Sollte der „Hass“ auf eine Volksgruppe oder Religionsgemeinschaft tatsächlich strafbar sein, wie einige unserer woken Ordnungshüter derzeit warnen, dürfte unsere tonangebende Zunft kollektiv auf der Anklagebank sitzen: Was sich derzeit an wahnhaftem Hass auf alles Russische über die Meinungsspalten ergießt, kann nur noch tiefenpsychologisch erklärt werden.

Zum Beispiel, dass Tschaikowsky nicht aufgeführt werden darf, weil er Russe ist. (Gegen ihn übrigens ermitteln die woken Scharfrichter von ganz unerwarteter Seite: der Chinesische Tanz in seiner „Nussknacker-Suite“ ist kulturelle Aneignung schlimmster Sorte!). Oder dass eine bisher in aller Welt gefeierte Operndiva entlassen wird, wie auch ein Dirigent, eben weil sie Russen sind. Auch, dass russische Tennisspieler von Turnieren ausgeschlossen werden.

Doch jetzt hat sich der Wahn überschlagen. In der NZZ wird ein sogenannter „Dostojewskismus“ für die Toten in Butscha verantwortlich gemacht. (https://www.nzz.ch/amp/feuilleton/lektionen-aus-einem-bluff-russische-literatur-nach-butscha-ld.1681267)

Die Gewissensriesen, mit denen uns der Autor, dessen 200. Geburtstag gerade erst in endlosen Feuilletons gefeiert wurde, die Abgründe der menschlichen Seele vorführte, all die Raskolnikoffs, Myschkins, Karamasoffs nur Ablenkungsmanöver, um Angriffskriege vorzubereiten?

Den Begriff „Dostojewskismus“ hatte einst Milan Kundera naserümpfend erfunden, um die Gefühlsübergrößen der Dostojewski-Helden zu kritisieren. Doch schon der Snob Nabokov konnte Dostojewski nicht leiden. Ihm ging dessen Gottesringen auf die Nerven. Kriegstreiberei allerdings – der Vorwurf ist neu!

Die NZZ allerdings scheint derzeit alles aufzusaugen, um gegen Putin aufzurüsten. Schon zuvor wurde, im gleichen Blatt, über die ganz besondere Grausamkeit russischer Soldaten aufgeklärt, ebenso wie die der russischen Frauen und Mütter. Nun also steht die russische Literatur unter Generalverdacht. „Die russische Literatur hat fleissig an dem Tarnnetz für die russischen Panzer mitgeknüpft.“ Sowas drucken die!

Also machen wir uns an eine Ehrenrettung, beugen wir uns über Dostojewskis letzten Roman, den Klassiker „Die Gebrüder Karamasow“, einen auch im Umfang gewaltigen Krimi von knapp 1300 Seiten, den der junge Marcel Reich-Ranicki nicht mehr aus der Hand legen konnte. Er hielt ihn für den besten Roman, der je geschrieben wurde. Er pflichtete damit Sigmund Freud bei.

Die hypnotische Sogkraft Dostojewskis, an die sich Reich-Ranicki erinnerte, habe ich einst in seinem anderen Krimi, „Schuld und Sühne“, erlebt, den ich zur Zeit des RAF-Terrors las, der den Mord rechtfertigte und der mich krank machte und ans Bett fesselte, nur damit ich weiterlesen konnte. Mit dem Fürsten Myschkin, dem „Idiot“, litt ich in seinen epileptischen Anfällen. Und die Karamasows waren wie ein langer Tauchgang durch die Schächte der menschlichen Seele.

„Die Gebrüder Karamasow“ sind weit mehr als ein Krimi. Sicher, es geschieht ein Mord, er findet übrigens, meisterhaft komponiert,  bis auf die Seitenzahl genau in der Mitte des Buches statt und wird mit drei Pünktchen ausgespart…Die zweite Hälfte des Romans ist der Recherche und Aufklärung des Verbrechens gewidmet.

