Zum Tod meines Freundes John le Carré habe ich ein Porträt herausgekramt, das ich zu seinem 75.Geburtstag geschrieben hatte. Ich habe es hinten angehängt.

 

Wir waren einander sehr zugetan. Für ihn war es fast eine Art Mission, mit mir als deutschem Journalisten in London, und mit meinem Bruder, dem deutschen Botschafter in London in jenen Tagen, befreundet zu sein. Er wollte seine Landsleute für Deutschland und die deutsche Sprache interessieren, die er so liebte. Man könnte fast von einer Art Versöhnungswerk reden, denn wir Deutschen bekamen ständig die Pickelhauben-Vergangenheit um die Ohren gehauen, also mehr oder weniger lustige Stereo-Typen.

Er half mir in meiner Korrespondenten-Zeit in London und brachte mich mit den interessantesten Gästen zusammen in seinem Haus in Hamstead. Etwa mit Tim Sebastian aus der von mir geliebten bösartig-intelligenten Interviewsendung „Hard Talk“, einem unfassbar arroganten Scheißkerl, oder mit dem so lustigen und witzigen und selbstironischen Ralph Fiennes, der in der Oscar-nominierten wundervollen Verfilmung seines Romans „Der ewige Gärtner“ die Hauptrolle spielte.

Er brachte meinem Sohn auf einem Landsitz in Cornwall das Croquet-Spielen bei und verlor anschließend mit Würde gegen ihn und seine Frau kochte wundervoll für uns.

Wir hielten Kontakt auch noch, als ich dann als Kulturchef des Spiegel nach Hamburg gewechselt war. Er besuchte uns dort und zeigte uns, wo er, im britischen Konsulat Anfang der 60er Jahre, an seinem Welterfolg „Der Spion, der aus der Kälte kam“ geschrieben hatte.

Ich hatte mal ein Essen für ihn ausgerichtet, da saßen also ein sehr berühmter Fernsehmoderator, ein Schweizer Chefredakteur und andere mit eben diesem sehr britischen und aus Höflichkeit deutsch radebrechenden Thriller-Autor zusammen, und der sehr berühmte TV-Moderator mit seiner neuen Gefährtin schien relativ desinteressiert an ihm und erzählte über – seinen Skiurlaub, den dämlichen, und ich kochte innerlich, denn John le Carré erörterte gerade sehr spannends, worin die Dummheiten des MI6 und die geheimdienstlichen Fehler des Mossad im Nahen Osten bestanden, aus seiner Sicht, der des Praktikers, und ständig kam dieser Moderator mit seinen schwarzen und roten Pisten und der Gastronomie dazwischen.

Aber David, so hieß er ja eigentlich, David Cornwell, das „Carré“ hatte er sich zugelegt, weil ein Carré beim Roulette die Schnittstelle aus vier Feldern bezeichnet und die Chancen auf einen Gewinn erhöht, Klarnamen sind ein no go in der Welt der Spione…David also saß höflich lächelnd dabei und ließ sich seine Langeweile nicht anmerken.

Schließlich fanden wir ein Thema, das alle interessierte: Das gerade frische Bekenntnis von Günther Grass, dem Gewissen der Nation, dass er als Halbwüchsiger in die Waffen-SS eingetreten war.

David liebte die Deutschen und meinte, sie seien vorbildlich mit ihrer historischen Schuld umgegangen, denn das steht ja oft im Raum, wenn Briten und Deutsche aufeinandertreffen, David redete dann eher über die Sünden der britischen Kolonialherrschaft und er gehörte ganz sicher nicht zu denen, die Tony Blairs „Cool Britannia“ cool fanden Anfang der Nuller-Jahre, als ich Korrespondent in London war.

Er konnte Blair, den er für einen Blender hielt, ziemlich gut nachmachen in seiner verschusselt-pathetischen Manier, mit der der Premier die Öffentlichkeit für sich einzunehmen verstand.

