momenten verändern Charismatiker unseren Blick auf das Leben

Ja, dass Geschichte keine der Klassenkämpfe ist, sondern von charismatischen Einzelnen gemacht wird, von diesem Vertrauen ist auch die Redaktion des US-Magazins »Time« erfüllt, wenn sie jedes Jahr den Mann oder die Frau des Jahres wählt. Dann spricht das Blatt in seinen Leitartikeln von »Eingebung« oder »Talent« oder dem richtigen Moment der Geschichte, der ergriffen wird.

Das können Freiheitshelden genauso sein wie Sportler oder jene modernen Märchenfiguren, die dem globalen Dorf als Popkultur in Abständen präsentiert werden. Lady Di hat die Sehnsüchte und das Mitleid sentimentaler Ladenmädchen befeuert. Als sie nach ihrem Tod auf einer Lafette durch die Straßen Londons gezogen wurde, vorbei am Schloss und der schmallippigen Königsfamilie, war sie Schneewittchen, die Prinzessin, die Königin der Herzen. Sie hat nicht das Geringste geleistet für die Verbesserung der schnöden Welt – außer, dieselbe für Momente zu verzaubern. Sie hatte Charisma, das über ihren Tod hinaus strahlte.

Muhammad Ali war weit mehr als ein Boxer für seine Anhänger. Er stieg in den Ring für die Unangepassten, die Kiffer und Rebellen, die Vietnam-Kriegs-Gegner, von denen kaum einer einen Hundertmeterlauf durchgestanden hätte. Als er gegen George Foreman antrat, kämpfte er für die Schwarzen gegen das weiße Establishment, und nichts hätte falscher sein können, denn es war Foreman, der sich aus dem Ghetto nach oben prügeln musste, während Cassius Clay, wie Ali früher hieß, von einer Gruppe weißer Wirtschaftsbosse finanziert worden war.

Doch Ali hatte Charisma. Und mit diesem Charisma überstand er Foremans Mörderhaken und gewann, durchgeprügelt, aber strahlend. Allerdings sind wir, gerade Sportlern gegenüber, misstrauisch geworden. Die Athleten, denen in der Antike Statuen errichtet worden waren wie sonst nur Göttern, sind zu zwielichtigen Figuren geworden, ja bisweilen zu Täuschern und Betrügern wie jüngst der Radprofi Lance Armstrong.

Mit seinen sieben Toursiegen galt er als Modellsportler, und da er nicht nur die Konkurrenz, sondern auch seinen Krebs besiegt hatte, auch als Modellmensch. Darüber hinaus hatte er seine Siege und seine Mittel für eine gute Sache eingesetzt in einer Charity-Stiftung zur Bekämpfung von Krebs.

Armstrong war nahezu unantastbar geworden. Bis zu jenem Tag, als ihm der Weltradsportverband seine Titel aberkannte, da er sie mit jahrelangem, raffiniertem Doping-Einsatz errungen hatte. Er war sicher nicht der erste Fall eines charismatischen Betrügers.

Nach Max Weber ist Charisma von »magischer Herkunft« und mit »religiösen Gewalten verwandt«. Weber, der die Entzauberung der Welt durch die Moderne wie kaum einer analysiert hat, holte mit dem schillernden »Charisma«-Begriff die Gnadenlehre in diese Moderne zurück und machte ihn nutzbar für die Politik.

Weber, der sich als »religiös unmusikalisch« bezeichnete, träumte gleichzeitig zurück und nach vorn, ohne genau zu erkennen, welche Gestalten ihm dort, im Frühnebel des mörderischen 20. Jahrhunderts, entgegenkamen. Aber eine Ahnung für Monster muss er gehabt haben. Denn Weber hoffte, wie Nietzsche in seinen Notizen, auf einen »römischen Cäsar mit Christi Seele«.

Warum Cäsar? Weil er in ihm, wie der Historiker Mommsen, Hausgast seiner Eltern, den Staatsmann in vollkommener Harmonie sah. »Ein geborener Herrscher, regierte er die Gemüter der Menschen, wie der Wind die Wolken zwingt.«

Warum ausgestattet mit »Christi Seele«? Weil er gespürt hat, welche Gefahren mit dem Charismatiker verbunden sind. Denn statt eines Cäsars betrat die Bühne des 20. Jahrhunderts ein mörderischer charismatischer Clown, tatsächlich theatralisch umrahmt von römischem Liktorenbündelquatsch und Leibstandarten, ebenjener österreichische Gefreite Adolf Hitler mit dem ulkigen Bärtchen, Gespött seiner Zimmergenossen im Männerwohnheim, aber bereits auf dem Weg, Schauspielunterricht zu nehmen und die Augen zu rollen und den hohen Ton zu proben.

