Ein blonder nordischer Riese hat die Bühne des Weltfußballs betreten, um den Sport auf immer zu verändern.

Er hat die Ära der Titanen eröffnet. Er hat das Interesse am Zauberzwerg Messi oder am Schönheitsgott Ronaldo über Nacht weggewischt und eine ganz neue Ansage gemacht: Willkommen in der Welt der action-Figuren.

Auftritt Erling Braut Haaland. Der heißt tatsächlich so und kommt aus einem Nest in Norwegen.

Wann das alles passiert ist, wann er die Manager-Träume  der Weltvereine feucht werden ließ, lässt sich nicht genau datieren. War es bereits in seinen Einsätzen für Red Bull Salzburg, wo er 18 Tore in 17 Spielen lieferte?

Zumindest dort war bereits ein Rumoren spürbar, ein leichtes Zittern im Boden.

War es bei seiner deutschen Offenbarung, seiner ersten Einwechselung in die Bundesliga, als er seinem Team Borussia Dortmund, das gegen Augsburg zurücklag, mit drei Toren, einem klassischen Hattrick, die Blamage einer Niederlage ersparte? Oder waren es die torhungrigen und beutesatten Panther-Jagden übers Feld in den nächsten Spielen und all die weiteren Hattricks?

War es sein Granateneinschlag in der Champions-League zum 2:1 gegen Paris St. Germain, als er die Superstars Neymar und Mbappe wie Kabinenpersonal aussehen ließ? Oder war es das für einen 2-Meter-Mann ungewöhnliche (und torvorbereitende) Dribbling in der CL gegen Sevilla?

Vielleicht war es aber doch jetzt jüngst der Seitfall-Rückzieher im Derby gegen Schalke, eine Akrobatennummer, die sich normalerweise sehr viel kleinere und leichtere Spaßfußballer leisten – aber diesen Riesen in Flughöhe zu sehen, und wir sprechen hier nicht von einer Cessna, sondern einem Jumbo, war einzigartig.

Die Morphologie ist wichtig. Er lag dort in der Luft wie zwei Meter Stahl, wie „Ironman“ oder eines der Mischwesen aus den „Transformer“-Filmen. Und er schloss so wuchtig ab, als hätte der Gott Thor den Hammer geschwungen.

In seinem Interviewbuch „Die Titanen kommen“ spricht Ernst Jünger, angeregt durch eine Hölderlin-Zeile, vom heraufdämmernden Zeitalter der Titanen. Hier war es für einen Moment sichtbar.

Haalands Berater Mino Raiola, der, wie alle schurkischen Spielervermittler in diesen Aufführungen, rollengerecht eine dunkle Sonnebrille in einem erwartbar feisten Gesicht trägt, trat kurz darauf vor die Presse und verkündete, dass sich nur wenige Vereine dieses Tor-Monster Erling Haaland würden leisten können.

So rein finanziell jetzt.

Der Bieterwettbewerb hat schon jetzt einen Eintrittspreis von 100 Millionen, so will es seine Ausstiegsklausel, und der Junge ist gerade zwanzig geworden. Im Dezember wurde er auf 176, 2 Millionen geschätzt, dabei ist er noch längst nicht ausgereift. Sein rechter Schuss ist entwicklungsfähig, auch im Kopfball kann er zulegen.

Was für ein Strahlen dieser Kerl hat. Ein Riese mit Schlauchboot-Lippen, um die ihn jede Influencerin oder Spielerfrau beneiden müsste. Kleiner kopf, riesentorso, beine wie Baumstämme. Die Haare nass zurückgekämmt wie die Kriegsheimkehrer-Fußballer der 50er Jahre. Pubertätspickel. Kampfgewicht 88 Kg bei einer Größe von 194cm. Spitzengeschwindigkleit 35 km/h.

Er liest das Spiel wie kein zweiter, läuft zuverlässig dort in den Strafraum, wo es um Tore geht. Und er scheut sich nicht, eine Minute vor Schluss (mit einem komfortablen Vier-Tore-Vorsprung einen 80m Sprint zurück zur Verteidigung hinzulegen, weil es da brennt. Sein Jubel: Pures Kinderglück. Niederlagen? Er schüttelt sie ab und konzentriert sich aufs nächste Spiel.

