Er war einer der größten Dichter deutscher Sprache und sicherlich derjenige mit der kürzesten Karriere: Georg Büchner, 1813 geboren, starb mit 23. Noch immer strahlt er als revolutionärer Held. Das könnte ein Missverständnis sein.
Wie soll man diese Himmelserscheinung nennen, die da durch die Nacht raste im zerschossenen frühen 19. Jahrhundert? Ein rotes revolutionäres Zischen zunächst, dann Stille, dann die Explosionen und dieses lange, prächtige Verglühen, leidensrot und sehnsuchtsblau, giftgelb und jugendgrün, es regnet Sternschnuppen bis heute, und jeder sieht diesen Büchner anders.
Georg Büchner, die geniale Stichflamme der deutschen Literatur. Wurde 23 Jahre alt. Begann mit einem Aufruf zu den Waffen, warf dann, in nur zwei Jahren, drei Theaterstücke aus sich heraus sowie eine Novelle, die ein Grenzgang in den Wahnsinn ist.
Lauter Nachtarbeiten. Am Tag schrieb er seine Doktorarbeit über das Nervensystem der Flussbarbe, die längst widerlegt ist.
Nicht widerlegt sind die Meteoriteneinschläge seiner Kunst. Mehr gibt es nicht als das Werk. Eine Handvoll Briefe, mehrfach bearbeitet, ein paar Erinnerungen. Lauter Fragmente. Der “Lenz” oder der elende Woyzeck zum Beispiel in seinem Wahnsinn, der ja auch eine Maske des Heiligen sein kann, Heiner Müller nannte ihn eine Entschlüsselungsarbeit für kommende Generationen: “Die Wunde Heine beginnt zu vernarben, schief; Woyzeck ist die offene Wunde.”
Die Lunte glimmt
Dass Georg Büchner am 17. Oktober 1813 während der Völkerschlacht von Leipzig zur Welt kam, ist eine der gelungeneren Pointen der Geschichte. Ein Sonntag, sechs Uhr morgens. Am Tag zuvor hatten beide Seiten – die Franzosen und die Allianz – verlustreich gekämpft. Am Montag und Dienstag wendete sich das Kriegsglück gegen Napoleons Truppen. Sie wurden in die Flucht geschlagen.
Büchner erscheint auf einem Scheitelpunkt der Weltgeschichte, im hessischen Flecken Goddelau, eine Torfstechergegend in der Nähe Darmstadts, bis dahin französisches Gebiet. Er kam zur Welt in einem requirierten Bauernhaus, Fachwerk, 17. Jahrhundert, winzige Zimmer im ersten Stock, die mit einem Klosett versehen werden mussten, das war die Bedingung, denn Ernst Büchner, der Vater, war Mediziner.
“Wie viel Zeit haben Sie?”, fragt die ehrenamtlich arbeitende Frau Pöllmann an einem nachempfundenen Familientisch im Geburtshaus, und sie beginnt mit Karl dem Großen. Vor den Stühlen auf dem Tisch liegen schwarze Kladden, die mit den Geschwistern Büchners zu tun haben. Sie prägten die Zeit auf ihre Weise.
Ludwig Büchner war wohl der Populärste. Seine Schrift “Kraft und Form” war eine vulgärmaterialistische Kritik an Religion aller Art, ein Bestseller des aufstrebenden Bürgertums.
Wilhelm Büchner entdeckte ein Verfahren zur Herstellung blauer Farbe und wurde reicher Philanthrop.
Luise Büchner, die Jüngere, war eine christlich-schwärmerische Frauenrechtlerin, die sich für weibliche Bildungsinstitute einsetzte.
Lauter frühbürgerliche Heldenbiografien. All diese Tüchtigkeiten und Kämpfe der länger lebenden Geschwister, eingesargt in die gleichen schwarzen Kladden. Ach, vielleicht hätte diese Installation dem romantischen Georg Büchner, dem ältesten Bruder, gefallen, er hatte Sinn für Ironie und Vergeblichkeit.
Stimulierendes Familienmilieu. Büchners Vater, der sich mit Caroline Reuss, Tochter einer Hofangestellten, nach oben geheiratet hatte, war Bewunderer Napoleons, des Modernisierers. Nun arbeitete er im Hospital im nahen Hofheim, das
auch Irrenanstalt war. Heute betreibt dort die “Vita”-Klinik ihre Geschäfte, rote Backsteinmauern unter Buchen, eine alte Scheune steht noch. Die Vita-Klinik kümmert sich ums moderne Irrewerden an der Welt: Burnout, Depression, Drogen.
