Das erste Opfer des Krieges war die deutsche Intelligenz – Schriftsteller wie Thomas Mann verklärten den Waffengang zu einem großen Seelenereignis.
Was hatte sich da nur angestaut in dieser prosperierenden Wohlstandsgesellschaft, die sich Deutsches Reich nannte, um sich dann so fürchterlich entladen zu müssen?
Welcher Reichtum an Intelligenz, welche Durchbruchsfiguren in Technik und Biologie, in Soziologie und Literatur und Malerei! Wessen waren sie bloß so müde geworden, die Köpfe der literarischen Salons und der Boheme, all die Stars, die Intelligenzler, Deuter, Propheten, Revolutionäre.
Sie alle sollten im August 1914 beglückt entdecken, dass sich ihre Gefühle mit denen der Kommerzienräte und Offiziere deckten, genauso wie mit denen der Kioskbudenbesitzer und der Kohlenschlepper und des Mannes auf der Straße.
Dieser merkwürdige Rausch, den man später das “Augusterlebnis” nannte, jene Tage, in denen es angeblich keine Parteien mehr gab, sondern nur noch Deutsche, die in den Ersten Weltkrieg zogen.
Woher kam dieser Hunger nach Schicksal? Unter den vielen bemerkenswerten Szenen in Florian Illies’ wunderbarer Collage “1913”, diesem Tableau über die Zeit vor dem großen Gemetzel, ist jene eine der amüsantesten: In seiner Villa im Berliner Grunewald zupft sich der Theaterkritiker Alfred Kerr vor dem Spiegel die Fliege zurecht, um sich in den Kampf zu stürzen – in die Aufführung von Thomas Manns “Fiorenza”, die er zu vernichten trachtet.
Zur gleichen Zeit lässt sich der Dichter im Hotel Unter den Linden seinen Mantel aufbügeln – um diesen oder einen anderen Angriff zumindest äußerlich makellos zu überstehen. Beide steigen in ihre Rüstungen für einen Feuilletonkrieg, der für sie die Welt bedeutet.
Natürlich trägt Kerr den Sieg davon, denn er hat, als Kritiker im “Tag”, das letzte Wort. Dabei ist der Kern der Feindschaft eigentlich gar nicht das Stück, sondern ein privates Drama. Thomas Mann hat, gegen den werbenden Kerr, das Herz der Katia Pringsheim erobert.
Das ist die Zeit: Stillstand. Stickigkeit. Kleine Aufregungen, Skandalisierungen, dann wieder Langeweile. In Robert Musils “Der Mann ohne Eigenschaften” nimmt der Held Ulrich im August 1913 “Urlaub von seinem Leben”, der junge Mann will sich nicht mehr mit Karriereplänen quälen. Gut, es gibt Geräusche vom Balkan, es gibt hitzige Reden, aber nichts wird sonderlich ernst genommen.
Und ein paar Monate darauf sind sie alle gemeinsam von der gleichen Erregung getragen und mitgerissen, auch Musil, sie sind gleichsam aus sich herausgespült, hinaus und hinauf zu einem Ideal oder dem, was sie dafür halten.
Alfred Kerr und Thomas Mann sind plötzlich, um im Jargon zu bleiben, “Waffenbrüder”, zumindest am Schreibtisch, auch der eine Art Feldherrentisch mit ständigen Lagebesprechungen.
Unter den ersten Kriegsfreiwilligen ist besonders diese eine Gruppe stark vertreten, die der Dichter und der Schriftsteller, die sich auf die Suche nach der großen Erzählung dieses Volkes begeben.
Intellektuelle, viele Studenten, auch Professoren machen sich auf zum “Waffengang” – das sind so die Klangfarben, die im Volk der Ritter- und Märchengeschichten die Herzen höher schlagen lassen.
Eines ist sicher. Die Urkatastrophe, als die der Erste Weltkrieg bezeichnet wird, hat viele Väter, und nicht alle waren Militärs. Viele waren zunächst mit nichts bewaffnet als ihrem Füllfederhalter. Sie verherrlichten ihn, sie gaben die Hymnik vor, Max Weber bedauert, in diesem “großen und wunderbaren Krieg” nicht mit an die Front ziehen zu dürfen. Auch Alfred Kerr jubelt, und Thomas Mann spricht von einer lang ersehnten “Reinigung”, von der “Veredelung” des Menschen im Krieg, vom Ausstieg aus einer “satten Friedenswelt”.
