Paulo Lins schreibt in seinem Roman über die schwarze Kultur des Buchmessen-Gastlandes Brasilien.
Natürlich ist es albern, über die Geburtsstunde des brasilianischen Sambas ausgerechnet in einem Sushi-Laden zu reden, aber bei Paulo Lins’ Freundin geht’s gerade nicht, und das “Sacrilegio” ist noch zu, hier, mittags im Regen in Rios Lapa-Viertel.
Immerhin, die Gegend stimmt. Dreistöckige Villen im Kolonialstil, schmiedeeiserne Balkone, ockerfarbener oder azurblauer Putz, blätternd, tropischer Verfall und am Ende der Straße die “Arcos da Lapa”, der alte Aquädukt, wo nachts der Samba lebt.
Paulo Lins ist das, was man hier bewundernd “um Negão” nennt, ein großer, stolzer Neger. In den vergangenen zehn Jahren sind die Tänzerhüften des 55-Jährigen vielleicht ein wenig bourgeoiser geworden, aber das Herzensbrecherlächeln ist das gleiche geblieben, seit seinem Erfolg “Cidade de Deus”, in dem er die “Stadt Gottes” erkundet hat, die Favela seiner Kindheit, den Drogenhandel, die Rituale der Macht, die Welt der achtjährigen Killer und der Militärsoldaten.
Der Roman war ein weltweiter Erfolg, erst recht nach seiner Oscar-nominierten Verfilmung, roher Stoff für die Akademie und das Kinopublikum, Amateurschauspieler, wackelnde Kamera, dokumentarische Nähe: Wirklichkeit und Zeitnähe! Den Plot und die Figuren hatte er buchstäblich auf der Straße aufgelesen, Lins, der Feldforscher.
Und dann verschwand Paulo Lins nach São Paulo, Gerüchten zufolge, weil er bedroht worden war von Gangstern, die sich bloßgestellt fühlten.
“Quatsch”, sagt Lins, “es war wegen einer ‘boceta’, einer Fotze”, und er lächelt. Sie hatten ein Kind miteinander, und als sie nach São Paulo zog, zog er hinterher. Sie sind nicht mehr zusammen. Und nein, bedroht oder bedrängt habe er sich immer nur durch missgünstige Kritiker gefühlt.
Schon damals, auf der Höhe seines Erfolgs, begann er mit den Arbeiten an seinem Roman “Seit der Samba Samba ist”, eine weitere Erkundung der Kindheit und über diese hinaus und weiter zurück, denn im Estácio-Viertel, wo er zur Welt kam, wurde auch der Samba geboren.
Samba war die Luft, die er atmete, waren die Kostüme zum Karneval, die Samba-Enredos, von denen er selbst einen komponierte, die Radioschlager, die Liebe und die Wehmut, der Samba war so allgegenwärtig wie der Tropenregen, der gerade seine Synkopen auf das Blechvordach des Restaurants klopft, padamm, padamm, paddaradamm.
In nur zwei Jahren schrieb er auf, was er wusste und recherchierte, das Manuskript schwoll auf 600 Seiten an, er schrieb daran in Berlin als DAAD-Stipendiat, die Stadt war toll, und siehe, sein Roman war schlecht. “Langweilig. Kompliziert. Alles andere als Samba.”
Fünf Jahre lang unterbrach er. Therapie, Schreibblockade, Arbeiten fürs Fernsehen. Dann strich er die Erzählerfigur, einen Anthropologen wie er, warf Ballast ab, und stürzte sich mit seinem Helden Brancura, dem Zuhälter, einer legendären Figur aus dem Estácio-Viertel, ins Straßengewirr seines Rotlichtviertels.
Sowenig wie “Die Stadt Gottes” nur ein Buch über Drogen ist, so wenig ist “Seit der Samba Samba ist” nur eines über Musik; beiden gemeinsam ist das Thema der Schwarzen in einer weiß dominierten Gesellschaft. Es erzählt mit seinen Gaunern und Überlebenskünstlern, den Huren und den Kultpriesterinnen auch vom latenten Rassismus in der vielbesungenen brasilianischen Vielvölkerfamilie, denn dass sie bis heute rassistisch ist, steht für Paulo Lins außer Zweifel.
Sein Thema ist die schwarze Identität, ihr Stolz und ihr Herz, ihr Blut, die Muskeln, der Kampf, das, was jenseits aller zerebralen Verrenkungen und akademischen Aufklärung liegt: die brasilianische Negritude.
Er erzählt aus den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, von Brancuras Geliebter Valdirene, der schönsten Nutte im Viertel, vom eifersüchtigen Portugiesen Sodré, von den jüdischen Mafiosi der “Zwi Migdal”, die Frauen aus Osteuropa importieren, vor allem aber von den Sambistas Silva und Bide aus der “Bar do Apolo”.
