Wie merkwürdig, dass Patrick Bahners in der FAZ ratlos war, und die Kritik insgesamt nicht erkannt hat, dass der neue Roman Martin Mosebachs “Krass” sein bisher radikalster, ja religiösester Roman ist, denn ihm liegt ein spätmittelalterliches Mysterienspiel um Schuld und Höllenfahrt wie im  “Jedermann” zugrunde. Sicher ist sein “Krass” – wie ihm die meisten bescheinigten – meisterhaft geschrieben, oder einfach “schön” oder “spannend”, aber die Mischung aus katholischem Kunstsinn und Tiefenverständnis für muslimisches Sittengesetz in der Welt des “Allerbarmers” war bisher noch nie in der Weise gewagt worden. Für diejenigen, die sich die Tagespost immer noch nicht gekauft haben, hier meine dortige Rezension.

 

Er ist ein Verschwender und ein Blender, ein Bauernfänger und ein Waffenschieber, ein durchaus barocker Mistkerl mit dem Drang nach Höherem, sofern es Genuss verspricht, Kultur ja, gut und schön, dazu hat er diesen schmalen Assistenten eingestellt, der seiner kleinen Gruppe von Parasiten und Claqueren in Neapel die Restaurants mit Meerblick bucht und auf Bedarf das Alexandermosaik erläutern kann, und dabei auch nicht jenes Detail zu erwähnen vergisst, in dem einer der zu Boden gestürzten und tödlich verwundeten Kämpfer seinen eigenen Tod im Schild gespiegelt sieht.

Der schmale Akademiker und Troubleshooter heißt Jüngel, ein Sklave mit Geldkoffer, aus dem alles bar zu bezahlen ist, Tickets, Bewirtungen, Personal, alles was so anfällt in dieser prächtigen Passage durchs Leben mit ihrer Silbergischt am Bug.

Die Kommandos aber gibt Krass, Ralph Krass, massig und stiernackig der Kerl, der Herrscher über den Koffer, die Gruppe, den Assistenten, die Welt drumherum. Ein „Wildschwein“ mit dem dumpfen Drang nach Höherem, wie Lebensart, Kultur, Schönheit.

Meist sitzt er stumm inmitten dieses nie endenden Banketts in den Edelrestaurants oder Trattorias, wo Platten voller Meeresfrüchte gereicht werden und der Champagner fließt, und bisweilen erhebt er sich, um mit ein paar Männern in dunklen Anzügen zu reden, die an der Hafenmole auf ihn warten.

Seine bizarre Gruppe aus Arzt und schwerhörigem Cavaliere, mit Madame Lecoer Jouet, der dick geschminkten Frau Roslovski und Lecvius, dem Geschäftspartner, den Krass mit leicht angeekelter Herablassung behandelt, erhält jäh Zulauf durch eine hochgewachsene Blonde, die an der Bar des Hotel Excelsior, in dem die Gruppe tafelt, allein vor einem Glas Champagner sitzt.

Es handelt sich um die in diesem Moment völlig mittellose Lidevine Schoonemaker, die hinreißende libertäre Tochter eines verstorbenen Künstlers und einer Kunsthändlerin, die ihrem Mentor, einem Zauberkünstler entlaufen war.

„Es war eine Freude, sie gehen zu sehen. Den Autofahrern, die für sie bremsten, was das anzumerken. Sie schritt durch ein Spalier des Lächelns.“

Krass schickt Jüngel, um sie in seinen Kreis zu lotsen. Lidewine ist schnell überzeugt. Sie wird von der Gruppe als die „gestempelte“ Frau aus dem Publikum erkannt, aus der Zauber-Nummer am Abend zuvor, zwar müsste sie mit dem Variete-Künstler weiter nach Bari, der Zug fährt nachmittags, aber ist das Leben nicht voller Überraschungen? Der Champagner ist schon mal bezahlt, das Essen wundervoll und an dessen Ende wird Jüngel mit einem indecent proposal vorgeschickt, nämlich dem Vorschlag, dass sich Lidewine in Krass ihren neuen Mentor wähle.

Strikte Regeln: Intimitäten werden ausgeschlossen, sind absolut unerwünscht, allerdings soll zölibatäre Enthaltsamkeit auch anderen Männern gegenüber eingehalten werden. Bezahlt wird lediglich die Begleitung.

Dafür werden alle Rechnungen beglichen, besonders die für die aus Krass‘ Sicht dringend benötigte neue Garderobe, die unter Begleitung Jüngels mit seinem Geld-Koffer in den Luxus-Boutiquen der Gegend beschafft werden sollen. Den Perlenschmck legt ihr Krass persönlich um den Hals.