Pflichterfüllung und liberale Neugier übernahm Georg Büchner von seinem Vater, eingekerbt wie mit dem Messer.
Vater Büchner weiß auch, und sein Sohn wird daran verzweifeln: Mit dem Sieg über Napoleon, die “Weltseele zu Pferde” (Hegel), ist paradoxerweise auch die Freiheit geschlachtet in den deutschen Kleinstaaten, das Erbe der Revolution, die Charta der Menschenrechte, der Fortschritt ist vorerst abgesagt.
Die Büchners ziehen nach Darmstadt, wo der ehrgeizige Vater eine Blitzkarriere macht, Georg Büchner erhält die bestmögliche Ausbildung. Ein vollgepackter Stundenplan im neuhumanistischen Pädagogium, Georg ist kein Musterschüler, aber hell und schlagfertig, vor allem kann der Junge mit Worten umgehen, feurig, schwärmend, polemisch. Zweimal hintereinander darf er die Rede auf der Semesterabschlussfeier halten.
Zur Französischen Revolution bekennt der Gymnasiast sich offen, trägt die Kokarde auf seinen gescheitelten Locken, grüßt Freunde mit “Bonjour, citoyen”, zunächst sind das sicher nicht mehr als revolutionäre Rollenspiele der Art, die sich schwäbische Wohlstandskinder 1968 borgten, wenn sie zum Rotfront-Gruß die Faust ballten.
Büchner studiert in Straßburg, das noch unter den Nachwehen der Juli-Revolution von 1830 fiebert, Gewimmel in den Gassen um das Münster, Emigranten, Revolutionäre, Lesezirkel, er lernt wohl die Vereinigung zur Verteidigung der Menschenrechte kennen.
Unterkunft findet er bei Pfarrer Jaeglé, einem entfernten Verwandten der Mutter, verwitwet, die Tochter Wilhelmine führt den Haushalt. Sie versorgt auch Georg, als er krank wird, sie ist liebreizend und drei Jahre erfahrener als Georg. Er verlobt sich heimlich.
Rote Explosion: der “Landbote”
Als er zwei Jahre später heimgerufen wird, mehr Auslandszeit wird vom Großherzog nicht genehmigt, reagiert er psychosomatisch, mit einer Meningitis. Die Verhältnisse in Gießen sind kerkerhaft düster, die Professoren Karikaturen (er wird einen für seinen “Woyzeck” verwenden), das Leben eine Qual, die Lunte glimmt.
Hier in Gießen, in den Studentenkellern und Geheimzirkeln, wird der Mythos des Revolutionärs geboren, und der wächst mit und wird in den Jahrzehnten nach seinem Tod zunehmend dümmer und wird alles verschlingen, was Büchner an metaphysischer Weltverlorenheit und kühnem künstlerischen Neuerungsfuror in den kommenden Werken verkapseln wird.
Gleich im Klartext: Büchner ist kein frühes DKP-Mitglied, auch wenn die hessische Schullektüre es bisweilen vermuten lässt. Er ist ein Libertin im echten Sinne, offen auch nach oben oder in die eisige Nacht, kein Klassenkämpfer, er kämpft an anderen Fronten.
Der Büchner-Preisträger Hans Magnus Enzensberger hat den Verbalradikalismus seiner Generation, die auch ihren Büchner eingemeindet hat, so formuliert: “So sehen wir aus, ein einig Volk von Lesern, erpicht auf einen Klassiker, der uns für eineinhalb Jahrhunderte versäumter Revolutionen aufkommen soll. Wir bestehen auf dem Umsturz aller gesellschaftlichen Verhältnisse, im Irrealis der Vergangenheit.”
Ja, Büchner hält die ungerechte Verteilung der Güter für das Wurzelproblem, bis heute hat sich daran nichts geändert. Ja, aus dem krassen Gegensatz Arm und Reich muss sich die Revolution entzünden. Oder? Zunächst stürzt er sich in die revolutionäre Rolle. “Wenn in unserer Zeit etwas helfen soll, so ist es Gewalt”, schreibt er an die Eltern.
Die Lunte brennt nun. Den Sturm auf die Frankfurter Wache hatte er noch von Straßburg aus verfolgt. Doch er weiß: ohne Masse keine Revolution. Und sie muss durch Flugblätter erreicht werden.
Er zwingt sich in die Rolle des illusionslosen Revolutionstechnikers. Das Volk? Nun, es leidet, aber es ist auch von “niederträchtiger Gesinnung”. Es ist nur am “Geldsack” zu packen. “Dieß muss man benutzen, wen man sie aus ihrer Erniedrigung hervorziehen will.”
