In den neunziger Jahren wurde Zoë Jenny als Fräuleinwunder der deutschsprachigen Literatur gefeiert. Nun gelingt ihr ein Comeback – mit Short Storys, die eigentlich als Kassengift gelten.
Das ist der Vorteil an Kurzgeschichten, sie sind kurz. “Zwanzig Minuten”, sagt Zoë Jenny. “Die Geschichte dauert genau zwanzig Minuten.” Wie schön, denn das Buffet wird erst nach ihr eröffnet.
Zoë Jenny sitzt in Joachim Unselds Haus in Frankfurts vornehmer Lilienthalallee auf der Treppe und schaut hinunter aufs Party-Gewoge, all die hereintröpfelnden Kritiker, und sie ist nicht nervös. Behauptet sie.
Warum auch. Leoparden-Pumps, ein Bustier, rote Lippen, schöne dunkle Augen, diealles gesehen haben, Party-Nahkampf. Fotografin Karin Rocholl, auch auf der Treppe, zeigt ihr ihren Fotoband mit Prominenten, Nina Hoss, Elfriede Jelinek, doch da schweift Jennys Blick schon wieder auf die Gäste, sie, Zoë Jenny, hätte auch in dieses Buch gehört, mit genau diesen Leoparden-Pumps.
Sie war mit 23 weltberühmtes Fräuleinwunder, bald zwei Jahrzehnte ist das her, nach ihrem Debüt “Das Blütenstaubzimmer”, das weltweit eine halbe Million Mal verkauft und in 27 Sprachen übersetzt wurde.
Unten begrüßt der Verleger Gäste, ein berühmter Leitartikler muss draußen bleiben, weil er nicht auf der Liste steht, Wein ja, aber das Essen gibt’s erst nach der Lesung, Zoë Jenny ist die Vorspeise.
Für ihre letzten Romane wurde Zoë Jenny so heftig verrissen, wie sie für ihren ersten gelobt worden war. Und sie hielt das aus. Sie war durch die Welt gereicht worden, von San Francisco bis Shanghai, sie lebte in New York und London, wo sie ihre Tochter zur Welt brachte und einen Roman auf Englisch veröffentlichte. Sie lebte auf Bali, und sie trennte sich von ihrem Mann, weil sie das Hunderetten nicht zu ihrer Lebensaufgabe machen konnte, und zog zurück in die Schweiz.
Sie schrieb weiter und weiter, neben den Romanen an diesen Kurzgeschichten, ja, Kurzgeschichten brauchen viel Zeit, nun tragen sie den Titel “Spätestens morgen”, und jetzt liest sie im Wohnzimmer Unselds die Schlussgeschichte, die “Ballade vom Rhein”.
Die Gespräche verstummen, Unseld ist stolz, dass Zoë Jenny zurückgefunden hat in seinen Verlag, sie beginnt, Schweizer Tonfall. Der erste Satz, mit nun doch unterdrückter Nervosität: “Es gibt keine Zufälle, so sagtest du.”
Jeder andere hätte auf das “so” verzichtet, das wäre lässiger reingeschlendert, dieses “so” ist derart sperrig hochgestimmt, irgendwie schweizerisch, überhaupt nicht amerikanisch, wo das doch der Goldstandard ist für die Short Story, das “so” aber ist ein kleiner Störfall gleich zu Beginn, fremd und dunkel und kantenscharf diese ganze Abschiedsgeschichte, eine Prosaballade, über ihre Freundschaft zum Schriftsteller Jürg Federspiel, dessen Werk zum großen Teil aus Kurzgeschichten besteht, sie liest über seinen Freitod, über den Rhein, über das nächtliche Basel, über den unsteten Dichterfreund, der von “Mr. Parkinson” eingeholt wird, schließlich über das dunkle Wasser, in dem sich der Mond spiegelt, und über ihren Freund, der sich dort ertränkt hat.
Es ist atemlos still.
Eine Geschichte, die in Bruchsätzen ausklingt, wie letztes Atemholen: “Eine Welle Finsternis. Deine Lippen formen das Wort Ja. Du schluckst wieder und wieder, dann kippt der Mond vom Himmel genau auf dich zu. Wie im Sturzflug.”
Komisch, wie sich diese Wolke aus Nacht und Trauer nach kurzer Stille im Applausprasseln entlädt, wie die Stimmung sich aufhellen kann, weil die Mägen knurren und das Chicken Curry duftet, Jürg Federspiel ist vergessen, und Zoë Jennys Melancholie verschwindet in Menschentrauben.
So ist das mit Kurzgeschichten, wenn sie gelungen sind. Sie sind wie Wolken, die vorüberziehen, manchmal Stimmungen, bisweilen Erinnerungs- oder Geistesblitze, oder ein stürzender Mond.
Jedes Wort zählt.
Jeder Absatz bietet ein neues Bild, aber das sind nur scheinbare Fluchten, die dich tiefer hineintreiben: auf allerengstem Raum. Scheinbar gedankenlos verlieren sie den Faden, schildern Nebensächlichkeiten, doch nur, um den Knoten fester zu zurren. In Alice Munros Short Story “Ausreißer” ist es eine weiße Ziege, die plötzlich im Nebel auftaucht und nichts mit der geschilderten Dreiecksgeschichte zu tun hat und doch alles verändert.
Jenny erzählt von New York und Koffern, doch eigentlich vom Tod. Ein Dichter ertrinkt. Und der Mond stürzt ins schwarze Wasser.
Gläser klirren, der Betrieb geht weiter, immerhin, Alice Munro bekommt den Nobelpreis, wieder einmal das Comeback der Kurzgeschichte, das schätzungsweise zehnte.