An jenem Abend bei uns zuhause erzählte David von den Filmarbeiten für den „Spion…“, in Dublin, weil Richard Burton aus steuerlichen Gründen dort drehen wollte, und wie sie die Straßen mit Wasser besprengt hatten um sie glänzen zu lassen in dieser Schwarz-Weiß-Produktion, und wie abends Liz Taylor in ihrem weißen Bentley vorbeischaute wie eine Göttin aus einem anderen Universum unter dem Gejohle der Nachbarschaft dieser Arbeitergegend, sie hatten tatsächlich Ost-Berlin in Dublin nachempfunden, und es klappte, und natürlich trank Burton jeden aus der Crew unter den Tisch.

Georg Smiley blieb in dieser Ost-West-Märtyrer-Geschichte im Hintergrund, doch als er dann zur Hauptfigur wurde in „Dame, König, As, Spion“, hatte er in der ausdruckslosen Mine von Alec Guiness die gültige Maske gefunden, dort und in weiteren BBC-Produktionen, so dass es David unmöglich war, Smileys Duell mit Karla, dem Dienstchef auf der sowjetischen Seite unbefangen weiterzuschreiben.

Sicher, er tauchte noch öfter auf und einmal mehr noch in einer späten Rückschau, aber das Spionage-Genre war ohnehin nur das Terrain, in dem der Romancier John le Carré die menschliche Komödie auslotete wie das Paris, das sich Balzac nutzbar machte, um über Ehrgeiz und Liebe, Leben und Tod, Ruhmsucht und Verrat, ja über den Verrat als Bestandteil der Liebe zu schreiben. Und so öffneten sich seine Romane in den Kaukasus (“Unser Spiel”) oder nach Mittelamerika (“Der Schneider von Panama”), sie recherchieren den Waffen- und Drogenhandel (“Der Nacht-Manager”), sie kommentieren den Nahost-Konflikt (“Die Libelle”), die deutschen sechziger Jahre (“Eine kleine Stadt in Deutschland”) oder die Perestroika (“Das Rußlandhaus”).

John le Carrés Thema längst nicht nur der Geheimdienst war, sondern der Schmutz hinter dem Pomp der Gipfeltreffen und der Scherz hinter dem Siegerlächeln.

Mit seiner Autobiografie („Der Taubentunnel“) hatte er schließlich auch den Thriller seiner eigenen Kindheit zu Papier gebracht, eine Geschichte ohne Mutter, aber über den Vater, den Hochstapler, der für die berüchtigten Kray-Brüder gearbeitet hatte.

„Er hatte sich tatsächlich für mich ausgegeben“, erzählte er mir, „und er hat Bücher mit meinem Namen signiert, um sie zu verhökern“; kopfschüttelnd erzählte er davon, angewidert, aber mit einem Blitzen in den Augen, wie eine Art Anerkennung für die Chuzpe dieses Spielers – der als Agent George Smiley alle Ehre gemacht hätte.

 

Erzählen auf Leben und Tod

Matthias Matussek über John le Carré zu seinem 75.Geburtstag

Dieser Sommertag in London ist heiter und unschuldig und verrät noch kein bisschen, dass er sich mit einer Attentatsdrohung und Tausenden Gestrandeten am Flughafen Heathrow später in einen brauchbaren Thriller-Anfang verwandeln wird.

Es ist ein Tag für Profis wie John le Carré.

Es gibt jede Menge John-le-Carré-Tage in letzter Zeit.

Unwahrscheinlich gerade steht er in der Tür, stahlblaue Augen unter buschigen weißen Brauen, kaum Dichter, eher wie ein pensionierter Offizier, der noch einmal zu den Waffen gerufen wurde.

Seine Stimme klingt mühsam beherrscht, und sie macht gleich klar, dass es an diesem Tage Wichtigeres gibt für ihn, als über sein Gesamtwerk zu meditieren oder über seinen Weltruhm und den bevorstehenden 75. Geburtstag, Wichtigeres sogar als seinen jüngsten Roman.

Das hier: der Text für Madame Ghoussoub in Beirut.

“Das Verlagsgebäude ist zwar gestern in Schutt und Asche gebombt worden”, sagt er, “aber ich dachte, ich mache ihn trotzdem fertig.” Es handelt sich nur um ein kleines Vorwort zu einem schmalen Büchlein, doch es könnte vier Leute überzeugen und drei andere widerlegen und insgesamt einen knappen Sieg für die Vernunft erzielen.

