Literaturkritiker haben Martin Mosebach stets als großen Realisten gepriesen, in der Tradition der Erzähkunst Thomas Manns. In seinem letzten Roman “Krass” allerdings ist er in den Bereich des Mystische vorgestoßen und hat mit seiner Titelfigur einen modernen Jedermann geschaffen

Man sieht diese Typen oft in der Gala oder auf den letzten Seiten in der Bunten: Fettbäuchige Kerle mit weißer Brustbehaarung, die auf ihren Yachten Champagner trinken, meist in Begleitung deutlich jüngerer Frauen, Rennstallbesitzer oder Baulöwen oder Schieber, deren Reichtum aus unklaren Quellen sprudelt und der neben dem Illustriertenpublikum vor allem die Steuerfahndung interessiert.

Ausgerechnet eines dieser Trivilialitätsmonster hat sich Martin Mosebach, der kunstsinnigste Meistererzähler der deutschen Gegenwartsliteratur, zum Helden seines neuen Romans gewählt.

Krass heisst der Mann, und krass ist er – ein gargantuesker Genuss-schaufelnder Nimmersatt, der mit einer kleinen Gruppe von Claqueren oder Parasiten durch Neapel streift.

Sein Assistent, ein schmaler Akademiker, Jüngel genannt, ist der Mann mit dem Geldkoffer, aus dem die Spesen stets bar und ohne Bedarf an Quittungen bezahlt werden, all die Arrangements in Restaurants und Museen, und es gehört zu seinen Obliegenheiten, etwa die kostbare Tazza Farnese, eine griechische Achatschale, die einst Cleopatra gehörte, dem Archäologischen Museum leihweise abzuschwatzen: „Arrangieren Sie, dass ich aus dieser Schale Wein trinken kann. Wenn Ihnen das gelingt, sind Sie gut.“

Die banausische Kunstschändung sozusagen als Leistungsbeweis! Mosebach muss sich gekrümmt haben, bei der Niederschrift, offen bleibt, ob vor Abscheu oder Gelächter.

Krass hat den Drang zum Höheren, allerdings nur, um es mithilfe seines Geldes auf sein tierhaftes Niveau herunterzuziehen – er liest Bücher mit der seltsamen Manier, jene Seiten herauszureißen, die gelesen und damit erledigt sind.

Die Kunst Mosebachs besteht darin, dieses Wildschwein mit seinem napoleonischen Erwählten-Bewusstseins sympathisch erscheinen zu lassen. Der Kerl schwärmt von Übermenschen und Genies, da er sich in seiner Rücksichtslosigkeit selber für eines hält, ein Riese, für den die Gesetze der Ebene nicht gelten.

Ja, er wächst uns regelrecht ans Herz, als er die durchs Leben stromernde prächtig libertäre Künstlertochter Lidewine Schoonemaker aufgabelt (beziehungsweise durch seinen Assistenten in einer Hotelbar aufgabeln lässt) von der er sich fortan beglänzen lässt, denn sie findet ihn interessant.

Und sie wird von ihm ausgehalten nach einem simplen Arrangement: Keine Intimitäten, allerdings auch mit keinen anderen Männern. Und Mosebach beschreibt dieses Mädchen, deren Art wie Kometenschweife hinter derartigen Lebemännern herziehen, äußerst fair und zugeneigt, denn sie hat tatsächlich Klasse und Bildung und einen eigenen Kopf.

Das geht eine ganze amüsante Weile gut, bis sie dann doch diesen gutgebauten schmalzigen Kellner an sich ran lässt und prompt auf die Straße gesetzt wird.

Im zweiten, schattigeren, besser: verregneteren Teil des Romans, dessen Kapitel musikalische Sonatennotierungen als Überschriften tragen, wird die blasse Assistentenfigur tatsächlich als tragische Person entdeckt: Jüngel leidet unter der Scheidung von seiner ihn bis dahin komplett beherrschenden und durchaus neurotisch-struppigen Emanze Hella.