Allerdings will Büchner den radikalen Umsturz und nicht nur die demokratische Mehrheit, denn ein Parlament gibt es noch längst nicht in deutschen Landen.
Zusammen mit einem Mitverschwörer, Friedrich Ludwig Weidig, verfasst Büchner die Flugschrift “Der Hessische Landbote”, von dem sich vor allem die unwiderstehliche Parole hält: “Friede den Hütten! Krieg den Palästen!”
Die Revolutionsepistel beginnt mit dem Rekurs auf die Genesis, die Leute sind bibelfest in jenen Tagen. “Im Jahr 1834 sieht es aus, als würde die Bibel Lügen gestraft.”
Dann folgt Zahlenwerk. Der Haushalt des Großherzogtums. Er reibt dem Landvolk ein, was es schuften muss und was oben verprasst wird, auf den Gulden genau. Zwischendurch die Feuerzungen revolutionärer Schwärmerei und Pathos, da ist vom “Tyrannen” die Rede und vom “Schwert des Volkes”.
Große Rollenprosa, mit deutlichen Anleihen bei Jean Paul. Mitverschwörer Weidig redigiert. Dann folgt der Schmuggel der Konterbande, der blutige Slapstick um die frühzeitig verratene Konspiration, rund 1500 Flugschriften in Stulpenstiefeln, es folgt die Gefangennahme von Freunden wie Karl Minnigerode oder Weidig. Werden sie dichthalten?
Der 20-jährige Büchner spielt. Kaltschnäuzig stellt er den berüchtigten Untersuchungsrichter Georgi zur Rede wegen des Eindringens in seine Stube – dann setzt er sich ab, zunächst nach Darmstadt zu seinem Vater. Mit angstweichen Knien. Als der “Landbote” erscheint, hat Georg Büchner keine drei Jahre mehr zu leben.
Giftgelber Blitz: “Dantons Tod”
Dabei ist Büchner kein Bombenleger, sondern der schlaksige Intellektuelle mit Brille. Sicher, einige seiner Freunde machen Schießübungen, auch über Attentate sprechen sie. Doch Büchner hat Selbstdistanz. Er macht sich lustig über die Freiheitsromantik, die eigene und die der anderen. Er spielt mit im hitzigen Gießener Studenten- und Revolutionstheater, auch von sich selbst hingerissen, aber er beobachtet sich dabei.
Auf sein Rasen gegen die tatsächliche Not, auf all das Pathos folgt der existentielle Kater. In seinem als “Fatalismusbrief” berühmt gewordenen Schreiben an die Verlobte in Straßburg heißt es: “Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit … Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall … Ich gewöhne mein Auge ans Blut … Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?”
Das soll ein Revolutionär aus dem Vormärz sein? Oder schrieb das Camus?
Wenn Büchners Gewaltfaszination fast 150 Jahre später Erich Fried in seiner Büchner-Preis-Rede an die erste Generation der RAF erinnert, dann ist es der Büchner des Fatalismusbriefes, also die restlos verzweifelte Ulrike Meinhof in Stammheim.
Doch Büchner ist frei, noch. Er mordet nicht, sondern schreibt. Er schreibt sich das Revolutionstrauma von der Seele, in fiebernden Schriftzügen, kaum leserlich.
Während Mitverschwörer Wilhelm Schulz in Festungshaft an den Gitterstäben herumsägt (und auch tatsächlich entkommt), flieht Büchner übers Papier. Hinaus. Das Stück heißt “Dantons Tod”.
In nur fünf Wochen, Januar/Februar 1835, ist es fertig. Fertig im Sinne von perfekt, neu, kühn, alles in den Schatten stellend. Es ist scharfsinnig, vulgär, witzig, tragisch. Im Schein von Büchners Argandscher Lampe entsteht Weltliteratur.
Was für ein neuer Ton! Er mischt Hohes und Tiefes, Gassenhauer und Gottesbeweise, Frivolitäten und Kirchenlieder, Melancholie und Weltekel.
Alles, was das klassische Drama verlangt, ist vorhanden, Exposition, zwei Parteien, Aufstieg, Peripetie, Fall. Bedeutendes Personal: Robespierre und Danton. Doch es beginnt im Bordell und endet auf dem Schafott, deutlicher kann Goethe nicht verabschiedet werden.
Handlungszeit sind die Tage revolutionären Terrors. Büchner liest sie in den Heften des Vaters nach, in dem historischen Journal “Unsere Zeit”. Die bürgerlichen Girondisten sind unters Messer gekommen, die linksanarchistischen Hébertisten ebenfalls, nun wird Danton verhaftet, jener Danton, der die September-Massaker zu verantworten hat.