Nein, wer da aus dem Nebel trat, hatte gewiss nicht »Christi Seele«, er hasste das Gewissen als »jüdische Erfindung«, aber er wusste die jesuanische Rhetorik ohne Skrupel zu nutzen. Er rief: »Ich bin bei euch, und ihr seid bei mir«, und die Frauen fielen in Ohnmacht. Der dunkel-charismatische Hitler wollte die Kirche zerstören, nicht ohne sie für seine Zwecke auszuräumen. Man sah ihn als »gottgesandt«, und seine hingerissene Zuhörerschaft hatte »Erweckungserlebnisse«. Nicht von ungefähr war Hitlers Wahlspruch »Deutschland erwache«.

Der Charismatiker, so Weber, verfügt über außeralltägliche Qualitäten, wobei es, das ist der Clou, völlig unwichtig ist, ob er sie tatsächlich hat oder ob sie nur vorgetäuscht sind. Wichtig ist, dass seine Anhängerschaft daran glaubt. Charisma ist immer eine Beziehungskiste. Wichtig sind die Jünger, die Fans. Jedes Rockkonzert weiß darüber Bescheid.

Noch einmal also unsere Eingangsfrage: Wie sieht es aus mit unserem Wunsch nach dem Einzelnen, der uns aus der Malaise erlöst? Der uns die komplexe Welt vereinfacht und uns beflügelt? Das Charisma hat eine weite Spannung. Es reicht vom Pfingstfest bis zum Völkermord, vom Christen zum Antichristen, vom Himmelsstürmer zum Höllenhund. Es ist furchterregend weit bespielbar.

Wir sind so gründlich kuriert, dass unsere Staatsräson der Egalitarismus ist. Kein Höllenhund, nie wieder, aber eben auch kein Himmelsstürmer. Wir sind die berühmten letzten Menschen, von denen Nietzsches Zarathustra spricht. »’Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?’ – so fragt der letzte Mensch und blinzelt.«

Wir haben Nietzsches Großworte vergessen und durch »Spaß« ersetzt, wir ringen »nicht mehr um Gott oder Wahrheit, sondern um die Frage, welchen Bausparvertrag wir abschließen«, schreibt Michael Klonovsky in seinem brillanten Buchessay »Der Held. Ein Nachruf«.

Aber wir sehnen uns nach solchen, die stellvertretend für uns über sich hinauswachsen – um mit ihnen zu wachsen. Ohne charismatischen Helden geht es gar nicht, nicht für Egon Friedell, der fand: »Ein Zeitalter, das nicht seinen Helden findet, ist pathologisch: Seine Seele ist unterernährt.«

Doch in der Politik ist das Unheldische globaler Trend. Man sollte Hugo Chávez, Venezuelas Ex-Putschisten und Oberstleutnant, den Theatraliker und geistigen Erbe des Befreiungshelden Simón Bolívar, ausstopfen. Er ist der letzte seiner Art. Der letzte der lateinamerikanischen Caudillos, von Perón bis Fidel Castro, alle mit der Vorsehung im Bunde.

Die Zeit spielt gegen die Vergötterung als Herrschaftsform, von den Freaks in Nordkorea und den Gottesstaatlern in Iran abgesehen. Charisma wieder ist eine Sache von geistlichen Führern wie dem Papst oder dem Dalai Lama, wirkt also dort, wo es beheimatet ist.

Ansonsten scheint es sich auf die Kunst zurückgezogen zu haben oder die Popkultur. Daniel Craig als James Bond rettet die Welt, und das ist das mindeste, was wir von Charismatikern erwarten. Wenn Angelina Jolie und Brad Pitt auf einem roten Teppich an ihren Fans vorbeilaufen, sind sie wie unwirklich spielende Götterkinder, nach denen sich die Hände der erlösungsbedürftigen Fans strecken, ein Lächeln ist Glückseligkeit, eine Berührung bedeutet Heilung, ein Autogramm eine Trophäe für die Ewigkeit. Oder für drei Wochen. Bis der nächste Charismatiker alles entwertet, was vor ihm war.