Kostbare Siege in diesen Tagen, und, das ist wichtig, er erzielt sie auf die altmodische Art: John le Carré verlässt sich nicht auf die Wucht seines Namens, sondern auf seine Argumente.

Die Gefechtslage ist unübersichtlich, aber es gibt einige unumstößliche Erkenntnisse: Die neue Weltordnung ist nicht mehr kalt und berechenbar, sondern eine des heiligen Zorns, in der ständig die falschen Entscheidungen getroffen werden, und zwar von eitlen Politikern, ausgerasteten Militärs, stümperhaften Geheimdiensten.

“Was ist in Ihren Augen der größte Fehler des Mossad?”

“Sie haben keine Agenten am Boden. Und nach dem Bombardement wird es noch schwieriger sein, welche zu platzieren. Jetzt gibt es kaum noch Chancen, zu infiltrieren und Leute zu rekrutieren.”

Gute Aufklärung ist wichtiger als je zuvor, doch sie ist zur Mangelware geworden.

“Wir, vor allem aber die Amerikaner führen mittlerweile einen komplett virtuellen Krieg. Er wird in Büros mit Aircondition und unterirdischen Kellern konzipiert, ohne jeden Kontakt mit der Wirklichkeit. So erfindet man sich genau den Feind, den man braucht.”

John le Carré kennt sich aus in diesen Kellern, und die hoffnungslose Pointe ist die, dass er dort gelesen wird. Gerade enthüllte die Kolumnistin Maureen Dowd in der “International Herald Tribune”, wie ihr George W. Bush einst verriet, dass er sich nicht viel aus Büchern mache, aber die von diesem “John La Care, Le Carrier oder wie immer man den ausspricht” seien ziemlich gut.

“Er ist der perfekte Beweis, dass Worte auf taube Ohren fallen können”, sagt le Carré. Man kann sich die Leute nicht aussuchen, von denen man missverstanden wird, auch der eine oder andere Diktator ist unter seinen Lesern. Allerdings: Wer kann sich dem Sog schon widersetzen, den seine Thriller erzeugen, mit diesen Schattenwelten, in denen seine angeschlagenen Helden, all die Spione, Maulwürfe, Con Men, um ihr Leben kämpfen und um Reste von Moral. Seit er mit “Der Spion, der aus der Kälte kam” 1963 den Polit-Thriller neu erfand, beschreibt er sie.

Sein neuester Roman spielt in Afrika, eine weitere meisterhafte Schachpartie, die im Schlamassel endet, weil sie von denen, die sie aufgestellt haben, längst nicht mehr überblickt wird*. Und nachdem le Carré die Argumente für Madame Ghoussoub in Beirut noch einmal ausgiebig diskutiert hat, wendet er sich endlich diesem neuen Schauplatz zu.

“Geheime Melodie” ist das Satyrspiel auf die Kenia-Tragödie seines Romans “Der ewige Gärtner” aus dem Jahr 2000, der die Machenschaften eines Pharmaunternehmens anprangerte. “Geheime Melodie” ist komisch zum Umfallen und sein

Held Bruno Salvador unwiderstehlich. Er ist das Kind eines kongolesischen Dorfmädchens und eines gestrandeten irischen Missionars, eines jener gefallenen Gauner Gottes, die sonst die Romane Graham Greenes bevölkern.

Er ist ein Mischwesen, halb schwarz, halb weiß, ein Brückenmensch, er gleitet fließend von einer Sprache in die andere, sozusagen der geborene Dolmetscher. Salvador ist der Migrant, das Anpassungsgenie, der Held der neuen Zeit.

Salvo, wie er genannt wird, liebt englischen Tee, den Regen, die Queen, und, nun ja, er ist verheiratet mit Penelope, der emanzipierten, karrieregeilen Society-Journalistin, deren Seele ein Mülleimer ist. Und dann läuft ihm Hannah über den Weg, die Krankenschwester aus dem Kongo, und neben der ganz großen PolitPosse aus korrupten Oberhaus-Abgeordneten, versauten Medienleuten, Söldnern und afrikanischen Häuptlingen läuft dieses zartere Verwirrspiel ab, diese grundsätzlichere Identitätserschütterung.