Gespräche im Wartesaal zur Hölle. Georges Danton ist Georg Büchner, die hessische Posse wird hochgerechnet zur französischen Epochenrevolution, Büchner träumt sich in Danton hinein, den Nihilisten, den Erotomanen, der Freude an Huren hat, gleichzeitig aber verheiratet ist mit der ihn vergötternden Julie.
Ein Genießer, der spottet, Karten spielt, sich langweilt, philosophiert und alle Fluchtangebote ablehnt. Ein grauenhafter Prachtkerl, dessen Gewissen sich meldet. Soll es denn “still und dunkel werden, daß wir uns die garstigen Sünden einander nicht mehr anhören und ansehen?”, fragt er. Er, der das Revolutionstribunal schuf, sagt nun: “Ich bitte Gott und Menschen dafür um Verzeihung.”
Für ein Revolutionsstück ist erstaunlich viel Religion im Spiel. Büchner ist noch im christlichen Innenraum, aber so, dass es weh tut. Bald wird Sören Kierkegaard, im selben Jahr wie Büchner geboren, mit dem seichten Rationalismus der Vernunftsreligiösen aufräumen und die Existenzfrage stellen: springen oder nicht.
“Er war zu gescheit, um religiös zu sein, aber zu sehnsüchtig, um es nicht zu sein”, schreibt Büchners Biograf Hermann Kurzke(*).
Alles steht in Frage: die Welt, der Mensch, der Fortschritt, der Sinn von Revolution.
Dantons Gegenüber ist schmaler und stählerner: “Wer in einer Masse, die vorwärts drängt, stehenbleibt, leistet so gut Widerstand, als trät er ihr entgegen: er wird zertreten.”
Das ist Robespierre, der in seinen Monologen das Brevier des Terrors aufblättert, der Lauf der Geschichte spuckt Leichen an jeder Flussbiegung aus, sie ist eine Naturkraft wie ein Vulkanausbruch.
Rund ein Sechstel ist wörtliches Zitat – das Drama Collage, Dokumentation, Realgeschichte. Robespierre nimmt die Oktoberrevolution und Pol Pot und Mao vorweg. Epochenfortschritte können nur mit Blut erkauft werden, Andersdenkende müssen aussortiert werden.
Logisch, dass sich Brecht und die DDR sich das Revolutionsstück vornahmen, aber noch logischer, dass es repariert und auf Parteilinie gebracht werden musste. Danton, ein falscher Held, dieser kon-
terrevolutionäre Kleinbürger mit Gewissen muss verkleinert, die Terrorstrategen Robespierre und St. Just dagegen, in ihrem geschichtlichen Auftrag, müssen vergrößert werden.
Berüchtigt die Bearbeitung von Kurt Barthel, genannt Kuba, der davon sprach, Büchner “in der ersten Arbeiter-und-Bauern-Republik” eine Heimstätte zu sichern.
Dafür kann Büchner nichts.
Als der Schriftsteller Karl Gutzkow, später neben Heine der führende Kopf des “Jungen Deutschland”, 1835 das Stück in den Händen hielt, verstand er diesen Pistolenschuss an Genialität auf Anhieb. Auch seine Gefährlichkeit, zumindest was die Nerven des Publikums anging. Er war klüger als Büchners stalinistische Apologeten.
Gutzkow entschärfte vor allem die Frivolitäten, um es an der Zensur vorbeizubringen, er schmiss die “Eicheln” raus, die “Quecksilbergruben” und andere Bezeichnungen für syphilitische Huren, die Büchner aus der Klinik seines Vaters kannte, und natürlich darf sich niemand mehr “die Hosen vom Leibe reißen und sich über den Hintern begatten wie die Hunde auf der Gasse”.
Büchner ärgert sich über Gutzkows Eingriffe, ist aber froh, dass sein Stück gedruckt wird. Ein Vorabdruck erscheint im Kulturjournal “Phönix”, die literarische Welt horcht auf.
Die Originalfassung von “Dantons Tod” wurde mehrmals rekonstruiert und erst 1902 in Berlin uraufgeführt, fast 70 Jahre nach ihrem Entstehen. Büchner aber hat keine Zeit zu verlieren, damals im Jahr 1835. Die Uhr tickt. Er wartet auch nicht mehr die 100 Gulden Honorar ab, sondern setzt sich nach Straßburg ab.
Noch knapp zwei Jahre.
