Bob Dylan wird am kommenden Montag achtzig. Das heißt, wir Babyboomer finden uns alle bald auf dem Friedhof wieder. Vielleicht sitzen wir da aber auch nur auf einer Bank, kopfschüttelnd über die Idiotien der woken Jungen, die noch idiotischer sind als die, denen wir einst nachrannten.

Im besten Fall jedoch hocken wir am Tresen einer Bar wie Mac’s Place, die durch den US-Thrillerautor Ross Thomas unsterblich wurde, sie ist „dunkel und still, die Möbel schon etwas abgewetzt, der Teppich durch verschüttete Getränke und Zigarettenasche zu einem unbestimmbaren Farbton verblaßt … und die Küche, wenn sich die Speisekarte auch auf Hähnchen und Steaks beschränkt, serviert wirklich sehr gute Hähnchen und Steaks.“ Vor uns steht ein Glas mit schwerem Boden. Der Whiskey darin umschmeichelt kühl die Eiswürfel, er hat die Farbe von flüssigem Bernstein. Die Hysterien des Tages liegen hinter uns, der Whiskey heißt „Heaven’s Door“, und er ist nach dem Hit von Bob Dylan benannt.

Tatsächlich, das gönnt er sich und uns zu seinem 80. Geburtstag, der Altmeister, eine Kollektion von Whiskeys, cheers Bob, und Glückwunsch zu diesem Straight Bourbon, der so smooth auf der Zunge rollt, warm im Mundraum, leichter Holzgeschmack, und dann diese nette kleine Explosion.

Die Pandemie hat ihn pausieren lassen in seiner Never Ending Tour, mittlerweile weit jenseits der 3.000 Auftritte, aber er hat sowieso längst aufgehört zu singen, ja, die Songs sind Steinschlag, und der Whiskey ist haargenau die Droge, die dazu paßt.

Er übernahm den christlichen Glauben

Seit sechzig Jahren steht er auf der Bühne. Mit seinem letzten Song ist er noch mal zurückgegangen in die Zeit, als er unter seinem Geburtsnamen Robert Allen Zimmerman aufwuchs in Minnesota, Chuck Berry und Buddy Holly hörte, von Elvis beeindruckt war und ein bißchen Little Richard coverte. Aber die Texte waren ihm zu banal, deshalb wechselte er zur Folk-Gemeinde, zu Woody Guthrie, den er am Krankenbett besuchte; Guthrie hatte Seele, er verkörperte den „true american spirit“.

Und Dylan, der dieses gewaltige schöne Land liebt mit allen Höhen und Tiefen, interessierte und verkörperte vor allem das: das american songbook.
Dieser jüngste Song, dieses Langgedicht „Murder most foul“, veröffentlicht im vorigen Jahr, erzählt vom Mord an John F. Kennedy im November 1963, der „wie ein Lamm zur Schlachtbank geführt“ wurde, ja, tatsächlich hat der jüdisch geborene Bob Dylan den christlichen Glauben und dessen Bildwelt übernommen.

Schon damals, mit dem Attentat, begann sich die Welt für ihn und für die Babyboomer zu verdüstern wie an einem Karfreitag, und Dylan erzählt ihnen noch einmal die Gutenacht-Geschichte von den Beatles, von Woodstock, von Altamont und dem Nightmare on Elm Street, von Tommy und der Acid Queen, und immer wieder zurück zu Zapruders Amateurfilm des Attentats, das wie ein Blick in den schwarzen Seelen-Abgrund ist, und der düsteren Zeile: „Son, the Age of the Antichrist has just begun …“

Kurz vor dem Kennedy-Mord hatte er mit „The freewheelin’ Bob Dylan“ und „Blowin‘ in the wind“, was nebenbei ein wundervolles Gedicht ist, seinen Durchbruch gefeiert, es gab kaum eine Gruppe, die der Versuchung einer Coverversion widerstand, Bürgerrechte, nukleare Ängste, das waren die Themen der Stunde, damals.