Fidel Castro, 1971, Hugo Chávez, 2009, Adolf Hitler, 1927: Charismatiker als politische Herrschaftsfiguren können Paradiese entwerfen oderzum absolut Bösen verführen

Fidel Castro, 1971, Hugo Chávez, 2009, Adolf Hitler, 1927: Charismatiker als politische Herrschaftsfiguren können Paradiese entwerfen oder
zum absolut Bösen verführen

Kann man Charisma erwerben? Das war die Frage nicht nur für Mitt Romney, den republikanischen Karton-Kandidaten, sondern für uns alle. Die Antwort ist: »Yes, we can.« Zumindest, wenn man Olivia Fox Cabane zu Rate zieht, die das Buch »The Charisma Myth. How Anyone Can Master the Art and Science of Personal Magnetism« herausgebracht hat.

Sie ist Charisma-Coach für die Spitzenmanager der »Fortune 500«-Klasse. Sie war optimistisch, was Romney angeht: »Schauen Sie sich Steve Jobs an. Der war auch eine komische Figur, schüchtern, fast autistisch. Aber er hat gelernt. Und schließlich war er Jobs, der Charismatiker.« Aber hat Jobs nicht auch die Vision geholfen und der Erfolg, die Romney abgingen?

Cabane ist nicht der einzige Charisma-Coach. Charisma ist selten wie Gold und mindestens so geheimnisumwoben wie die Coca-Cola-Formel. Jeder will Charisma. Jeder will die Fähigkeit, Menschen zu bewegen, um auf einer Woge der Zuneigung durchs Leben zu segeln.

Und klar können wir alle Charismatiker sein, findet die Britin Nikki Owen. Die Behauptung, dass Charisma eine »göttliche Kraft« sei, sei lediglich von der herrschenden Klasse aufgestellt worden, um sich zu schützen. Herrscher, Führer, Institutionen wollten den einfachen Mann daran hindern, selbst Größe zu entwickeln. »Aber man kann alles lernen!« Und zwar mit Hilfe eines Kurses, den Nikki Owen anbietet, und ihrer diversen Broschüren, in denen es nur so wimmelt von Schaubildern mit Tierkreiszeichen und Chakras.

Wie werde ich charismatisch? Der unübersichtlichen Charisma-Forschung lässt sich eindeutig Folgendes entnehmen: Es ist angeboren. Oder auch nicht. Es ist erlernbar. Es ist eine Sache der Umstände. Weiß auch nicht.

Meistens wird Charisma, die göttliche Gnadengabe, herunterdividiert auf technische Anweisungen für den Berufsalltag, auf Managerkurse, in denen man lernt, den Bauch zu straffen, den Blick zu heben, Bodenhaftung herzustellen, eine Haselnuss mit den Pobacken zu knacken.

Haben die Apostel Haselnüsse mit den Pobacken geknackt?

Der US-Psychologe Ronald Riggio vom Kravis Leadership Institute hat ein »Social Skills Inventory« entwickelt, um mit 90 Fragen das Charisma seiner Probanden einzufangen. Als Grundkomponenten hat er Expressivität, Kontrolle und Sensibilität ausgemacht, allesamt Fähigkeiten, die einem bei Vorstellungsgesprächen unbedingt helfen oder eventuell bei einem Flirt mit einer Unbekannten.

Aber den Verlauf der Geschichte ändern?

Schauen wir genauer hin. Zur »Expressivität« zählt Riggio die Gabe der freien Rede und das Talent, andere in ein Gespräch zu verwickeln. Hm. Da hätte unser beziehungsunfähiger Borderliner und Monologisierer Hitler wohl keinen Stich gemacht und auch der Stotterer Churchill nur sehr eingeschränkt.

Des Weiteren: Gefühle ausdrücken und unter denen besonders die positiven. Dafür gibt es sicher Belege. Franz von Assisi war in all seiner Armut ein fröhlicher Mann, und er ließ seine Umwelt teilhaben an seinem Glück, sogar die Rehe und die Vögel.

Doch ob Stalin je ein Reh außerhalb jener kriecherischen Ode von Johannes R. Becher beglückte (“und winkt zu sich heran ein scheues Reh”), ist hochgradig zweifelhaft. Stalin war verschlagen, grausam, roh. Und dennoch weinten viele alte Mütterlein, die an seinem Sarg vorbeidefilierten. Warum? Tragen nicht vielleicht auch Furchteinflößung und Entrücktheit zum Charisma einer Person bei?