Das bengalische Feuer: “Lenz”
Am Fuße des Straßburger Münsters. Touristenschwärme, die vor einem heraufziehenden Sturm Schutz in den Cafés suchen. Rote Sandsteinfassade mit spätmittelalterlicher Figurenpracht, die zehn klugen und törichten Jungfrauen am Portal, darüber Türme wie geklöppelt, damals die höchsten Europas.
Büchner-Biograf Kurzke hat sich mit den anderen gerettet vor den wütenden Böen, ein sanfter 70-jähriger, asketischer Gelehrter, Thomas-Mann-Biograf und Kirchenlied-Experte, in seinem Lächeln liegt ein Anflug von Melancholie.
Dort sei Büchner oft aufgestiegen, sagt Kurzke mit einem Nicken hinauf, um sich “ausblasen und auswinden zu lassen”. Ganz oben im Eckturm haben sie sich verewigt, Goethe stand da eingeritzt, Klopstock, Lavater, Lenz, und von Voltaire, dem Kirchenzertrümmerer, war nach einem steinsprengenden Blitz nur das “taire” übrig geblieben. “Geschieht ihm recht”, sagt Kurzke, der auch als Biograf ein Faible für Komik hat.
Kurzke staunt darüber, mit welcher Komplettheit die Büchner-Forschung die christlichen Motive in Büchners Werk übergangen hat. Dabei wimmelt es davon. Von Christusfiguren, Dornenkronen, Kirchenliedern, Gebeten.
Kurzke, ein Katholik, kennt sich aus mit den Zweifeln und den Falltüren des Glaubens. Vielleicht hat er daher dieses Gespür für die transzendenten Schwingungen in Büchners Werk.
Für Kurzke ist es deutlich: Büchner wollte die Welt verbessern, weil er Christ war. Er hat die Not gesehen, das Dreckstück Mensch und den Schimmer der Erlösung. Er litt an der Differenz. “Die Nahrung bezieht Büchner von unten. Eine unstillbare Sehnsucht aber zieht ihn nach oben.”
Kurzkes Büchner ist von einer wilden Religiosität, die nichts mehr mit dem engen Pietismus zu tun hat, sondern mit einer künftigen Religion. Nicht gerade das, was die Marburger Büchner-Forscher in ihrem Arbeiterkampf-Jargon von Pfaffen und entrechteten Massen und Bourgeoisie und Klassenlage verstehen könnten.
Jan-Christoph Hauschild, Autor der umfassendsten Büchner-Biografie, ist vor allem am Revolutionär Büchner interessiert und scheint den “Landboten” für das Schlüsselwerk zu halten.
Sein neues Buch heißt “Verschwörung für die Gleichheit”. Textprobe: “Im Mittelpunkt des Dramas (‘Dantons Tod’) steht die Abrechnung mit den großbürgerlichen Revolutionsgewinnlern.” Ach so?
Er nimmt seinen Büchner hart ran: Der “Danton” sei “mehr als ihm guttut, mit geistreichen Reminiszenzen beschwert”. Überflüssiges Kunstgeplänkel also, denn worum geht es Büchner eigentlich? “Um den Konflikt zwischen Bourgeoisie und plebejischen Schichten und um das schonungslose Aufdecken und Anprangern der begangenen Fehler.”
Kurzke dagegen wagt es, dem Genie nachzudichten, er fühlt sich ein, erlaubt sich sogar eine fiktive Büchner-Preis-Rede, “die hochgelobten Schreibereien seien Nebensache gewesen”, die Germanisten werden sicher Plagiat bemängeln, und was die Revolution angehe, sei es “leichter, sozialistisch als sozial” zu sein.
Kurzkes Büchner ist laut und zotig in den Gießener Studentenkellern, er ist eisig, wenn sein Hochmut hervorschießt, denn er begreift schneller als andere.
Ein gutaussehender Kerl übrigens, seine Augenfarbe (grau) und seine Größe (1,73) hat die Polizei für den Steckbrief notiert. Ein Frauentyp, lockig, hochgewölbte Stirn, breite Schultern, dann allerdings diese Pausbacken und ein Kussmündchen, das wir von dem berühmten Porträt des Theatermalers August Hoffmann kennen. Es ging im Krieg verloren (mit Haarlocken Büchners), wurde aber als Fotografie überliefert. Nun ist ein zweites Porträt desselben Künstlers aufgetaucht, das Büchner in modischer Weste zeigt, mit dem Notenblatt einer frivolen Oper in der Hand – verwegene Errol-Flynn-Haltung, der rote Korsar, er mochte solche Selbstinszenierungen.
Kurzkes Büchner ist melancholisch, neurotisch und triebhaft, alle seine Figuren sind es, “wieviel Weiber hat man nötig, um die Skala der Liebe auf und ab zu singen?”, fragt sein Leonce, das klingt nicht nach bürgerlicher Treue.