Die Arbeit an seinem “Zauberberg” wird er ruhen lassen, um sich in den voluminösen “Betrachtungen eines Unpolitischen” all die kulturstrategischen und lebensphilosophischen Rechtfertigungen des “Waffengangs” von der Seele zu schreiben, mit denen er seinen Roman nicht erdrücken will.
Er spricht, wie viele in jenen Tagen, von der “Wesensart” der Deutschen, die er insbesondere der französischen Lebens- und Denkungsart gegenüberstellt. Wo liegt es, das deutsche Wesen? Thomas Mann sucht es bei Schopenhauer, dem Nietzsche der Bürger-Verachtung, er greift zurück auf Goethe, dem die “Französgen” arrogant und überziseliert vorkamen, ja, bis zu Luther, in dem der Protest gegen die römisch-katholische, also westliche und überzivilisierte Welt, seinen “gewaltigsten Ausdruck” gefunden habe.
Für Thomas Mann geht es, ob in Flandern oder an der Somme, um den Kampf zwischen (deutscher) “Kultur” und (französischer) “Zivilisation”: “In Deutschlands Seele werden die geistigen Gegensätze Europas ausgetragen.” Doch in seiner eigenen Seele trägt er noch etwas anderes aus – den Konflikt mit seinem Bruder Heinrich, dem Kriegsgegner, der für ihn den verachteten “Zivilisationsliteraten” verkörpert.
Er hält dessen Bücher für schmuddelig, seine politischen Parteinahmen für die Demokratie und gegen den Ständestaat für indiskutabel. Heinrich erwidert die Abneigung und attackiert in seinem großen Zola-Essay nicht nur Preußen und den Kaiser, sondern auch den Bruder. Für seine geistigen Spielereien, wirft er Thomas vor, nehme er “Tod und Elend der Völker in Kauf”.
Thomas Mann, der künftige Nobelpreisträger, rechtfertigt den “Griff zum Schwert” scheinbar unberührt von den katastrophalen Wendungen, wenn er auch später in Briefen von “Reue” spricht und “Kriegsmüdigkeit”.
Was für ein Wandel – vom Ausbruch einer romantisch-heroischen Stimmung hinein in das elende Aushalten und Verrecken in einem industriellen Massentöten und Sterben! Der Dichter August Stramm, der als Kompanieführer im Stellungskrieg an der Somme kämpft, schreibt 1915 in einem Brief: “Ich habe kein Wort. Ich kenne kein Wort. Ich muss immer nur stieren, stieren um mich stumpf zu machen.” Ein halbes Jahr später fällt er in Russland am Dnjepr-Bug-Kanal.
Dennoch: Jenes “Augusterlebnis” wird auch in den kommenden Jahren immer wieder beschworen als nationale Erzählung, als große Feier der Einheit. Da selbst die Sozialdemokraten mit der Bewilligung der Kriegskredite nicht mehr abseitsstehen mögen, konnte Kaiser Wilhelm II. ausrufen: “Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche.”
Und hat er nicht recht, wenigstens für einen Moment, ausgerechnet dieser leicht beschränkte, größenwahnsinnige, operettenhafte Kaiser mit seinem Faible für Prunkuniformen und Matrosenanzüge? Ausgerechnet diese Pickelhauben-Karikatur spricht die von seinem Kanzler Bethmann Hollweg erfundene Losung aus, und es gab ja tatsächlich nur noch Deutsche – und ihre Gegner: der Franzos, der Engländer, der Russe.
Das “Augusterlebnis” ist durchaus auch eine Fabrikation, die die Schriftsteller der Zeit aus dem Urgrund des Volkes zu schöpfen meinten, und sie übersetzen, was sie dort vorzufinden glaubten, in eine hochgesinnte Begeisterung, ohne je darüber nachzudenken, ob sie es eventuell selbst dort hineingelegt hatten.
Bekannt ist, dass nicht nur die Leuchten der Literatur zur Feder griffen, sondern dass in den ersten Kriegswochen täglich 50 000 kriegstrunkene Gedichte an die Redaktionen eingesandt wurden. Thomas Mann sah seine Aufgabe in der “Ausdeutung, Verherrlichung, Vertiefung” der Kriegsgeschehnisse, und seine Leser antworteten auf ihre Weise.
Vielleicht war doch etwas daran, dass hier ein Volk nach seiner Schicksalsstunde suchte? Vielleicht hatte Walter Benjamin recht, als er spekulierte, dass die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs die nie erwartete Realisierung der Philosophie des Idealismus geleistet hätten.