In Zoë Jennys Geschichten betrachten Kinder den Zerfall von Beziehungen, empfindsamer und klüger, als es den betrügenden und verzweifelten Monstern, denen sie anvertraut sind, bewusst ist.
Schon ihr “Blütenstaubzimmer” handelte davon, doch in “Spätestens morgen” ist die ferne Welt dazugekommen, ein junger Japaner träumt von einer Karriere im Ausland und eine chinesische Fremdsprachenstudentin vom Leben im Westen, Hoffnungen, spätestens morgen, doch am exotischsten sind jene Geschichten, die Kinder von der Welt der Erwachsenen wahrnehmen.
Diese Welt ist so fern wie die der Zikaden, die der kleine Tom, in der Geschichte “Auf der Heimfahrt”, in seinem Zelt hört, aber sie ist laut, so laut, “als führten sie aufgeregt ein Gespräch, zu dem er keinen Zugang hatte”.
Nachts folgt er seinem betrunkenen Vater an den Strand und sieht ihn in die Brandung marschieren, verzweifelt. Am nächsten Mittag sitzt der Vater unversehrt vor dem Zelt und schreibt einen Brief, als wäre nichts geschehen.
Dabei ist ein Riss durch die Welt gegangen, und der bleibt.
Womöglich sind die Zeiten gut für Zoë Jennys Kurzgeschichten, der Nobelpreis ist auch einer für die Form, die eine Kunst der Verknappungen ist, der Griff nach der sprechenden Kleinigkeit in unserem Informationsrauschen und Lebensnebel, die Konzentration in Zeiten sinkender Aufmerksamkeitsspannen.
Kurzgeschichten-Autoren sind Meisterdetektive mit ihren verblüffenden Entdeckungen, allerdings ohne den Ehrgeiz, Täter zu überführen und damit die Welt wieder zu ordnen. Sie verlassen den Tatort, um darüber zu schreiben, aber sie lassen ihn unberührt.
“Verleger, die Kurzgeschichten ins Programm nehmen, gehen Risiken ein”, sagt Joachim Unseld. Die Kurzgeschichte hat keine populäre Tradition, anders als in den USA gibt es bei uns kaum Publikumszeitschriften, die sie pflegen, keinen “New Yorker”, keinen “Esquire” und kein “Atlantic”.
Ja, drüben, da kommen die tollen Serien und die Short Storys her, hört man im Lärm, der wie von Zikaden ist, alle Großen haben damit angefangen, meistens vom Journalismus rübergeschlittert wie Hemingway, drüben bieten die Colleges Creative-Writing-Kurse an, Jonathan Franzen hat welche gegeben, Stephen King unterrichtete, und Nabokov hat an der Universität Schmetterlinge katalogisiert und über Literatur gelesen. Erzählen ist Uni-Alltag.
Wer hat bei uns in den vergangenen Jahrzehnten mit Kurzgeschichten die Bestsellerliste erobert?
Hm. Noch einen Schluck von diesem wunderbaren Weißwein, ein Tariquet Classic 2012 aus der Gascogne. Also, Irene Dische, die der Darling der Buchmesse 1989 war mit ihren hintergründigen “Frommen Lügen”, ein paar Jahre später Elke Heidenreich, dann Judith Hermanns “Sommerhaus, später”. Natürlich Ferdinand von Schirach, gigantisch, wie ihm mit “Verbrechen” gelang, juristische Problemfälle zu schlanken Vorstößen in das Herz der Finsternis zu machen, des Rechts, des Gewissens, aber sonst?
Was macht eigentlich Ingo Schulze?
Mittlerweile ist Zoë Jenny nicht mehr zu sehen, dafür ist Richard David Precht aufgetaucht, allerdings heißt er gar nicht so, sondern Philipp Hübl.
Er sieht nicht nur aus wie Precht. Er wohnt in Berlin ein paar Häuser neben ihm. Oft wird er mit Precht verwechselt, selbst seiner Mutter passiert das, wenn sie irgendwo Precht auf irgendeinem Illustriertenfoto gesehen hat.
Das gleiche schmale Gesicht. Der gleiche Seitenscheitel. Vor allem: Er ist ebenfalls Philosoph und Erklärer, Verfasser einer Reise durch die Philosophie, die bei ihm “Folge dem weißen Kaninchen” heißt. Vielleicht haben wir keine Kurzgeschichten-Tradition in Deutschland, aber so viele Philosophen, dass sie sich schon ein Gesicht teilen müssen. Also: Wer ist Precht, und wenn ja, wie viele, eine hübsche böse Konkurrenzgeschichte aus dem Akademiker-Milieu, toller Plot.
Schade, dass er Zoë Jenny verpasst hat, die Leute schwärmen. Wo ist sie eigentlich abgeblieben?
Sie hat sich leise verabschiedet, sagt Unseld später, ziemlich früh schon.
Sie hat dieses Konzert aus Gelächter und Betriebsnudelgesprächen und Zikadengeräuschen hinter sich gelassen, zurück ins Hotel, um noch mit dem Freund zu telefonieren, fragen, ob die Tochter schläft, einfache Sachen.
Vielleicht warf sie einen letzten Blick zurück auf die Kritiker, für die sie eine Weile lang das weiße Kaninchen gewesen ist, weil sie ihnen Dinge gezeigt hat, die sie ins Staunen versetzten, bis sie begannen, sie zu hassen, weil sie die alten Tricks nicht mehr draufhatte.
So ist sie also gegangen in die kalte Frankfurter Nacht, auf ihren Leoparden-Pumps, das Fräuleinwunder, die Comeback-Künstlerin hat sich in Luft aufgelöst.
Der Mond scheint in dieser Nacht. Er ist nicht abgestürzt.
Erschienen am 21.10.2013 im DER SPIEGEL 43/2013
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