“Geheime Melodie” ist die Geschichte einer inneren Heimkehr und daneben eine große, vielstimmige Symphonie des Verrats: Jeder verrät hier jeden, die Eltern, die Freunde, die Partner, die Politiker sowieso und schließlich die Nation.

Von seinem ersten Roman an, vor 45 Jahren, hat kein zeitgenössischer Autor dem menschlichen Herzen, diesem elastischen Muskel, so viele Nuancen des Verrats abgelauscht wie John le Carré. “Wo Liebe ist”, heißt es bei ihm, “gibt es Verrat.”

Er bereiste den Kongo erst, nachdem er den Großteil des Romans geschrieben hatte. Doch dann fand er tatsächlich all die Figuren, die bei ihm bereits durch die Seiten spazierten, den Colonel der Mai-Mai-Krieger, den Vertreter der Banyamulenge, den Dandy Haj, die demoralisierte Blauhelm-Truppe, die die Landebahn bewacht.

“Worauf ich nicht vorbereitet war, das waren die Augen der Jungs an den Grenzposten. In Syrien, im Libanon hatte ich immer den Eindruck, ich könnte sie irgendwie erreichen, im Zweifelsfalle erweichen. Hier nicht. Hier starren dich völlig kalte, tote Augen an.” Er spricht nicht erschrocken über diese Augen, sondern nachdenklich: über die Augen und über die Finsternis, die sich in ihnen ausdrückte. “Das wird das nächste große Schlachtfeld sein.”

“Sind Sie ein verbitterter alter Mann?”

“Ach was, ich bin ungefähr 17, und ich führe mich manchmal immer noch auf wie ein wirrköpfiger Schuljunge. Ich fahre in den Kongo, um in tote Augen zu starren. Vielleicht sollte ich so was nicht mehr tun.”

“Mit 75 müssten Sie doch darauf antworten können, also: Was ist der Sinn des Lebens?”

“Ist doch klar: 42.”

Das ist die Antwort, die der Super-Computer in dem Kultroman “Per Anhalter durch die Galaxis” auf die Frage aller Fragen gibt. Einer seiner Söhne hat ihm die Pointe erzählt. Sie gefiel ihm.

“Was wird es an offiziellen Banketten und Reden geben?”

“Nichts. Mein Verleger hatte zum 70. ein großes Dinner ausgerichtet, und das ist doch erst fünf Minuten her.”

Publicity gehört nicht zu den Dingen, die er erstrebenswert findet: “Ich kann immer noch unerkannt Bus fahren.”

Nicht nur das. Selbst beim Spaziergang bleibt er unbehelligt, und es ist auf einmal schön, mit ihm hinauszutreten in die freundliche Helligkeit von Hampstead, mit all den Anekdoten über Alfred Brendel oder Joseph Brodsky oder andere Nachbarn, und dem Bild zu entkommen, das ihm sein deutscher Malerfreund Karl Weschke über die Couch des dunklen Wohnzimmers gehängt hat.

Es ist ein melancholisches Bild. Eine rätselhafte weiße Figur, ganz allein, fast abstrakt, die sich in einem gestaltlosen braunen Horizont auflöst.

Einige Wochen später ist John le Carré in Hamburg. Er ist mit dem Zug gekommen, zwölf Stunden über Paris, er fährt nur noch mit dem Zug seit dem Bombenalarm in Heathrow, der Luftverkehr ist ihm zu gefährlich geworden.

Kurz nach seiner Ankunft wird der Hamburger Hauptbahnhof abgeriegelt. Wegen Bombenalarms. Eine hübsche Le-Carré-Pointe.

Er steht im Foyer des Atlantic-Hotels in der gewohnten kerzengeraden Offiziershaltung. Cordjackett, offenes weißes Hemd. Im Arm trägt er Blumen für die Gastgeberin des Essens, das für ihn gegeben wird. Ein Spaziergang an der Alster entlang, durch die kühle Hamburger Dämmerung, wir reden Deutsch, er will trainieren für ein seltenes TV-Interview, das er auf Deutsch absolvieren will.