Nun hatte sich der Idealismus des frühen 19. Jahrhunderts (und mit ihm die Idee einer Nation, die auch eine der philosophischen Vertiefung, der Träume, der Musik, der Emotionen, der edlen Ziele ein sollte) gründlich ausgeatmet in der wilhelminischen Gründerphase. Die neue Zeit war eine der Maschinen, der Zwecke, der Rationalisierungen, der unglaublichen wirtschaftlichen Erfolge, kurz: der kapitalistischen Erfolgsgeschichte des Deutschen Reiches.
Nicht wenige hielten noch 1913 genau aus diesen Gründen einen Krieg für unwahrscheinlich, wie der britische Publizist Norman Angell, der sich damit beruhigte, dass ein Krieg in einer wirtschaftlich engverflochtenen Welt keinen Sinn mehr mache. Weil dann “der Einfluss der gesamten deutschen Finanzwelt gegenüber der deutschen Regierung zum Tragen kommen würde, um eine für den deutschen Handel ruinöse Situation zu beenden”.
Das Argument war plausibel. Krieg ist unklug. Krieg ist irrational. Krieg ist ein Rückfall in primitivere Zeiten. Angell vertraute auf die Sprache der Zahlen und auf die Welt der Bilanzen. Was aber, wenn das “Augusterlebnis” genau dagegen rebellierte?
Die Dichter Paul Zech, Hermann Hesse, Richard Dehmel, Hermann Löns und viele andere meldeten sich freiwillig. Der Expressionist Ernst Wilhelm Lotz freute sich darauf, den Krieg “ästhetisch zu erleben”.
Tatsächlich wurde die öde Vulkanlandschaft des Schlachtfeldes in der Phantasie der Künstler zu einer großen Nullstellung, zur Metapher, zum leeren Blatt, auf dem neu geschrieben werden konnte, und sei es das eigene Leben, dem nun, gesteigert durch die Todesdrohung, eine besondere Faszination eingeatmet wird, so war es für Abenteurer wie Ernst Jünger.
In seinem Front-Essay “Stoßtrupps” beschreibt er die Herausforderungen der “kleinen ausgesuchten Verbände” vor dem gegnerischen Stacheldrahtverhau. Die “Überwindung solcher Schrecknisse” erforderte “körperliche, geistige und moralische Eigenschaften”, die weit über dem lägen, was man von einem Massenheer erwarten könne. Der Kriegseinsatz schien für Jünger geradezu erotisch zu knistern, wenn er beobachtet, dass “die Luft so von überströmender Männlichkeit geladen” war.
Julius Hart, naturalistischer Dichter, versprach sich noch 1915 eine völlige Umwälzung durch den “Kriegsgeist”, der “mit einem Schlage die ganze Poesie der Mode, der Perversitäten und Dekadenzen … der formalistischen und technischen Leere hinwegfegen wird”. Der Krieg als Geländegewinn auch im Feuilleton, in erster Linie dort.
Was war es, was diesen August für deutsche Dichter und Schriftsteller so unwiderstehlich machte? Zunächst wohl das Gefühl der Einheit. Doch dann sicher auch das Empfinden der eigenen Bedeutung, ja der Sendung, die viele in sich spürten.
Ein Hohepriestertum mit allen Weihefloskeln schlich sich in die Prosa ein, von einem mystischen Auftrag war die Rede. Endlich wieder wahrgenommen zu sein, endlich wieder die Deutungshoheit erlangt zu haben in “den höchsten Angelegenheiten der Nation”, das war es, was Rudolf Borchardt mit Genugtuung erfüllte.
Allerdings hatte die Weltzertrümmerung ihren ästhetischen Reiz auch für die unzähligen Avantgarde-Bewegungen, die sich um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit stritten, und das nicht nur in Deutschland.
In Italien hatte Filippo Tommaso Marinetti mit seinem Manifest der Futuristen bereits 1909 zuvor “die Liebe zur Gefahr” besungen: “Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.”
Den Expressionisten konnte die Sprachzertrümmerung kaum weit genug gehen. Schon die Lyrik von August Stramm, dem Kriegsteilnehmer, hatte die Anmutung von Stoßfeuern und Schrapnellen, eine abgespeckte substantivierte Sprache, jede Färbung, jedes Adjektiv war abgeworfen wie überflüssiges Gepäck. Freudenhäuser waren ein beliebtes Sujet: “Lichte dirnen aus den Fenstern/ Die Seuche/ Spreitet an der Tür …”
Paradoxerweise feierten diese kriegsbegeisterten Avantgardisten all das, gegen das der kriegsbegeisterte Großbürger Thomas Mann anschrieb: Sie pflegten den Kult des Hässlichen, Kranken, Wahnsinnigen. Berühmt Jakob van Hoddis’ Gedicht “Weltende”:
“Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut/ In allen Lüften hallt es wie Geschrei/ Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei/ Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.”