Diese Einsamkeitspassion treibt ihn in ein nahes Kloster, wo er sich von einem Bruder die Schuhe flicken und zu einer Tour der Völlerei überreden lässt.

Das alle übrigens spielt, wie die Datierung der Tagebuchblätter Jüngels ergiebt, zur Zeit der Wende in Deutschland, der Demos und des Mauerfalls, von Welt-Ereignissen also, die mit keinem Wort erwähnt werden, denn Jüngels Schmerzkosmos ist die Scheidung.

Ach so, ja, Schauplatz ist die französische Provinz, tatsächlich im Dauerregen.

Wir erleben die wunderbare Freundschaft zu dem Schuster, aus dem Kloster, der eine biografische Überraschung bereithält, und daneben eine vergnügte Gourmet-Tour anregt ins „Cheval Blanc“, wo sie den Hasen „a lá Royale“ genießen mit einer dicken Soße, die an Exkremente erinnert, und während sie im Autor des kurzsichtigen undb sturzbetrunklenen Schusters prompt im Straßengraben landen, überlegen wir, in welchem Kreis der Hölle die Tod-Sünder der Völlerei in Dantes Inferno Exkremente zu vertilgen haben, bis uns einfällt, dass sie dort alle irgendwie bis über den Kopf in der Sch… stecken.

Der Schlussteil, mit „Marcia funebre“ überschrieben, ist ein Kunststück, dass ich in der deutschen Literatur in dieser Instensität noch nicht gelesen habe. Mosebach, der katholisch-kunstsinnige Meister-Erzähler überlässt sich in aller zugewandten Feinnervigkeit der ägyptisch-muslimischen Glaubens- und Sittenwelt, denn der große Krass strandet in Kairo, wo ihm General Habob seine Gunst entzogen hat, und damit den Existenz-Teppich unter den Füßen.

Wie sehr Mosebach diese nahöstliche Lebenstemperatur und Seelenschwingung versteht und zum Klingen bringen kann, diese Mischung aus Verslumung und muslimischem Erbarmen, aus Radikalität und Zärtlichkeit, hat er bereits im Vorgänger-Roman „Mogadur“ und in der Märtyrer-Reportage „Die 21“ bewiesen.

Aber hier hebt Mosebach buchstäblich ab in eine morgenländische Passion, einen poetischen Trip.

Krass stiehlt sich aus seiner Absteige, die er selbstverständlich nur vorübergehend beziehen musste, (es wird sich alles regeln, aber sicher) und taumelt in das Gewirr der Kairoer Armenviertel, er wird regelrecht hineingesogen in dieses Gewimmel und bricht schließlich auf den Stufen einer Moschee zusammen.

Ein zahnloser Tempeldiener füttert ihn mit seinem Löffel aus seiner übersüßten Karamellpampe, Krass taumelt weiter und gerät in einer offenen Shisha-Bar an einen Dominospieler und Anwalt, der ihn, den Älteren, als „Vater“ adoptiert und zunächst bei sich und dann, da er Immobilienhändler ist, in einer palastähnlichen, bis auf ein staubüberdecktes Bett surreal leerstehenden Wohnung unterbringt, bis er den delirierenden Krass in ein Armenkrankenhaus schafft, wo er zwischen Sterbenden in letzte Rechtfertigungen und Grandiositäten abdriftet.

Napoleon, Alexander der Große, sie hätten doch heutzutage in dieser Zwergenwirklichkeit, in die er, Krass, geworfen wurde, keine Chance, und er lässt den rituellen Stein eines Mitpatienten zur Waschung für die muslimische Seelenreise passieren und er kriegt gar nicht mehr mit, dass sich da um sein Bett noch einmal die Buhlschaft und der Mammon und andere versammeln.

Und in diesem Flirren zwischen Himmel und Hölle, genauer: im weißen Strahlen der Glutsonne über der endlosen Nekropolis Kairos verabschieden wir uns von Krass, dem Mann und Jedermann, und „Krass“, dem unfassbaren und unfassbar schönen Roman Martin Mosebachs.