Mit seinen Protagonisten Dimitri, dem ältesten der Geschwister, lotet er die Verwilderungen purer Lust aus. Mit Iwan, dem mittleren, zeichnet er die illusionslose Verstandeskälte des Nihilisten, und mit Aljoscha, dem Jüngsten, das Leuchten der Hoffnung im Glauben, das Gestalt gewordene Gute, und in ihm beschwört der Vater Dostojewski den verstorbenen Sohn Aljoscha, den er früh an die Epilepsie verlor, an jene Krankheit, von der er selber befallen war.

Ausgangspunkt ist ein Streit zwischen dem Vater Fjodor, einem durch Spekulationsgewinne vermögenden Kaufmann, und seinem ältesten Sohn Dmitri ums Erbe. Dieser Fjodor, ein Schürzenjäger und Prasser, hat seine Söhne mit drei verschiedenen Frauen gezeugt, nur um diese gleich nach der Geburt in andere Hände zu geben.

Dmitri hat die Offizierslaufbahn eingeschlagen und hat sein Geld mit Frauen durchgebracht. Iwan dagegen hat studiert, er ist der Intellektuelle, der an Gott zweifelt, und sein langes Gespräch mit Aljoscha, der reinen Seele, über die Frage nach Gottes Gerechtigkeit in einer Welt der Kriege und des Unheils, gehört zu den Höhepunkten dieses Weltromans.

„Mit Iwan Karamasow beginnt in Wahrheit die Geschichte des zeitgenössischen Nihilismus“, urteilte Albert Camus. Iwans Motto: Alles ist erlaubt. Es gibt keinen Richter, keinen Gott. Und doch wird Iwan irgendwann eingeholt, von seinen inneren Dämonen.

Es ist Iwan, der Aljoscha die Geschichte vom „Großinquisitor“ erzählt: Jesus wird zur Zeit der Ketzerverbrennungen in Sevilla aufgegriffen, nachdem er einen Blinden sehend und ein totes Kind zum Leben erweckt hat. Er wird verhaftet. Im Kerker wird er von dem 90-jährigen Großinquisitor besucht, der dem Menschensohn auseinandersetzt, dass er nicht erwünscht sei von Seiten der Kirche.

Er solle verschwinden und nie wieder zurückkehren, denn nun habe sie, die Kirche mit ihrem Machtapparat übernommen. Jesu Botschaft von der Freiheit, so der Greis, überfordere die Menschen, die zu ihrem Glück doch nur Brot und die Erlösung von ihren Sünden wollen – eine tiefschwarze Sicht auf das Christentum, auch das orthodoxe. Tatsächlich gibt sich der Inquisitor als Diener des Anti-Christen zu erkennen.

Jesus‘ Rolle ist die des Zuhörers. Er sagt kein einziges Wort, und am Ende des Vortrags küsst er den alten Inquisitor auf die „blutleeren Lippen.“.

Natürlich protestiert Aljoscha, und Iwan beschwichtigt ihn, „alles Unsinn“ sagt er in die Traurigkeit seines Bruders hinein und verspricht ihm in großer Zärtlichkeit, eines Tages nach ihm zu schauen, denn nun ist er im Begriff, wieder in die Welt hinaus zu gehen.

Für Dostojewski war der orthodoxe Mönch, der von den einfachen Gläubigen verehrte, asketisch lebende Eremit die Idealfigur des Christlichen Lehrers, und den hatte er in Aljoschas Abt, dem Starez Sosima, erschaffen.

Und einige seiner Predigten, mit denen er, dem Tode nahe, seiner kleinen Gemeinde ins Gewissen redet, könnten in ihrer Aufforderung zur Entweltlichung durchaus vom polnischen Hl Johannes Paul II. stammen, etwa wenn er auf die uns im Westen doch sehr vertraute Manie sofortiger Bedürfnisbefriedigung zu sprechen kommt.