Das war 1911, nun, im August 1914, waren sie kurzfristig alle zusammen, die Bürgerlichen und die Avantgardisten, die Seher und die Provokateure, einig in einer Mischung aus Angst und Überhebung, aus Faszination und Apokalypse-Erwartung. Raus aus den Salons und hinein in die Gefahr – ins wirkliche Leben.
Die Kriegsbegeisterung erfasste übrigens nicht nur Deutschland. In diesem Krieg sollte es nicht bloß um Deutungshoheit gehen, sondern um die Welthoheit der Kultur, und im “Völkerringen” wurde er quasi zur Fortsetzung der Olympischen Spiele mit kriegerischen Mitteln.
Lang hielt sich die Version, dass allein das Deutsche Reich darauf aus war, zum Schwert zu greifen. Mittlerweile sind sich die Historiker weitgehend einig, dass auch die Großmächte der “Entente” durchaus kriegswillig waren. Die geistige Aufrüstung gab es auch dort.
In Frankreich wurde der sozialistische Pazifist Jean Jaurès von einem Nationalisten erschossen, und lange vor Ernst Jünger war es der Brite Rudyard Kipling, der von der Mission des kriegführenden Empires erfüllt war, und in Gedichten wie “The White Man’s Burden” das Sendungsbewusstsein kolonialer Offiziere ausstaffierte.
Nun hatte er mit seiner Gedichtzeile “The hun is at the gate!” (Der Hunne steht vor dem Tor) die britische Kunstelite um sich geschart. In einem offenen Brief hatten sich 52 Schriftsteller im Herbst 1914 für den “Gerechten Krieg” gegen die Deutschen ausgesprochen.
Auf der anderen Seite zogen 93 prominente Vertreter des deutschen Geisteslebens mit ihrem Manifest “An die Kulturwelt!” für “Deutschlands reine Sache” in den Kampf, unter ihnen Max Reinhardt und Gerhart Hauptmann, Max Planck und Wilhelm Röntgen.
Hermann Hesse schien zu Beginn mitzutaumeln, auch er meldete sich freiwillig zum Kriegseinsatz. Kurz darauf aber engagierte er sich publizistisch gegen den erstarkten Nationalismus mit seinem Aufsatz: “O Freunde, nicht diese Töne”. Er erntete Hassbriefe, Attacken durch die Presse, seine Bücher wurden boykottiert.
Allerdings erwies er sich darin als weitsichtiger als sein enger und lebenslanger Freund und Bewunderer Thomas Mann. Der schrieb später zwar von “seines demokratischen Optimismus Maienblüte” während seiner Opposition gegen Hitler-Deutschland im amerikanischen Exil. Seiner Haltung im Ersten Weltkrieg wollte er aber nicht völlig abschwören.
Er fand sie “interessanter”. ■
Kriegsbeginn 1914. Alte, Frauen und Kinder jubeln den ausrückenden Regimentern zu, an den Bajonetten stecken Blumen. Bis heute ist das Bild dieses Augusts geprägt von jauchzenden Massen, hysterischer Begeisterung, einem Volk im Taumel. Das Gemälde einer kollektiven Kriegseuphorie bröckelt indes, seit Wissenschaftler belegten, dass die deutsche Befindlichkeit keineswegs so einheitlich war. Historische Quellen zeigen vielmehr “ein breites Spektrum von Reaktionen”, schreibt der Historiker Gerhard Hirschfeld – “von Ablehnung des Krieges über Fassungslosigkeit und Schock bis zu patriotischer Glut und Hysterie”. Insbesondere in ländlichen Regionen und im Arbeitermilieu dominierten “Besorgnis und Ernst, wenn es auch kaum oppositionellen Protest gab”, urteilt der Münchner Historiker Andreas Wirsching. Manche Veteranen, die den Krieg von 1870/71 erlebt hatten, ahnten, dass das, was vor den Kriegsteilnehmern lag, ungleich entsetzlicher werden würde als alles zuvor. Der Hurra-Patriotismus grassierte vor allem in den Metropolen, in Universitätskreisen und dem bürgerlich-nationalen, ja chauvinistischen Milieu.
Erschienen am 16.08.14 www.welt.de
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