Einzeln sein, darum geht es. Ein Einzelner sein , und es aushalten. Und wenn alle Stützen wegfallen, wenn alles Alles weggestrichen ist und Wesentliche aufscheint, beginnt das Leben, beginnt auch die Literatur, beginnt Kunst, und gegen diese knappen ersten Zeilen hier könnte selbst ein Hemingway wie ein Schwätzer wirken.

„Landstraße, Fahrtrichtung Osten. Kein Gegenverkehr. Tote Dörfer, als gäbe es Ausgangssperre. Ich streichle das Lenkrad, das Leder der Handschuhe knirscht leise. Mein Fahrgast diktiert das Reiseziel. Im Kopf fahre ich, wohin ich will.“

So beginnt Tom Kummer seine Gespenstersonate „Von schlechten Eltern“, er ist Chauffeur eines Luxuslimousinen-Unternehmens, das Botschafter und Besucher aus Dritt-Welt-Ländern durch die nächtliche Schweiz escortieren lässt.

Am Armaturenbrett ein Foto der Familie. Frau und zwei Kinder. Die Frau ist tot. Doch sie besucht ihn auf diesen night-trips. Sie sucht ihn heim. Bezirzt ihn. Macht ihn heiß. Macht ihn verrückt, traurig, macht ihn todessüchtig. Manchmal schließt er bei rasender Fahrt die Augen und lässt das Lenkrad los. Fünf Sekunden ist sein Rekord.

Ein Fahrgast aus dem Senegal, selber Witwer, will von dem schweigsamen Fahrer wissen, ob er an ein Leben nach dem Tod glaubt.

‚ „Daran glaube ich nicht, Monsieur.“

„Wieso glauben Sie nicht daran?“

„Menschen sind biologische Maschinen. Wir funktionieren. Nach dem Tod verrotten wir. Das ist alles“

“Das glauben Sie?“

Ich lüge ihn an. Ich lüge alle an.‘

Der Chauffeur kümmert sich um seinen jüngeren Sohn, der bei ihm lebt in Bern. Der ältere ist in Los Angeles geblieben nach dem Umzug. In Los Angeles starb die Mutter, Nina. Toms nächtliche Fahrten, in deren ledergepolsterten Luxus seine Fahrgäste die Welt der Bürgerkriege, der Flüchtlinge, der Millionengeschäfte dringen lassen, gedämpft, wie durch eine schallschluckende Membrane, diese nächtlichen Schauerfahrten bohren sich in den Kopf und in die Träume mit der meisterhaften Musikalität ihrer Sätze, mit ihrem Minimalismus, tatsächlich sind sie Nachtgesänge eines Orpheus, der weiß, dass er sich nicht umdrehen darf, und sie zeigen die Schweiz von ihrer schwarzen Unterseite.

Tom Kummers „Von schlechten Eltern“ stand zu Recht auf der short-list des Schweizer Bücherpreises und wird derzeit von dem neuen Team des Berner Schauspiels auf die Bühne gebracht. Ob es durch die Bühnenfassung einen Mehrgewinn gibt?

„Wir sind ja Rückkehrer wie Tom“, sagt die Chefdramaturgin Felizitas Zürcher, die die letzten Jahre im deutschen Ausland gearbeitet hatte, Düsseldorf, Dresden, in Berlin vor allem am Maxim Gorki Theater, knappe Mittel, große Ausstrahlung, so ähnlich wünscht sie sich das nun in Bern. Sie haben eine neue Nebelmaschine angeschafft.

Vor allem aber ist Tom Kummer ein Rückkehrer ins Establishment, ein Rückkehrer aus der sozialen Leprakolonie.

Sein Gesicht erinnert an eine afrikanische Kriegermaske. Hoher ovaler Schädel, schmale Augen, breite Lippen, ansonsten kahl bis auf dieses drollige Lockennest obendrauf, das der Künstler dahin geklebt hat, um den Touristen was Zusätzliches zu bieten.

So stand er da, als ich ihn wiedertraf, im Gewoge der Banker und Showstars auf einem  Fest der Medienbranche, wie ein höflicher Außerirdischer, tatsächlich wie ein altgewordener Wilder des Punk, und man weiß nicht genau, ob sein Lächeln wirklich Vertrauen schafft, oder ob er nur die Zähne bleckt: Tom Kummer ganz in schwarz, ja, er heißt auch noch so, düstere Figur.