Eine Schwärmerei Büchners, von der er seinem Freund Alexis Muston auf einer Wanderung nach Heidelberg berichtete, fiel Kunzke auf. “Er hat sich in einer Art mystischer Anbetung in ein gefallenes Mädchen verliebt, das er auf die Stufe von Engeln zu erheben träumte.”
Kaum ein Forscher ist auf diese namenlose “Fille perdue” eingegangen, für Kurzke dagegen wird sie zu einer libidinösen Kraft, Büchners Werk ist durchzogen davon, von einer erotischen Faszination, die weit über die für seine Wilhelmine hinausgeht, hinter der er das unerotische “Rasseln der Kochtöpfe” hört.
Büchner muss sie gekannt haben, all die Frivolitäten der Straße. Die Geläufigkeit, mit der Prostituierte in seinen Stücken auftreten, die Marion etwa aus dem “Danton”, allerdings legt er ihr pure Poesie in den Mund, wenn sie von ihrem Fall spricht: “Ein junger Mensch kam zu der Zeit ins Haus, er war hübsch und sprach oft tolles Zeug, ich wusste nicht recht, was er wollte, aber ich musste lachen.”
War dieser junge Mann Georg Büchner? Wer war dann Marion?
Kurzke: “Ich stürze einen Heiligen vom Sockel.” Zumindest einen Heiligen der revolutionären Sache, denn ein Klassenkämpfer hat tugendhaft zu sein.
Der Nachtgang der Vernunft
Nach seiner Flucht nach Straßburg beginnt Büchner wieder mit dem Studium, er ist ehrgeizig, strebt eine bürgerliche Karriere an, er hat sich auf das Nervensystem der Barbe spezialisiert.
Nachts übersetzt er zwei Dramen von Victor Hugo. Bis er nach einigen Wochen auf den “Lenz” stößt. Oder der stößt auf ihn. Wieder ist es ein Dokument, das ihn elektrisiert. Diesmal sind es die Aufzeichnungen des Pfarrers Johann Friedrich Oberlin über den Aufenthalt des verwirrten Sturm-und-Drang-Dramatikers Jakob Michael Reinhold Lenz in seiner Gemeinde Waldersbach in den Vogesen.
Ganze Passagen übernimmt er wörtlich, Büchner ist ein Genie der Collage. Doch aus Oberlins betulichen Protokollen wird ein Sturm. Büchner springt in Lenzens Kopf, mit harmlos anrollenden Irrsinnssätzen beim Steigen durchs Gebirge: “Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehn konnte.”
Büchner sieht aus Lenz’ Augen auf eine Welt aus stürzenden Perspektiven, die schon jetzt den Expressionisten Kirchner vorwegnehmen: “Anfangs drängte es ihm in der Brust, wenn das Gestein so wegsprang, der graue Wald sich unter ihm schüttelte und der Nebel die Formen bald verschlang.”
Die Idealisierungen der Goethe-Zeit sind verflogen, der metaphysische Abgrund öffnet sich, die wilde Natur füttert dieses Wahnsinnstheater, und auch wir verlieren den Boden unter den Füßen. “Er suchte nach etwas wie nach verlornen Träumen, aber er fand nichts.”
Und dieses Nichts löst das pure Entsetzen aus. Er jagt vor diesem Nichts davon, aber es greift nach ihm, “die Finsternis verschlang Alles”.
In Peter Schneiders “Lenz”-Novelle, die er den Dogmatikern der Studentenbewegung 1973 vorwirft, verliert Lenz den Glauben an die revolutionäre Sache. Bei Büchner verliert er den Glauben. Punkt. Aber das ist dramatischer.
Lenz’ Geschichte ist die der Entwurzelung aus dem Glauben, aus jenem Christenglauben, der doch zu Zeiten des Pfarrerssohnes Lenz noch sichere Planken ins Dasein zog. Ein halbes Jahrhundert später wird Nietzsche ausrufen: “Gott ist tot”, ganz überwältigt von seinem Mut. Heute fragen die Leute: “Wer ist Gott?”
Unter Oberlins Obhut kommt Lenz zur Ruhe. Doch dann hört er von dem Mädchen aus dem Nachbarort, das gestorben ist. Erschüttert kniet er neben der Aufgebahrten und sagt: Stehe auf und wandle. “Aber die Wände hallten ihm nüchtern den Ton nach, dass es zu spotten schien, und die Leiche blieb kalt.”