Hinfort also schmückt sich Krass mit Lidewine, und sie sich mit einem Wildschwein. Wer an Männern gutes Aussehen schätzt, hat sie schon verfehlt, findet sie. Sie sind einfach – anders. Das ist das Faszinierende. Frauen langweilen sie.

Wir schweben mit dieser Gruppe durch Neapels herbstliche Terrakotta-Gassen und setzen über nach Capri, wo der fettwanstige Krass sich im Meer prustend wie ein Wal genießt und doch übernimmt, da er von der Strömung davongetragen wird und nur mit größter Mühe zurück ins Boot findet. Der Tod hat ihm, der sich mit blassen Lippen an Bord stemmt,  kurz zugewinkt.

Doch die Mission auf Capri dient auch der Nestbeschaffung: Ein Haus soll her, ein Palast, ein Tempel, eine außergewöhnlichste Behausung, die auch gefunden wird in einer Ruine am Steilhang, mit Blick auf den Golf und den Vesuv. Irgendwas für Frau Krass, die geheimnisvolle und kaum besprochene und wohl auch längst abgefundene und aus dem Krass‘schen Lebens-Weg getretene.

Dieser Abendröte- und Mythendurchwirkte erste Teil des Romans ist mit „Allegro imbarazzante“ überschrieben, wir sind in einer Partitur unterwegs, in einem schnell bewegten Satz, und zwar imbarrazante, also bisweilen peinlich, aber lustvoll, denn Krass ist ein der gargantuesker Lebensfraß, der den eisgekühlten Wein in sich hineingießt ohne zu schlucken, der  Bücher liest, indem er die erledigten Seiten herausreißt.

Das alles kommt in einer so kunstsinnigen und reflektierenden Sprachwoge, sonnendurchglänzt, einer geradezu musikalischen Beschreibungslust, die die zagen Verliebtheiten Jüngels genauso einfängt, wie den Bass von Krass und das polyphone Geschnatter der Reisegruppe, unwiderstehlich heiter das alles, bis zum jähen Absturz.

Jüngel nämlich ertappt Lidewine beim Seitensprung, er liegt regelrecht auf der Lauer, eifersüchtig notiert er, wann der Kellner mit der Schmalzlocke Lidewines Zimmer im Morgengrauen verlässt, er rapportiert dem Krass, der das Mädchen prompt und konsequent auf die Straße setzen lässt, nicht ohne zuvor den Schmuck und die Klamotten von Jüngel einsammeln zu lassen.

Jüngel, der Lakai schmeißt Lidewine raus mit der „eisigen Korrektheit“, mit der ein kommunistischer Kommissar die Zarenfamilie auf die Deportation vorbereitet, um kurz darauf, so der Wortmeister Mosebach, in eine “stallwarme Vertraulichkeit“ zu wechseln, „Mensch Lidewine…“

Längst sind wir gefangen und zappeln an der Angel dieses Mosebachschen Erzählkunstwerks und übersehen, dass hier kein kunstsinniger Gesellschaftskrimi entrollt wird, sondern tatsächlich ein morality play, denn in diesem Roman geht Mosebach aufs Ganze, mehr als in seinen Vorgängerromanen, er verhandelt Leben und Tod und das, was möglicherweise danach kommt.

Nämlich die großen Fragen, wie sie vom christlichen Glauben instrumentiert werden. Und das alles tief unterhalb, im Maschinenraum des Buches.

Den zweiten Teil, „Andante Pensieroso“ genannt, also langsamer und sehr viel nachdenklicher, beginnen wir mit einer Tagebuch-Aufzeichnung Jüngels vom 27. Oktober 1989, im Dauerregen im einem von Hortensien umstandenen Haus in der Provinz, das ihm ein Freund zur Verfügung gestellt hat.

Alles hat er hinter sich gelassen, nachdem seine Frau, die strohig-struppige Hella die Scheidung eingereicht hatte, das Land und das deutsche Demonstrations- und Regimesturz- und Mauerfall-Spektakel, das auch in den kommenden Tagen mit keinem Wort erwähnt wird. Sein Schmerzenskosmos heißt Hella.