Früher mal der Bad Boy des Journalismus, ein Star des neonschreienden „New Journalism“ in den 80er Jahren, ein Typ, der so viele Stars interviewte, bis er glaubte, selber einer zu sein und begann, sich selber zu interviewen, und das in verschiedenen Rollen: Als Mike Tyson oder Pamela Anderson oder Sharon Stone, eben solchen, nach denen unersättlicher Bedarf bestand in den Redaktionen von „Tempo“ oder „SZ-Magazin“ oder „Tagesanzeiger“. Sein Fehler: er verschwieg, dass die Gespräche Eigen-Fabrikate waren.

Doch die verantwortlichen Blattmacher wollten diese erdachten Interviews so sehr, dass sie sich einredeten, dass Mike Tyson seine Antworten tatsächlich mit Einstein und Hemingway spickte, dass sich Sharon Stone über ihre lesbischen Fantasien ausließ und Pamela Anderson über Sartre. Tom, wir knien vor dir, das ist der Stoff, mehr davon! Und am meisten erstaunt darüber war Tom Kummer selber, dass diese Bluffs funktionierten.

Tom Kummer, der Fälscher, flog auf.

Wir müssen das hier alles erst mal aus dem Weg räumen, bevor wir über das schreiben, was Tom Kummer in Wahrheit ist, ein Schriftsteller, der er schon als Reporter war, wenn er etwa eine Erzählung über die Beerdigung von Sean Penns Bruder Chris im Februar 2006 in Hollywood mit einer seitenlangen Meditation über weiße Hemden begann und über die erwachsenen Männer, die sie trugen, als das Kino noch erwachsen war.

Und als man ihn vom Schreibtisch in Hamburg aus auf die Fersen von Michael Jackson jagte, gab es jede Menge Bluthunde und Leibwächter und Manöver auf dem Freeway, und schließlich geht das alles über in eine Fantasy-Kino-Jagd, in der er über Kühlerhauben hechtet.

Preisfrage hier auf dem Fest unter den Journalisten: Was unterscheidet eigentlich Tom Kummer von der Kanaille Relotius, der den Spiegel jahrelang mit erfundenem Mainstream-Pudding belieferte und dafür mit Preisen überhäuft wurde?

Stefan Aust, einst Spiegel-Chefredakteur, bevor er gefeuert wurde, weil der tonangebenden Mittelmässigkeit der Mitarbeiter KG sein politischer Kurs und sein völlig unwoker Führungsstil nicht mehr passte und sie eine Chance sah, ihn loszuwerden – da rettete ihn auch nicht, dass er schnell noch seinen konservativen Kulturchef feuerte – Aust also in gewohnter Trockenheit über den Unterschied von Kummer und Relotius: “Die drei G! Gesinnung, Gefühle, Gelaber”.

Die Relotius-Melange eben, in der einem Flüchtlingsmädchen im Traum Angela Merkel erscheint, oder in der Trump-wählende Rednecks an der mexikanischen Grenze Jagd auf Menschen machen, dumpfe Analphabeten, die nie das Meer gesehen haben, dieses die Opfer der Fälschung verhöhnende Zeug eben, das unser völlig entgleister Betrieb schlürft wie Austern, weshalb er ihn mit Preisen überhäufte.

Meine Antwort wäre: Tom Kummer ist von Relotius soweit entfernt wie Kunst von Kitsch. Wie der Einzelne von der Mehrheit. Wie der Krieger von der Meute.

Seine Bewerbung bei Markus Peichls „Tempo“ bestand aus einem Filmschnipsel, auf dem er Molotowcocktails gegen die Berliner Mauer schmeißt. Peichl war überzeugt. Allerdings nicht wach genug, um zu kapieren, dass dieser Punk seine Mollies auch gegen den absurden Starhunger der Lifestyle-Magazine ballern würde, in dem er ins Absurde übertreibt.