Da muss Lenz laut lachen, und “mit dem Lachen griff der Atheismus in ihn und fasste ihn ganz sicher und ruhig und fest”. Doch am nächsten Tag steigert sich seine Angst, denn “die Sünde wider den heiligen Geist stand vor ihm”.
Der Glaubensmuskel zuckt noch, Lenz glaubt nicht mehr, doch er fühlt sich schuldig dafür, so leicht ist sie nicht abgetan, diese rätselhafte christliche Neurose, von der Analytiker da sprechen würden. Verzweifelt ruft er Oberlin zu: “Wenn ich allmächtig wäre, ich würde retten, retten.”
Oberlins Pfarrhaus in Waldersbach ist heute ein Museum. Es zeigt seine Sammlungen aus Käfern und Psalmenlosungen und Samen, Brille, Bibel, Lederschatulle für die Schere – und dann hängt da eine schematische Zeichnung von Himmel und Hölle. Fast eine Kinderzeichnung. Unten das Feuer, und in einem regenbogenfarbigen Schwung die Seele, hinauf ins Licht. Hat Oberlin sie dem armen Lenz vorgehalten?
Ein Alter kommt die Dorfstraße herauf, auf die Krücke gestützt, gegerbtes Wettergesicht, ob er grinst oder Schmerzen hat, ist nicht auszumachen, er grüßt, nein, den Büchner kennt er nicht, auch nicht den Lenz, aber Oberlin war ein “bonhomme”, ein guter Kerl.
Die Erzählung “Lenz” ist nur in verschiedenen Skizzen erhalten, möglicherweise hat sie seine Verlobte nach seinem Tod zusammengeklebt, ein Fragment, mit einem großen Bruch vor dem Schlussteil, wo der ausgebrannte Lenz in einer Kutsche nach Straßburg gebracht wird: “Es war eine entsetzliche Leere in ihm, er fühlte keine Angst mehr, kein Verlangen; sein Dasein war ihm eine notwendige Last. – So lebte er hin.”
Und plötzlich heißt das Grauen: Normalität.
Die blaue Leuchtkugel: “Leonce und Lena”
In Straßburg schreibt Büchner weiter an seiner Doktorarbeit. In seinem Geburtshaus in Goddelau liegen Skizzen aus, sie verblüffen, denn Büchner, der nachts Gefühlsstürme orchestriert, ist bei Tage ein akkurater Wissenschaftszeichner, der Gräten und Wirbel präzise konturiert.
Er studiert in diesem Frühjahr 1836, noch ein Jahr.
Er will seinem Vater mit der Promotion imponieren, und die wird er im Fach Philosophie erlangen, denn Biologie wurde damals dazugerechnet.
Da hört er von einem Lustspielwettbewerb der Cotta’schen Verlagsbuchhandlung. In knapp vier Wochen wirft er die schönste und leichteste Komödie deutscher Sprache aufs Papier. “Leonce und Lena”.
Es ist ein Versuch über die Langeweile.
chon Danton langweilte sich. Und der Lenz: “Ich mag mich nicht einmal umbringen: Es ist zu langweilig!”
Und wenn Prinz Leonce sich langweilt, hört sich das so an: “Mein Kopf ist ein leerer Tanzsaal, einige verwelkte Rosen und zerknitterte Bänder auf dem Boden, geborstene Violinen in der Ecke, die letzten Tänzer haben die Masken abgenommen und sehen mit todmüden Augen einander an.”
Pures Ennui, wo nimmt er das her, wenn nicht aus sich?
Erst 59 Jahre später wird das Stück uraufgeführt, 1895 in München, unter der Mitwirkung des Anarchodichters und Phantasten Oskar Panizza.
Unter den Inszenierungen der letzten Jahrzehnte ist vor allem die von Jürgen Flimm in Erinnerung. Sie spielte in einem Zirkuszelt, 1981 in Köln, auf Schaukeln sitzen Leonce und Lena und flüstern entzückenden Unsinn aus Weltschmerz und Wortspiel, eine einzige frivole und zartsinnige Heiterkeit am Premierenabend, während am selben Tag in Bonn 300 000 gegen die Nato-Nachrüstung demonstrierten und den Weltuntergang verhinderten.
Leonce und Lena demonstrierten nichts außer ihrer Liebe und ihrer Verachtung für das Zeremoniell aller Art, auch das der politischen Leidenschaft. Was vermag schon die vorübergehende Wallung einer Überdrussgesellschaft gegen die Leere und die große Lächerlichkeit, die ihrem Gezappel zugrunde liegt?
Büchner arbeitet weiter in seiner Straßburger Klause, er seziert, er will wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Danton spricht es an: “Wir müssten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.” Und was, wenn man sie auch dort nicht findet, die Gedanken?