Dass Oliver Kahn tatsächlich Titan genannt wurde, nur weil er mal einen gegnerischen Spieler ins Gesicht biss, ist ein Missverständnis. Schon phänomenologisch. Gegen den Hünen Haaland ist Kahn ein verbissener bayrischer Wurzelzwerg.

Siegeswillen? Ja, den hatte er. Aber es ist diese sonnige unbesorgtheit, diese mentale Robustheit, die seine Mitspieler, seine Coaches an Erling Haaland rühmen – ein Motivationsbündel.

Man könnte aus diesem nimmermüden ehrgeizigen hoffnungsvollen blonden Helden, diesem Parzival, leicht eine beklemmende analytische Konstellation zaubern.

Sein Vater Alf-Inve, der Profi, war seit frühster Kindheit leuchtendes Vorbild. Erlands Ziel: Ihn zu schlagen, besser zu werden als er.

„Das hat er bereits erreicht – in mancher Hinsicht“, sagt Alf-Inge Haaland in einem Filmporträt der deutschen Welle mit eher versteinertem Gesicht. Er habe ihm eingebläut, den Mitspielern Respekt entgegen zu bringen, denn „ohne sie läuft nichts“.

Eine bitter gelernte Lektion zu Grausamkeit des Sports und seinen Untiefen. Er hatte einst in einem Spiel die Manchester United Ikone Roy Keane gefoult. Jahe später kam es zu einem erneuten Zu8ammentreffen und Keane trat ihn kaputt: In seiner Autobiografie bekannte er: „…Ich habe lang genug gewartet. Ich habe ihn verflucht hart getroffen. Der Ball war da (glaube ich). Nimm das, du Schwein. Und steh niemals mehr über mir und spotte über gefakte Verletzungen.“

Der Götterjüngling Erling wuchs auf im 12 000 Seelen Kaff Bryne an der norwegischen Westküste, zwei Stunden nördlich vom pittoresken Anglerparadies Farsund. Ein paar Straßen, eine Tankstelle,  eine Schule, ein Verein, für den schon Papa spielte. Er soll sich bereits im Alter von fünf Jahren selber dort vorgestellt haben.

Sein Coach ließ ihn bereits mit 15 in die erste Mannschaft. „Da hat er gelernt, sich durchzusetzen.“

Kurz darauf verschlug es die Familie nach Molde, weiter nach Norden, zu jenem Club, der soeben den Bundesligisten Bayer Leverkusen aus dem Europa-Pokal-Wettbewerb schmiss. Molde besitzt ein wundervolles Stadion am Wasser und eine Küchenzeile auf der Tribüne mit Panorama-Fenstern.

Davor, am Herd, steht die Köchin Turbjorg, die von den Spielern nur Tante genannt wird. Eine patente pausbäckige Frau, die schnell mitbekam, dass der junge Erling immer Hunger hatte. Sein Kumpel Erik, mit dem er in einem Rapsong herumalberte, der selbstverständlich viral ging, drückt es anders aus: “Er fraß wie ein Pferd“.

Tante also sah ihren Erling durchs Küchenfenster Tore am Fließband schießen, während sie ihre Avocado-Taschen zubereitete oder Fleischbällchen, seine Lieblingsspeise, und sie fütterte ihren Liebling und fütterte und innerhalb von zwei Jahren legte der kleine Dünne 17 Zentimeter zu, eine Art Herakles, nachdem er die Göttermutter Hera leergesaugt hatte.

Ihren schönsten Erfolg feiert Tante, als Erling Haland gegen den FC Brann innerhalb von 17 Minuten 4 Tore schoss. Das wäre schön ein Äquivalent zumn mythischen Ausmisten der Augias-Ställe. Sein Coach: „Die in Brann sind immer noch seekrank.“

Tante dachte sich wahrscheinlich: Das Geheimnis der Fleischbällchen! Sie vermisst ihn und drückt vor der Kamera eine Träne in den Handrücken. Wer weiß, ob er in Dortmund gut zu Essen kriegt – allerdings, so lässt Erling von dort verlauten, verdrückt er mittlerweile Wiener Schnitzel am Fließband, offenbar eine neue Dortmunder Spezialität.

Wer Haaland auf dem Platz sieht oder in den mittlerweile  viralen Youtube-Videos, sieht vor allem eines: eine grenzenlose Lust am Leben, am Fußball, an der Kameradschaft. Und ein Lachen, das an einen ganz anderen Typ auf einem ganz anderen Erdteil genau 60 Jahre früher erinnert: an den tatsächlich besten Torschützen aller Zeiten, an Pelé.