Ich mochte ihn auf Anhieb, als er mich mit seiner Frau Nina und den beiden kleinen Söhnen 2006 in Hamburg besuchte, weil ich in seinen Fälschungen die Kunstaktion witterte und ohnehin eine Schwäche für Ausgestoßene habe, und es war Nina, diese zugewandte hübsche junge Mutter, unter deren Energiefeld die Familie stand, trotz Kaffee und Kuchen, viel Gelächter, und Branchengequatsche, und die Söhne mit dem meinem bald vor irgendeinem Ballerspiel im Kinderzimmer. Ein sonniger Nachmittag,

Acht Jahre später stirbt Nina an Krebs, und Tom schreibt sein großes Totenbuch über Nina und die Liebe, („Nina und Tom“) über ihr Kennenlernen in Barcelona und Punk in Berlin und Nan Goldin, die ihn fotografiert für ihre Serie „Sexual dependancies“,

 

und über das Sterben und die anhaltende erotische Gier aufeinander und über Los Angeles im fahlen ewigen Sommerlicht: Nichts radikal Ehrlicheres ist je geschrieben worden, falls wir Ehrlichkeit zum Kriterium für Kunst machen wollen.

Nina, die Schöne, die Schwierige, die ihm an Radikalität Ebenbürtige. Es war ein hinreißend zärtliches Requiem, dessen Notenlinien aus Stacheldraht gespannt waren. Eine Supernova erlosch.

Was ist das eigentlich, Kunst?

Bevor wir diese reichlich zerkaute Theaterkantinenfrage beantworten, führt er mich zuerst mal durch seine neue Heimat Bern, die so schön aufgeräumt ist wie ein frisch gestärktes weißes Tischtuch mit Blumenschmuck.

Er ist gut drauf: Gerade hat er den dritten Platz in der Schweizer Seniorenmeisterschaft der Ü 60  im Tennis gemacht. Ja, er ist sportlich. Gute Gene: Sein Vater war Tennisspieler, Skirennfahrer. Als er starb, war Tom 12. Mit 18, er musste einfach raus aus Bern, hatte er sich eine scholarship am PanAm-College in Texas erspielt, in Brownsville, bei MacAllen, wo er gleich die Nummer 1 weggeputzt hatte.

Später trieb es ihn nach New York, es war das Jahr als Fassbinder starb und Enzensberger sein Magazin Transatlantik gründete, für das Tom Kummer auf Anraten Ninas einen Text lieferte, Themenschwerpunkt Sport, Tom schrieb über Tennis, über ein erfundenes Viertelfinale zwischen John McEnroe und Joakim Nyström, das Ergebnis spielt keine Rolle, die Geschichte ist vor allem anhand der TV-Bilder erzählt, die die Kamera in einem Roland-Garros-Spiel von den Zuschauer-Rängen lieferte.

Erheblicher Bruch übrigens, denn McEnroe spuckt auf den Betonbelag von Flushing Meadows, aber das Paris-Open in Roland Garros ist ein Sandplatztournier, doch da sich Transatlantik ohnehin der Fiktion, der short story verschrieben hatte und dort keiner Ahnung vom Tennis hatte, gewann Tom den Preis des ausgeschriebenen Wettbewerbs.

Allerdings: „Warum hast du nicht gleich eine echte Vorlage genommen? Die Kunstfälschung ist doch viel mühsamer als das Echte?“

“Keine Ahnung“, sagt er.

„Tom, du bist verrückt“

„Kann sein.“ Klingt desinteressiert.

Man konnte also tatsächlich Geld mit Journalismus verdienen. Genug, um in LA zu leben und eine Familie zu gründen. Denn danach kam das Tempo-Magazin. Danach das SZ-Magazin. Danach der Tagesanzeiger und viele, viele andere.

Aber: Wer wissen will, wie man einen Autoren wie Richard Ford verstehen kann, sowohl aus seinen Büchern wie aus seinem Squash-Spiel, wie es in Michael Jacksons Mülltonne aussieht und was Britney Spears Friseur während eines Shootings auf einer Yacht über Gott und die Welt denkt, der greife zu Tom Kummers „Reportagen und Porträts 1987-2016, Werkausgabe Part One“. Ein Ziegelstein an Welthunger und Trash und Pop, an Neugier, an Geistesblitzen und Kurzweil, er hat noch genug Material für Part Two.