Gerade erst also war er in der Folk-und Protest-Gemeinde etabliert, da griff er zur Elektrogitarre und düpierte die Puristen und machte auf Rock und Country & Western. Bob Dylans Mission im ewig sprudelnden Image-und Zuschreibungszirkus des Pop war es, den Erwartungen gerade nicht zu entsprechen.
Und damit blieb er der Lokführer der Gegenkultur der Babyboomer, ganz weit vorne.

Nebenbei: „Babyboomer“ – gemeint ist die Generation der in den ersten zwanzig Jahren nach dem Krieg Geborenen – ist ein total bescheuerter und entwürdigender Begriff, er klingt so nach Kita und betreutem Spielen und einer unermermeßlichen Entfernung von dem, was arbeitende Menschen als Wirklichkeit kennen.

Aus dem Literaturnobelpreis machte er sich nichts

Nun gut, die meisten von uns waren wirklich arbeitsscheue Kiffer, außer mir, ich habe immer gearbeitet. Meistens an mir selber. Und hab dabei Dylans vergnügten Kneipenheuler „Rainy Day Woman“ genossen und sein Gelächter und die „Yeah“-Rufe und „I would not feel so all alone, eeeeeverybody must get stoned …“

Daß die Babyboomer der Stockholmer Akademie ihr Idol kennenlernen wollten, als sie ihm 2016 den Nobelpreis für Literatur verpaßten, kann man ihnen nicht verdenken, allerdings bedachten sie dabei nicht, daß Dylan sich nicht das geringste aus diesen akademischen Kotaus macht, der sonst schwedischen Mystikern und italienischen Politclowns galt.

Er ließ die ergrauten schwedischen Groupies wissen, daß er vorbeikäme, falls die Tour ihn mal in die Nähe führte. Leonard Cohen, ein anderer begnadeter Pop-Poet, meinte kurz vor seinem Tod: „Nobelpreis für Bob Dylan, das ist so unsinnig wie dem Mount Everest eine Medaille dafür zu geben, daß er der höchste Berg ist.“

Im übrigen war der mit Skandalgeschichten rund um Korruptionsvorwürfe und sexuelle Übergriffe vollauf beschäftigten Stockholmer Preisjury entgangen, daß es sich bei Dylans 1965 veröffentlichtem Signature-Song „Like a Rolling Stone“ (2004 kürte ihn die Musikzeitschrift Rolling Stone zum besten Song aller Zeiten) um einen der misogynsten Songs der Rockgeschichte handelt.

Da wird der Abstieg einer Frau in die Gosse besungen, also eher gehässig gefeiert, so höhnisch, so sehr purer Haß, daß eigentlich Carolin Emcke einschreiten müßte. Bei der in dem Stück geschmähten Upper-class-Tusse handelt es sich um die Tochter eines Öl-Barons, Edie Sedgwick, die in den Pop-Adel gewechselt war, zur Muse an der Seite von Andy Warhol und als Foto-Model durchaus Rivalin auf der Suche nach Ruhm. Sie hing später an der Nadel.

Offensichtlich hatte sie Bob eine Abfuhr gegeben, und er rächte sich: Du warst mal ganz oben und hast diese tollen Fummel getragen, und alle da unten ignoriert, nicht wahr? „Didn’t youuuuu?“ Das zieht er dann so meckernd hoch, weit hoch über die Nasenwurzel, eine Art gehässiges Heulen.

Er trat nicht in Woodstock auf. Stattdessen baute er einen lebensgefährlichen Motorradunfall. Und er tauchte in meinem Horizont 1975 wieder auf, als er sein schönstes Pop-Album, „Desire“, herausbrachte. Auf dem sang er die Geschichte des Mittelgewichtlers Ruben „Hurricane“ Carter, den sie in den Knast gesteckt haben für einen Mord, den er nie begangen hat, „put in a prison cell but one time he could-a been/ the champion of the World“.

Dylan, der Bürgerrechtler, stieß mit seinem Song ein Wiederaufnahmeverfahren an, und tatsächlich: Carters Unschuld wurde bewiesen, die weißen Zeugen hatten gelogen, die weiße Jury war befangen, alles so, wie Dylan es besungen hatte, alles wurde neu verhandelt und Carter schließlich freigelassen.
Auf der gleichen Platte „Joey“, die Geschichte eines Straßenkids, das später zum Gangsterkönig Joe Gallo wurde, mit der legendären Zeile: „‘What time is it’ said the judge to Joey when they met/‘Five to ten’ said Joey. The judge says, ‘That’s exactly what you get’“.