Um zu ermessen, wie sehr mit Erling Haaland im Moment ein neuer Protoyp den Weltfußball erobert, sollte man sich die soeben produzierte Netflix-Dokumentation über Pele anschauen, über den jungen Barfußkicker und Schuhputzer, der ebenfalls mit 17 Nationalspieler wurde (und gleich, 1958, seine erste WM gewann) und der lange als bester Spieler aller Zeiten galt und der immer noch mit 1281 Toren in 13673 Spielen den Tor-Rekord hält.

Allerdings ist Pelé ein anderes Zeitalter, ein anderer Sport. Eines ist gleich: auch Pelé wollte der Beste sein.

Was ein Refrain Haalands ist: Er will der beste Spieler der Welt werden. Wahrscheinlich hat er von Pelé gehört, doch seine Messlatten sind zeitgenössisch. Er bewundert Mbappe, den Sturmpfeil von Paris St.Germain – und will ihn überflügeln. Sein Jugend-Trainer: „Ihn konnte man nicht kreieren – er hatte bereits alles, seinen Torhunger, sein Stellungsspiel, seinen Instinkt.“

Sein Trainer in Molde: „Er hat eigentlich keine Interessen, außer Fussball.“

Nach Molde also kam die knapp einjährige Salzburger Zwischenstation, für den er Meisterschaft und Pokal holte und in der Championsleague der drittjüngste Spieler mit einem Hattrick war. 2020 schließlich gab er Juventus, Mailand und Madrid einen Korb und wechselte nach Dortmund.

Seither belebt er die bisweilen vor sich dahintrottende schwarzgelbe und oft trottelige Truppe wie ein Schuss in den Arm. Das Verjüngungsprogramm des Vereins mit Jadon Sancho (20), Giovanni Reyna (18), Youssoufa Moukoko (16) erhält durch Erling Haaland Glanz und Gewicht.

Derzeit kämpft der Club nach Trainerwechsel und Leistungsabfall um die Teilnahme an der Championsleague. Es ist auch ein Kampf um Erling Haaland, der wahrscheinlich weiterziehen wird, torhungrig, trophäenhungrig, sollte das Team dieses Ziel verfehlen.

Erling Haaland ist die neue Zeit. Er wird sich nicht, wie Pelé, ein Leben lang an einen Verein binden. Ja, wer Pele in dieser Netflix-Dokumentation ins Gesicht schaut, schaut in einen Roman von Gabriel Maria Marquez. Hundert Jahrte Einsamkeit.

Traurige, müde Augen in einem sorgendurchfurchten Gesicht, das plötzlich zu einem Strahlen aufreißen kann und der Zauber briccht daraus hervor. Pelé ist seinem Club Santos, dem er als 16-Jähriger beitrat, sein Leben lang treu geblieben – bis auf ein paar Jahre nach Beendigung seiner Karriere, als er, mit Beckenbauer für Cosmos New York auflief, um seine Schulden zu bezahlen – seine „Berater“ hatten ihn ausgeräumt.

Er war, eine Generation vor Maradonna, der zauberspiele. Seine Bewegungen waren Samba, hatte den Rioecher und war der Tor-Garant. Doch er die Ausschnitten aus den WM-Spielen von 1958, 1962, 1966 und 1970 sah (er gewann drei der vier Turniere) – der weiß, dass der Fußball von heute eine andere Sportart ist.

Wie in Zeitlupe erscheinen da die Spielzüge, Pässe rollen ungefährdet durchs Mittelfeld, Stürmer hatten Zeit, sich den Ball zurechtzulegen, ein Haken war der ausgefuchsteste Trick, den er im Arsenal hatte. Viele Bälle rauschen nicht, sie kullern ins Netz.

Heute dagegen besteht Fußball aus Hochgeschwindigkeit und Blitzangriffen, bei Ballverlust gilt die sofortige Rückeroberung, entfesselte athletische Treibjagden sind die Konsequenz, ja, es liegt Blut in der Luft, selbst wenn die Spieler nach der Guardiola-Schule im Tikki-Takka-System den Ball kreuz und quer zischen lassen wie eine Flipperkugel, oder im ständigen Überfall-Modus nach der Methode Klopp Pressing und Gegenpressing betreiben.