Immerhin hat sein Freund Kleibers „Figaro“ und Klemperers „Don Giovanni“ und Harnoncourts Einspielung von Monteverdis „Orfeu“ hinterlassen, aber ach, er ist doppelt enteiert, nämlich pleite. „Dass jetzt die Geldnot mit der Liebesnot zusammenfiel, ließ mein Schicksal aussichtslos werden, denn Geld ist die Kraftquelle der Leidenschaft…“

In diesem Teil machen wir die Bekanntschaft mit dem alten Schuster Desfosses, der in einem Kloster arbeitet, ihm ist ebenfalls die Frau abhanden gekommen, eine, die der Leser überraschenderweise bereits kennt, aber wir können hier nicht den ganzen Roman erzählen, auch wenn es noch so verführerisch wäre, so beschränken wir uns auf die Völlerei der beiden im „Cheval Blanc“, wo man den Hasen „a lá Royale“ genossen hat mit einer dicken Soße, die an Exkremente erinnerte und überlegen, in welchem Kreis der Hölle die Sünder in Dantes Inferno Exkremente zu vertilgen haben.

Eigentlich stecken sie alle tief in der Sch…

Der Schlussteil ist dunkel mit „Marcia funebre“ notiert, also als „Trauermarsch“, wobei die Gemessenheit von Chopins “march funébre“ aus op.35, mit der Stalin zu Grabe getragen wurde, hier nicht durchexerziert wird – dieser Schluss ist viel eher ein Flimmern und Fieberflirren, und er findet, wieder Jahre später, in Kairos unüberschaubarem Stadtslum statt, wo Krass, nun mittellos, aufgeschlagen ist, denn General Habob war not amused von Krass’ Lieferpanne.

An diesem Nachmittag hat er sich aus seiner Absteige geschlichen, der große Krass und taumelt immer tiefer in die Gedärme dieses Molochs und bricht irgendwann auf den Stufen einer Moschee zusammen. Ein wenig später, in einer Shisha-Bar, hängt er sich an einen Anwalt namens Mohammed, kugelrund wie er, und der sich an ihn, und inniger und gleichzeitig würdevoller ist selten eine Vater-Sohn-Beziehung ausgestaltet worden – schon in seinem letzten Roman, „Mogador“, hat Mosebach bewiesen, wie gut und tief und sympathisierend er muslimische Befindlichkeiten und Sittengesetze versteht.

Schließlich liegt der große Krass in einem Armenkrankenhaus, mit anderen im Zimmer. Um einen Sterbenden, der nicht mehr gestört werden will, sitzen Frauen in ihren Mänteln „wie an einer Bushaltestelle“. Und Krass wartet. „Er befand sich nicht schlecht, aber er fragte sich wann die Hand auf seine Stirn zurückkehre, als habe er darauf einen Anspruch erworben. Wo blieb die Wärme dieser schweren plumpen Bauernhand….?“

Zeit für Innenreisen. Frauen ziehen vorüber, der Stoß gegen wurde wohl mit einem Gegenstoß beantwortet, der ihn aus der Bahn warf, Zeit letzte Rechtfertigungen, Wünsche und Verwünschungen, Apologien des Ausnahmemenschen, dem der Tod keine Ausnahmen einräumt, aber was sind das auch für Zeiten, sinniert er, ein Napoleon wäre heute wegen disziplinarischer Verstöße gemaßregelt worden und ein Alexander der Große als Trainer eines x-beliebigen Fußballvereins wegen körperlicher Ruppigkeiten entlassen.

Nein. Weg damit. „Gegenüber Lebensversagern kannte er keine Duldsamkeit, weg mit ihnen.“

Der Höhepunkt war ohnehin jener Moment, als er ins Leben hinaustrat damals als 10-jähriger, als er die Straße hinunterlief, um sich stolz in seiner frischen HJ-Uniform feiern zu lassen, doch alle Parteibonzen und Festredner, alle waren weggelaufen, denn der Russe war nahe gerückt…

In diesem ergreifenden und erschütternden Finale eines großen Romans, der sich so wohltuend abhebt von den kleinmütigen zeitgenössischen Beziehungsdramen und Kommunikationsstörungen, ein episodensatter Roman der in rauschhaften Delirien ausläuft, dem ein wuchtiges mittelalterliches Mysterienspiel zu Grunde liegt, in diesem Roman herrscht ein heftiger Verkehr zwischen Himmel und Hölle, und tatsächlich stellen sich auch Mammon und Buhlschaft und andere, die wir bereits kennen, wieder ein und noch einmal um den großen Krass herum.

Und der fragt sich, vielleicht nicht zu Unrecht: Ist das Leben als Toter nicht überaus schön?

Und Lidewine schüttelt den Sand aus ihren Schuhen in der unendlichen Nekropole Kairos und besteigt ein Taxi und lässt Jüngel mit einem Rätsel zurück.