Kommen wir zum Punkt »Kontrolle”: Hier geht es um das Vermeiden von Fettnäpfchen und vor allem von Wutausbrüchen. Der Dalai Lama hätte da nicht die geringsten Probleme, aber unser Gröfaz müsste erneut passen, schon die Frage ist eine Ooonverrschääämtheit, und Riggio wäre hier längst von zwei Männern im Ledermantel an die Luft gesetzt worden und hätte gar keine Gelegenheit mehr gehabt, nach der wichtigen dritten Säule des Charismatikers zu fragen, nach der Sensibilität.

Die beruht in der Begabung, emotionale Verbindung zum anderen aufzunehmen und ihm das Gefühl zu geben, er sei der einzige Wichtige im Universum. Ohne jeden Zweifel besaß Bill Clinton diese Fähigkeit tatsächlich bis zum Überfluss, er erprobte sie insbesondere an seinen Praktikantinnen, aber auch am Wähler. Die TV-Kameras fingen Herzlichkeit in Überdosen ein. Man konnte nicht anders, als beeindruckt zu sein von dieser jungen Hoffnung aus Arkansas 1992, beeindruckt auch von seiner mentalen Kondition, denn der Wahlkampf in den USA dauert, wenn man die Vorwahlkämpfe dazurechnet, fast zwei Jahre.

Am Ende dieses Marathons saß Bill Clinton in der Talkshow von Charlie Rose, und er hatte keine Stimme mehr, und er sang trotzdem, weil Rose ihn darum bat, er sang mit Aussetzern »Don’t Be Cruel« von Elvis, und er lächelte erschöpft, und das war wahrscheinlich sein charismatischster Moment überhaupt.

Nur Borderliner und Psychopathen, also schwer gestörte Persönlichkeiten, können diesen Stress wegstecken, befand damals ein Psychologe, nur sie seien in der Lage, den öffentlichen Teil ihrer Person abzuspalten und wie einen Avatar laufen zu lassen. Eigentlich eine grauenhafte Diagnose, denn die Fachliteratur nennt diesen Zustand Schizophrenie.

Und der Psychologe fragte: Könnte es sein, dass das amerikanische Wahlsystem im Grunde die Irren prämiert? Und gilt das nicht für alle Charismatiker in der politischen Arena, wenn wir genauer hinschauen, zumindest für die fürchterlichen unter ihnen? Vielleicht besteht ihre »außeralltägliche Qualität« (Max Weber) genau darin, dass sie krank sind oder eigenartig, dass sie einen dunklen Nerv treffen, dass sie unerlöste und verborgene Schichten erkennen und ansprechen?

Nur unzulänglich können rationale Außensichten das dunkle Gemisch aus Hoffnungen und Trieben und Not erklären, das den Charismatiker mit seinem Publikum verbindet und vor aller Augen in den Himmel schießen lässt. All diese seichten Trainingsprogramme können vielleicht erklären, wie man einen Vogelkäfig baut, aber nicht, wie man fliegt.

Johannes Paul II., 1979, Bill Clinton, 2000, NelsonMandela, 1990: Charismatiker haben das Talent, gleichzeitig zu irritieren und zu begeistern

Johannes Paul II., 1979, Bill Clinton, 2000, Nelson
Mandela, 1990:
Charismatiker haben das Talent, gleichzeitig zu irritieren und zu begeistern

Der Philosoph Peter Sloterdijk sieht dem heißlaufenden Charismen-Betrieb eher belustigt zu. »Offenbar kann man es ja doch lernen, schauen Sie sich Hollande an!« Hollande habe in jedem zweiten Satz Mitterrand erwähnt, und sofort wurde aus einem Assistenzprofessor aus der Provinz eine präsidiale Figur.

Er hatte sich aufgeladen. Er akkumulierte Charisma, nach jenem Muster, das die Soziologie als Matthäus-Effekt kennt, nach dem Evangelistenwort »Denn wer da hat, dem wird gegeben«. Auf der Siegerstraße nimmt die Hoffnung Schwung auf und Gewicht. In einer auf Konformität ausgerichteten Gesellschaft sind charismatische Figuren diejenigen, die brennen. Die aus der Reihe tanzen, aber einnehmend bleiben. Der Charismatiker ist immer auch eine Zumutung. Er hat das Talent, gleichzeitig zu irritieren und zu begeistern. Er verlangt, so Max Weber, eine aus »Begeisterung oder Not und Hoffnung geborene, ganz persönliche Hingabe«.