Wer ist Tom Kummer? Der Künstler, der Blender, der Scheißkerl, der Sportler, der Familienvater, der Liebhaber? Vielleicht weiß er es selber nicht.

Vielleicht weiß er es so wenig wie sein Landsmann Jean-Jacques Rousseau, der über sich schrieb : „Nichts ist mir so unähnlich wie ich selbst, darum wäre es müßig, mich anders definieren zu willen, als durch diese einzigartige Mannigfaltigkeit…“

Bern, der Glockenturm, der Bundesrat, die Altstadt, das Casino und die Sonne, die alles noch freundlicher macht, wir essen Ceviche in einem Straßen-Cafe, roher, scharf gewürzter Fisch, Tom kocht gern exotisch. Zeit für Politik. Soll man die Afghanen ins Land lassen? „Ich fände es spannend, wenn sich die Schweiz mal testet, indem sie Hundertttausende von denen aufnimmt.“

Hm. Womit geklärt wäre, dass Tom genauso irre ist wie die meisten linken Künstler in unserer Subventionskultur, die gerne mal – besonders im Sinne der „Humanität“ – Experimente auf Kosten der Allgemeinheit anstellen. Nein, Afghanen kennt er jetzt nicht persönlich, aber er würde sie ja kennenlernen. Und er sagt das alles, obwohl er weiß, dass er mich damit auf die Palme bringt, und ich muss auf meinen Blutdruck achten!

Offenbar hat er nicht die geringste Angst davor, dass ich ihn am Computer später fertig mache, freundliches, ja vertrauliches Treffen und die schwappende Niedertracht hinterher, wie es durchaus vorkommt in unserer Branche, und ich kann ein Lied davon singen.

Er führt mich in die Tiefgarage mit den Luxuslimousinen, hier hat er zwei Nächte recherchiert, und mit einem Range-Rover SUV mit versenkbaren Türgriffen und Display mit den Ausmaßen eines Mischpults fahren wir kurz darauf zum Asia-Supermarkt, Kokosmilch, Soja, Tofu und anderes Zeug landen im Korb (später wird er mir ein Foto vom Grillen im Freien schicken, mit seinem Sohn Jack, 17, der andere, Henry, 22, lebt in New York und assistiert dem Schweizer Künstler Urs Fischer)

All das macht den Eindruck, dass Tom vor allem eines ist: ein sehr umsichtiger und zärtlicher Vater. Im Buch steigt er nach seinen Schichten oft zu seinem noch schlafenden Sohn ins Bett, hier heißt er Vince, er drückt sich an ihn, streichelt ihn, er ist ganz bestimmt nicht „von schlechten Eltern“, höchstens in den Augen des wachsamen Nachbarn von Nummer 42 in seinem Wohnblock, weil er nächtelang weg ist.

Mir kam John Lennons Liebeserklärung an seinen Sohn Sean in den Sinn bei diesen Passagen im Bett, „Close your eyes, have no fear/ The monster‘s gone, he’s on the run, and your daddy‘s here…“, es war Lennons letzte Platte, bevor er erschossen wurde, und Sean war sehr viel jünger als es Vince im Buch ist, aber es passt trotzdem.

Seine Wohnung ist eine saubere, moderne Wabe, leer bis auf ein Sofa, Fernseher auf dem Boden und Stapel von Vinyl-Platten, Bücher daneben. Kinoplakate im Zimmer des Sohnes „2001: A space odyssey“ und „Vertigo“, und ein Poster „Les Beatles à Paris“ (1964, im Olympia), ein Mannschaftsbild des FC Barcelona aus den frühen 70er Jahre, „bevor die Holländer kamen“, Geschenk von Nina, Tennissachen in einer Ecke, das ist alles.

Nein, fast hätte ich den weißen Elefanten unerwähnt gelassen.

Ein Turm aus Büchern, mitten im kahlen Raum, ein Stapel, der sich in die Höhe windet wie die Rauchfahne eines Lagerfeuers, sein Buch „Von schlechten Eltern“. Darauf der rote Sticker mit dem Buchpreis-Aufdruck.

Ich stelle mir vor, dass es ihn wärmt, den alten Krieger.

Einen Winter lang.