Eine Gaunergeschichte, sicher, aber auch eine Unterdrückergeschichte, denn zwar ist die Sklaverei abgeschafft, aber die Schwarzen sind nach wie vor auf der Verliererseite. Sagt Lins.
“Oder kennen Sie, außerhalb des Fußballs, einen prominenten Schwarzen?”
Aber weiß das nicht jeder, dass er schwarz ist, der Samba? Jeder, der mal in den Karnevalsnächten im Flitter- und Körperreigen des Sambódromo mitgetanzt – oder es versucht hat? Weiße können das nicht, basta. Ist das jetzt rassistisch?
“Nein, aber ich erzähle, dass Samba aus dem Widerstand geboren wurde, die Rhythmen, all diese erotischen Texte, die Musik, die aus dem Fado kommt, aber bis zum Siedepunkt beschleunigt wurde – das alles war in Rio verboten und eine Sache der schwarzen Unterschicht.”
Samba wurde als bedrohlich empfunden wie die Religion der Schwarzen, die Umbanda, dieser Synkretismus aus katholischer Heiligenverehrung und tanzender Geisterbeschwörung. Beide, die Religion und der Samba, entstanden fast gleichzeitig. Oder die Capoeira, diese Selbstverteidigungs- und Tanzkunst, die tatsächlich aus dem alltäglichen Kampf stammt.
Mit den Capoeira-Sprüngen verschafft sich Lins’ Held Brancura im Milieu Respekt, er säbelt sie alle mit seinen Beinen um.
Er ist der stolzeste Stecher im Revier. Sein Vater Rafael zerrt Brancura schon mit 15 ins Rotlichtviertel, aus Angst, dass er schwul wird. Wenn ein Junge mit 15 nicht zu einer Frau geht, so Rafaels Überzeugung, wird er schwul. Weil sonst das Gefummel mit den Freunden losgeht.
Kritiker nannten das Buch “drastisch”, weil es wohl auch eine drastische Eloge auf die schwule Liebe ist, von der hier allerdings so Pippi-Langstrumpf-mäßig erzählt wird, als hätte es Jean Genet oder Hubert Selby nie gegeben.
“Die meisten großen Sambistas waren schwul”, sagt Lins und lächelt, “wie übrigens auch Mário de Andrade, einer der Begründer des Modernismo, überfällig, dass das mal bekanntwird.”
Man merkt Lins’ Bilderbogen an, dass er beim Fernsehen gearbeitet hat. Bereits jetzt ist eine Verfilmung geplant. Die Figuren sind geradezu herausgestanzt, die Dialoge dienen oft nur dazu, die Handlung voranzubringen, Sprechblasendialoge, eigentlich ein großer Comic, das Ganze, aber einer mit Witz und voller Unschuld.
Man spürt dem Buch bisweilen die Heftigkeit an, mit der Paulo Lins seine eigenen Zweifel niedergekämpft hat, und auch die suboptimale Übersetzung besonders des Gaunerjargons hilft nicht. Lins hatte Zweifel daran, dass der historische Stoff “ein bisschen weit weg von den Straßen Rios im Jahre 2013” ist, wo sich die Kids über Facebook zu Demonstrationen verabreden.
Aber Lins’ Buch ist immerhin das: bunt erzählte Erinnerungskultur, auch für die eigenen Leute, einer muss es ja schließlich machen: den Samba dahin zurückholen, wo er herkam.
“Wie war ich?”, fragt er am Ende unseres Gesprächs, als wir auf die Straße treten.
“Völlig okay!”
“Mehr nicht?”
Er holt theatralisch Luft, doch dann kehrt sein Herzensbrecherlächeln zurück.
Hier unten auf der Straße im Viertel Lapa kennt jeder Paulo Lins, sie rufen und grüßen. “Gestern”, schreit einer, “haben die Militärpolizisten bei den Protesten sechs Kids getötet.” Tatsächlich war es wohl eher eine Schießerei mit Drogenmafiosi.
Gegenüber auf einer Hauswand ein Wandgemälde mit den schwarzen legendären Sambistas, feuerrot sind Graffiti der jugendlichen Protestler drübergesprüht, Ablagerungen und Schichten des Widerstands in diesem Brasilien des ständigen Aufbruchs.
Samstags abends, so viel ist sicher, lebt hier, unter dem Aquädukt in Lapa, wieder Brancuras Welt auf. Dann kämpfen Capoeira-Tänzer im Schein von Fackeln, Transvestiten und Hütchenspieler stehen zwischen gegrilltem Fleisch und Bier, die Mulatos und die Morenas und die ganze Farbpalette der brasilianischen Einwanderergesellschaft, die Schnapsverkäufer, die Rauschverkäufer, die Feuerschlucker für die Touristen mit den Taschendieben im Schlepptau – und das ewige Tamtatam der Samba-Trommeln in der tropischen Nacht.
Erschienen am 07.10.2013 im DER SPIEGEL 41/2013
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