„Und was ist die Folge dieses Rechts auf Steigerung der Bedürfnisse? Bei den Reichen Vereinsamung und geistiger Selbstmord und bei den Armen Neid und Totschlag…“ Universelle Wahrheiten.

Iwan übrigens, reisefertig, wird doch bleiben, denn nun fällt der Verdacht auf ihn. Tatsächlich hat er ihn auf sich selber gelenkt, nach einem düsteren nächtlichen Spuk-Gespräch mit einer Teufelserscheinung, um Dmitri zu schützen, der wiederum schuldlos ist, doch am Ende als Mörder verurteilt wird – ein klassisches Fehlurteil, denn der tatsächliche Täter ist Iwans Halbbruder Smerdjakoff, der sich nach der Tat erhängt.

Das abschließende Gerichtsverfahren mit den wichtigtuerischen Staatsanwälten und Verteidigern, mit dem Getuschel auf den Zuschauerbänken, den Ohnmachtsanfällen im Gerichtssaal, diese ganze wundervoll überspitzte Kleinstadtposse, ist möglicherweise das Witzigste, was Dostojewski zu Papier gebracht hat.

Immer wieder wilde Komik. Wie in dem Gelage, das Dmitri für seine Gruschenka anrichtet, die von zwei sehr zweifelhaften Polen charmiert wird.  Oder jene Szene, in der Mitra, so wird er von seinen Brüdern genannt, dem ahnungslosen Aljoscha die emotionalen Labyrinthe der Frauen erklärt, denn von denen versteht er was. „Aber versuch einmal, ihr eine Schuld einzugestehen und zu sagen: Entschuldige, verzeih, ich bin schuld – dann kommt ein ganzer Hagel von Vorwürfen…sie wird dir Dinge vorhalten, die es gar nicht gegeben hat.“

Wie der Zeitgenosse Charles Dickens mit seinen “Pickwickern“ malt Dostojewski die farbigsten Gesellschaftstableaus mit dickem Pinsel. Wie Dickens schrieb er seine Romane als Fortsetzungen für Zeitschriften. Und wie er arbeitete er auf Cliff-Hanger hin, also auf Spannungsbögen, die den Leser bei der Stange halten.

Seinem großen Kollegen Lew Tolsoi begegnete er nie, in den Karamasows rühmt er ihn zweischneidig im Vorübergehen in einem Halbsatz für seinen „Erfindungsreichtum“. Anders als Tolstoi litt Dostojewski ständig unter Geldmangel, ja, sein Leben war ein Roman für sich.

Nach einem Ingenieursstudium und ersten literarischen Arbeiten – er übersetzte Balzac – und tatsächlich einem frühen Erfolg mit dem sozialkritischen Roman „Arme Leute“, wurde er wegen der Nähe zum revolutionären Petraschewski-Kreis

zum Tode verurteilt, im letzten Moment jedoch zu Zwangsarbeit begnadigt.

Vier Jahre, in Ketten!

Dann, gemeinsam mit dem Bruder, literarische Zeitschriften, die Konkurs gingen. Dann die gloriosen 1850 und 1860er Jahre, in denen er seine großen neun Romane veröffentlichte und Dutzende von Kurzgeschichten und Artikeln, aber an seiner Spielsucht fast zu Grunde gegangen wäre – in Wiesbaden allein ließ er 3000 Rubel.

Soweit der Mann, dem man wohl die Erfindung des „Dostojewskitums“ zuschreiben muss, ein Lebensabenteurer und Seelenforscher und russischer Patriot, ein Erzähler von Gnaden über Menschen, die über sich hinauswachsen, aber auch ins Böse stürzen können, sowie über eine zu allen Zeiten Hysterie-bereite Hass-Gesellschaft mit ihren Vorurteilen, zu der auch ukrainische Schriftstellerinnen gehören können.