Büchner zeichnet seine Gräten, er arbeitet ungesund, mit Chemikalien, in größter Kälte, da sich die Fische dann frischer halten. Kadaver. Schon als Anatomiestudent hat Büchner viele Leichen gesehen. “Ich will deine Leiche lieben”, sagt Prinz Leonce zu Rosetta.
Es hat was Todessüchtiges, Schwarzromantisches in Büchner.
Er ist 22, als er seine Doktorarbeit im August 1836 in Zürich postalisch einreicht. Ein Straßburger Professor hat ihn empfohlen. Eine Expresskarriere. Mit 23 steht er vor der Hautevolee der Zürcher Professorenschaft und erklärt, evolutionsbiologisch nüchtern und doch noch im Geiste der goetheschen Metamorphosen-Theorie, warum die Schädelnerven sich aus dem Rückenmark bilden. Er wird gefeiert für seinen Irrtum.
Er hat noch drei Monate zu leben.
Schon in Straßburg hat er einige Szenen aufs Papier geworfen, Traumbilder von einem Jahrmarkt und Akademikerkarikaturen, ein Doktor tritt darin auf, der an Menschen experimentiert, ein maskuliner Tambourmajor, dazu ein schwermütiger Hauptmann und ein armer Hund namens Woyzeck.
Es gab ihn tatsächlich, diesen Woyzeck. Wieder liegt ein umfassendes Dokument vor, durch den Gerichtsmediziner Johann Christian August Clarus, der in nüchternen Worten den Fall schildert. Büchner macht aus ihm einen einfachen Soldaten, und aus Clarus’ Protokoll – absurdes Welttheater. Nur einzelne Szenen sind erhalten, unnummeriert, die verschieden zusammengesetzt werden können. Die am häufigsten gespielte Fassung ist die des “Woyzeck”-Films von Werner Herzog mit seinem kurzgeschorenen, gequält flüsternden Kinski.
Einen ärmeren Hund als Woyzeck hat es bis dahin auf der Bühne nicht gegeben. Er stellt sich für Experimente zur Verfügung, der Doktor probiert die Wirkungen einseitiger Ernährung, Erbsen, nichts als Erbsen, er lässt den Woyzeck mit den Ohren wackeln wie ein Esel.
Es sind Traumfiguren wie in Kafkas Romanen, wie in Schwarzweißfilmen: Da ist der Tambourmajor, der albern ausstaffierte Verführer, schiere Maskulinität – und da ist Marie, die sich verführen lässt, mit einem Paar Ohrringen, mit seiner Uniform, mit seinem Putz.
Woyzeck schuftet und schindet sich, denn sein einziger Luxus ist Marie. Oder die Liebe zu ihr. Und sie geht fremd. Er ersticht sie und wäscht sich das Blut in einem Teich ab. Archetypen des Triebtheaters. Marie sagt: “Ich bin stolz vor allen Weibern”, denn sie ist verfallen dem imposanten Mann, dem Stier. Während Woyzeck verängstigt ist und impotent und von allen verhöhnt. “Woyzeck” spielt in Büchners Seele.
Während der Arbeit an der vierten Fassung von “Woyzeck” erkrankt Büchner. Er sagt seine Vorlesung ab. Seltsam kraftlos ist er, Freunde helfen mit Suppe.
Büchner fiebert und redet wirr, dann wieder hat er Phasen einer gleichgültigen Normalität. Er ist der abwesende Prinz Leonce, dann schwärzt der Typhus seine Zähne, sein Fleisch, nun ist er Woyzeck, die Elendskreatur, das ganze Figurentheater glüht noch einmal auf, im Delir kehrt der Lenz in ihn zurück. Er ruft nach Jesus. Und schließlich: “Durch Schmerzen dringt man zu Gott.”
Am 19. Februar 1837 stirbt Georg Büchner in seinem Bett in der Zürcher Spiegelgasse 12. Die an sein Bett geeilte Verlobte Minna kann ihm noch die Augen schließen.
Aber er beunruhigt weiter, in seinem grenzenlosen Freiheitsmut.
Erschienen am 30.09.2013 im DER SPIEGEL 40/2013
Kämpfen Sie mit!
Wie Sie sicher gesehen haben, kommen meine Beiträge ohne Werbung aus. Daher: wer mich in meinem Kampf gegen eine dumpfe Linke, die auf Binnen-Is und Gendersternchen besteht, aber Morddrohungen nicht scheut, unterstützen möchte, besonders für allfällige gerichtliche Auseinandersetzungen, kann es hier tun.