In der Ferne am anderen Ufer leuchten die blauen Neontore, die von der WM stehengeblieben sind. “Wie sehr sich das Land geändert hat”, sagt er. “Es ist leicht geworden.”

Er war Vizekonsul hier in Hamburg, damals, als ihn die Reporter von “Life” aufstöberten, nachdem sie herausgekriegt hatten, dass der Diplomat David Cornwell sich hinter dem Autor des Sensationsromans “Der Spion, der aus der Kälte kam” verbarg.

Das Pseudonym “le Carré” hatte er sich aus dem Roulette entlehnt: Spieler, die ihren Chip in den Schnittpunkt von vier Zahlen platzieren, legen ein Carré. Das Leben ist ein Spiel und die Wahrheit eine Inszenierung, wer wüsste das besser als Journalisten: “Sie hatten mir fürs Foto einen Agentenschlapphut mitgebracht. Ich fand es einleuchtend. Man muss der Wahrheit manchmal nachhelfen, damit sie überzeugt.”

Wie im Fieber hatte le Carré sein geniales Werk – “diesen besten Spionageroman aller Zeiten”, wie ihn Graham Greene nannte – in wenigen Wochen heruntergehämmert, 150 000 Wörter, die er auf jene 55 000 herunterkürzte, von denen er wusste, dass sie gut waren – jeder Satz eine Zündung, jeder Dialog ein glänzender Fight, ein Tanz versehrter Seelen.

Der Roman war das Signet der Epoche. Nie wieder ist die Mauer eindringlicher literarisiert worden. Der Opfertod des verratenen Agenten Leamas: ein beklemmendes Passionsspiel des Kalten Krieges.

Während die Bäume am Ufer ihre Farbe verlieren und die Welt schwarzweiß wird, erzählt le Carré, wie sie die Berliner Mauer mitten in Dublin aufgebaut hatten, weil Richard Burton aus steuerlichen Gründen in Irland drehen wollte.

“Der Erfolg kam zu früh”, sagt er. “Ich hätte gern noch ein wenig Leben verplempert, Erfahrungen gemacht.” Seine Ehe war zerrüttet. Er trank. Er mochte sich nicht.

“Wahrscheinlich war es mein schlechtestes Jahrzehnt.”

Und das beste? “Das jetzige. Man ist all diese irrationalen Leidenschaften los und kann sich auf das Wesentliche konzentrieren.”

Ob die Guten gewonnen, die Bösen verloren haben? Er ist sich nicht mehr so sicher. Sicher genug allerdings, um Treffen mit Markus Wolf, die alle Welt nach dem Mauerfall arrangieren wollte, auszuschlagen. “Er hatte Blut an den Händen. Er konnte jeden Studenten, jede Sekretärin mit Zuchthaus bedrohen. Wir dagegen hatten nichts als unsere Überredungskunst.”

“Welche Waffe würden Sie wählen, wenn Sie jetzt eine brauchten?”

“Keine Waffe. Ein bisschen Kleingeld und Grips, das genügt.”

“Ihre beeindruckendste Begegnung?”

“Die mit Sacharow 1988 in Moskau.”

“Ihre größte Enttäuschung?”

“Meine Bücher.”

Eine ziemlich überraschende Antwort. In seinem Gesicht liegt keine Spur von Ironie. “Jeder Schriftsteller empfindet wohl, dass die Ausführung seiner Bücher hinter dem erträumten Niveau zurückbleibt, da gibt es größere, Balzac zum Beispiel oder Zola, das ist Literatur.”

Womit der Moment gekommen wäre, dem Schriftsteller gegen den Kritiker John le Carré zur Seite zu stehen. Was Paris für Balzac war, ist der Geheimdienst für le Carré: Er spiegelt die Totalität des Lebens mit all seinen Triumphen und Niederlagen. Und mit dem melancholischen Agentenführer Georg Smiley hat er – in insgesamt fünf seiner Romane – die Jahrhundertfigur des kultivierten Bürokraten, des enttäuschten Humanisten, kurz: des Angestellten im politischen Großbetrieb geschaffen.