In diesem wunderbaren Netflix-Film schleppt sich der 80-jährige Pelé im Rollator zum Interview. Mit seinen alten Helden, mit Zagallo und Rinaldo und anderen sitzt er im tropischen Garten seiner Villa, trinkt cerveja, isst Picanha schiebt, und ist „o rei“, der König. Und als er, allein befragt, in die erinnerung an seinen ersten WM-Triumph als 17-jähriger geführt wird, bricht er in Tränen aus.

Nur der Fußball bringt solche Halbgötter hervor.

Er war der Goldjunge, der Erwählte, der schließlich eine ganze Nation beseelte, und als er 1969 seine 1000. Tor schoss, das „Milésimo“, läuteten im Lande die Kirchenglocken.

In allem lag Sanftheit und Tanz und großes Gefühl.

Heute ist er die Legende, der Romanstoff: seine Ehen und Affären (u.a. mit dem blonden TV-Superstar Xuxa, einer brasilianischen Doris Day) seine Tragödie mit dem kriminellen Sohn, mit kriminellen Beratern, sein Verhältnis zur Militärjunta…er war Sportminister unter Präsident Henrique Cardoso, der in unserem Gespräch genau wusste, was Pele für das Land bedeutete, auch wenn er sich mit der Junta arrangiert hatte, was ihm die Linke vorwarf.

Er interessierte sich, sagte Cardoso, nun mal nur für Fußball.

Genau wie der Junge Haaland, für nichts als Fußball, denn das war die Welt, in der er sich auskannte und herrschte. War das in den 60ern des vorigen Jahrhunderts riskanter als heute?

Pelé als ist legendäre Figur längst in die Spiele-Konsolen gewandert.

Aber auch dort ist Erling Haaland bereits. Fast eine Normalität im Zeitalter der Titanen und Maschinen, in einer Welt aus Träumen und Mythen, in der jeder zweimal vorkommt: real und als virtueller Schatten.

In einem wunderbar übermütigen Youtube-Video feiert Erling Haaland die Ankunft der neuen FIFA-Konsolenspiele. Und er liest seinen Kollegen das Leistungsprofil ihrer Avatare vor: Haaland ist zufrieden mit seinem Geschwindigkeits-Wert, Sturmkollege Giovanne Reyna mit dem seinen überhaupt nicht, und der alte Leitwolf Marco Reus flucht über seinen miesen Wert als Dribbler.

So sitzen die Stars zusammen und steuern sich mit Daumendruck auf der Konsole übers virtuelle Spielfeld, sie sprinten, foulen, protestieren, köpfen und schießen Tore und können ALLES. Mesut Ösil soll süchtig ganze Nächte damit zugebracht haben, während seine Leistungen auf dem realen Feld immer schwächer wurden, bis sein Club Arsenal ihn nicht mehr aufstellte.

So spielen sich die Stars selber in einer Fantasiewelt, die sie mit Millionen teilen. Sie sind wahrscheinlich die einzigen kompletten Wesen, weil sie gleichzeitig real sind und Helden in diesem Fantasiereich und ihre eigenen Fans in dieser großen neuen Fußball-Schicksalsgemeinschaft.

Eines aber wissen sie alle, und das war schon so, als Pelé aufs Feld tanzte: Ein Sieg im Fußball verzaubert das Leben, und eine Niederlage stürzt in tiefste Depression. Nur im Fußball geht es – jenseits des Krieges – immer um Leben und Tod, um Niederlage oder ewigen Ruhm

Nun also ist mit Erling Haaland eine neue Spezies  aufgebrochen in die neue Welt des Fußballs, die eine Welt der Mythen ist, und seine Reise ist noch lange nicht zuende. Von nun an wird man nach Haalands auf die Suche gehen. Robuste spielgewandte Riesen, die jedem Verteidiger, der sie auf sich zustürmen sieht, das Herz in die Socken sinken lassen.

Diese Welt, denke ich mir, wird bevölkert werden von Riesen, von Titanen wie aus einem Avenger-Film, diesen Helden mit ihren Spezialtalenten, um das Milliardengeschäft Fußball in neue Sphären zu heben.

In diesen Tagen der Pandemie wirken die leeren Stadien mit ihren Zuschauer-Attrappen auf den Tribünen, als träumten sie – von jenen Massenspektakeln von Morgen.