Er ist der »Querdenker«, der beliebt ist. Nun ist ja, vertrackterweise, auch die Querdenkerei zur Industrienorm geworden. Querdenker können so anarchische und grundsätzliche Forderungen stellen wie Petrus mit seinem pfingstlichen »Kehrt um und tut Buße«. Radikale Umkehr? Dann allerdings sind Charisma-Kurse für Manager nicht die Lösung, sondern womöglich ihre Ursache, weil sie immer mehr vom Gleichen herstellen.

Die Finanzkrise, so der Wirtschaftspublizist Wolf Lotter, sei nicht durch charismatische Einzelne ausgelöst worden, sondern von Managern, die sich systemkonform verhalten hätten, also »vom Gefängnispersonal«. Alles, was man tun könne, sei, leitenden Managern beizubringen, Kreativität zu erkennen – und dann aus dem Weg zu gehen.

Fazit: Am »Eindrucksmanagement« lässt sich wohl feilen, aber der charismatische Kern, das Feuer, das lässt sich nicht trainieren. Das lodert und bricht aus. Der Charismatiker leuchtet von innen.

Und noch schlimmer: Charisma ist selten von Dauer. Es glänzt und schlägt die halbe Welt in Bann, es verspricht »change«, den grundlegenden Wechsel, es erobert die Herzen der Presse und des Nobelpreiskomitees – und dann verstolpert es sich kläglich in den mühsamen Etappen einer komplexen Verhandlungsdemokratie, wie es auch Barack Obama passiert ist.

 

Ein paar Wochen vor der Wahl hatte die »Washington Post« getitelt: »Wo ist das Charisma, Mr. President?«, und es klang keine Spur gehässig, sondern bekümmert.

Als die Demokraten sich Wochen vor der Wahl in Charlotte, North Carolina, zu ihrem Parteitag versammelt hatten, glichen sie durchaus jener entfernten Urgemeinde, die sich zusammenschloss in feindlichen Zeiten, um sich Mut zu machen und auf Eingebungen zu warten.

In einem Gewitterguss vor dem Convention Center, unter düsterem Himmel, zerrissen von jähen Blitzen, standen Aktivisten der »YoungObamaHaters« im Strom der Delegierten und beschwörten den Untergang. Ein anderer Prophet mit Megafon gegenüber bellte den Demokraten Bibelzitate entgegen.

Währenddessen sprach drinnen Gabrielle Giffords, jene Kongressfrau, die von einem Fanatiker niedergeschossen worden war, den »Pledge of Allegiance”: »Eine Nation unter Gott, unteilbar.«

Drei Tage lang waren Bürgerrechtsaktivisten, Gewerkschafter, Gouverneure, Hollywood-Sirenen wie Scarlett Johansson und Eva Longoria über die Bühne der Time Warner Cable Arena defiliert und hatten eingeheizt. Bill Clinton hielt die Rede seines Lebens, Michelle Obama rührte zu Tränen, Vizepräsident Biden wuchs über sich hinaus, die Arena kochte. Die Gemeinde erwartete den Heiligen Geist.

Und dann trat, Fanfare, der Präsident auf – und nichts passierte.

Kein Funkenregen, keine Entrückung, keine politische Ekstase. Obama hielt eine solide Rede, und er bat das Land um Geduld. Er sprach als Präsident und nicht als Luftikus. Er sprach vom Machbaren, statt von Wundern. Er skizzierte seine Pläne auf kleinem Karo. Ja, Barack Obama war Angela Merkel.

Hat er geahnt, dass die Nation statt großer Visionen nun die Klarsichthüllen erwartet, statt der Wunderworte das politische Kleingeld? Dass die größte Verheißung die auf einen Arbeitsplatz ist?

Barack Obama spürte, dass diesmal der Funke anders fliegen muss. Auch er sprach von Hoffnung und Wandel. Doch er sagte: »Der Wandel seid ihr.« Er drehte die Bühne. Er sagte: Wir sind zusammen, und nur gemeinsam schaffen wir es, und darin war er tatsächlich patriotischer als sein Herausforderer Romney. Mit anderen Worten: Er übertrug das Charisma auf die Delegierten, aufs Volk.

Da es allerdings auf einem amerikanischen Parteitag nichts gibt, was sich nicht choreografieren ließe, war auch dieser pfingstliche Funkentanz vorbereitet. Am Ende feierten die Delegierten ihren Präsidenten und sich selbst. Sie hielten die roten Pappschilder in die Luft, mit dem Spruch: »Fired up«.

So sehen sie aus, die Feuerzungen 2012, sie sind aus Pappe und auf der steht: beseelt!



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