Als Clintons stellvertretender Außenminister Strobe Talbott den russischen Premier Jewgenij Primakow einst fragte, welche seine Lieblingsfigur in den Romanen le Carrés sei, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen: Smiley.

Le Carrés Romane überzeugen wie die von Balzac, sie klagen an wie die von Zola, aber sie predigen nicht. Sie addieren sich zu einem einzigen großen humanistischen Plädoyer – der Nobelpreis ist für weit geringere Werke vergeben worden, und das schließt deutschsprachige mit ein.

Während des Essens, zu dem sich ein TV-Moderator und ein Chefredakteur und ein Literaturredakteur eingefunden haben, kommt die Rede naturgemäß auf Günter Grass, dessen Waffen-SS-Enthüllung gerade ein paar Tage zurückliegt. Warum jetzt, fragen sich alle, warum so spät? John le Carré hat eher technische Einwände: Die Anzahl der von Grass vorgebrachten Erklärungen ist zu groß. “Man kennt das doch aus der Schule: Man darf nicht drei schwache Entschuldigungen hintereinander anführen, sondern nur eine einzige, und bei der muss man bleiben, bis zum Umfallen.”

Es sei ihm, sagt er, ein Rätsel, warum die Deutschen so viel Wert auf das legen, was Schriftsteller außerhalb ihrer Bücher sagen. In England verlange man von ihnen, dass sie unterhalten. Die Deutschen wollten von ihnen wissen, wie sie leben sollen. “Wir sind doch nur Geschichtenerzähler.”

Und dann sprudeln die Geschichten und Anekdoten und ihre Figuren, samt Akzenten und Tonfällen: Prinz Philipp, Sacharow, der lateinamerikanische Diktator, Tony Blair, der Entführer des Schoßhündchens von Liz Taylor …

Auf dem Rückweg ins Hotel die Frage: Wenn er alle Helden seiner 20 Romane an einer großen Tafel versammeln würde, was würde passieren? “Es würde hoch hergehen, ganz sicher, und Smiley würde vermitteln.” Nach einer Pause: “Am lautesten wäre zweifellos Ronnie.”

Ronnie, sein Vater. In “Ein blendender Spion” hat er ihm ein Denkmal gesetzt, in “Single & Single” erneut. Ronnie, der Hochstapler und Schwadroneur, er war alles für John le Carré, denn die Mutter war früh mit einem anderen durchgebrannt. Sie verschwand und verblasste wie die weiße Figur auf Weschkes Gemälde. John le Carré lernte früh lügen, wenn sein Vater wieder mal im Knast saß. Er lernte, Geschichten zu erzählen, Identitäten zu erfinden, er lernte täuschen. “Ich war schon als Internatszögling ein perfekter Spion.” Deutsch sprach er bereits als Teenager fließend.

“Irgendwas muss Ihr Vater ja doch richtig gemacht haben.”

“Irgendwas macht jeder richtig.”

Eine ganze Weile hatte sein Vater aus dem Ruhm seines Sohnes Kapital geschlagen: Er signierte dessen Bücher mit einem schwungvollen “Ron le Carré”. Damen wurden schwach. Eine ihm Unbekannte bedankte sich bei John le Carré lyrisch für eine gemeinsame stürmische Liebesnacht in Italien.

Er ist längst tot, und John le Carré hat ihn verwunden, indem er ihn in eine Fiktion verwandelte, immer und immer wieder, denn das ist die Waffe, die der Schriftsteller tatsächlich hat: Er literarisiert seine Demütigungen und verwandelt sie in Siege. Er erzählt Geschichten. Das ist es, was der Junge Salvo im neuen Roman tut, und das ist die geheime Melodie des Lebens des Menschen David Cornwell: erzählen.

“Ich habe stets um mein Leben erzählt”, sagt er zum Abschied vor dem Atlantic. “Die Welt rettet man nicht dadurch, aber es vertreibt die Einsamkeit.” Dann verbeugt er sich leicht, wie ein pensionierter Offizier, und lächelt verbindlich und verschwindet im hellerleuchteten Foyer des Atlantic und verliert sich dort, unscheinbar, einer unter vielen.

John le Carré. Eines ist sicher: Die beste seiner Erfindungen ist er selbst.