Gefolgt wird das von der stimmungsvollen Outlaw-Ballade „Romance in Durango“, und dann das rätselhafte „Isis“ und das Liebeslied „Sara“ – es war Dylans erfolgreichstes Album in den siebziger Jahren.

Aus einem Interview mit Dylan wurde nichts

Danach veröffentlichte er eine Reihe von evangelikalen und religiös gestimmten LPs wie „Saved“ (1980) oder „Shots of Love“ (1981), er predigte auf seinen Tourneen, womit Bob Dylan in der Popszene erst recht verschissen hatte, allen voran bei dem Kulturkritiker Greil Marcus vom Rolling Stone, der diese Wendung des Sängers als Reaktion auf seine Scheidung als frauenfeindliches Manöver beschrieb. Daß sich einer tatsächlich für die Bibel interessieren sollte, kommt in diesen Kreisen offenbar niemandem in den Sinn.

1984 hatte ich für den Stern den Auftrag, Dylan zu interviewen vor einer großen Europa-Tournee (nach Jahren der Tourpause), was mir die Möglichkeit gab, aus Recherche-Gründen erst mal die gesamten Dylan-Platten auf Spesen zu kaufen, um dann mit dem Promoter Bill Graham (Fillmore West, Woodstock) in einem Studio in San Francisco, wo Carlos Santana gerade eine neue Aufnahme einspielte, zu warten und immer neue schriftliche Fragen einzureichen, die allesamt für ungenügend befunden wurden.

Ich begann mit: Wie geht es Ihnen, und hörte mit sehr komplizierten Fragen zum deutsch-jüdisch-israelischen Verhältnis auf, aber alles lief ins Leere. Eine Kollegin hatte mir einst voller Stolz erzählt, daß sie ihm mal hinter einer Imbissbude in Los Aangeles einen Blowjob gegeben hatte, aber so weit wollte ich nicht gehen. Aus dem Interview wurde also nichts.

Ich schwor mir damals, nie wieder eine Dylan-LP zu kaufen, aber sehr viel später schenkte mir ein Freund „Modern Times“, dieses Meisterwerk von 2006, mit einer Stimme wie Stahlwolle auf einer Bunkerwand. Kritiker wählten es zum besten Album des Jahres, die erste Nr. 1 seit dem Album „Desire“ (1976), mit Pretiosen wie „Thunder on the mountain“ und „Spirit on the Water“ und „When the Deal goes down“.

Näselnde lässige Nonsens-Nörgeleien

Bob Dylans Leben, diese windungsreiche Karriere, läßt sich nicht lückenlos erzählen, nicht die Rolling-Thunder-Tour, nicht „Ronaldo und Clara“ mit Joan Baez, nicht der „Last Waltz“ mit „The Band“, alles von Scorsese ins Bild gesetzt, aber eines sei doch noch erwähnt: dieses fröhliche Intermezzo mit der erfundenen Hobo-Band „The Traveling Wilburys“ Ende der Achtziger, wo er sich unter der Leitung von George Harrison mit Jeff Lynne, Roy Orbison und Tom Petty auf einer Farm traf und in nur zehn Tagen zehn Songs einspielte.

Dylan steuert näselnd lässige Nonsens-Nörgeleien bei wie „Look out the window/ the grass ain’t green/ it’s kinda yellow/ see what I mean …“, bevor der Song in den schönsten Harmonien erblüht. Jeder weitere Song ein Geniestreich, und ein leiser Stich beim Betrachten der Videos auf Youtube, denn bis auf Lynne sind sie alle tot, Dylan mit achtzig ist ein Überlebender.

Und als solcher wird er weiter touren, wird sich auf der Bühne von seinen Fans als fossiliertes Weltwunder der Popmusik bestaunen lassen, all diese Falten und die Schluchten, die steilen Flanken und schroffen Gebirgskronen, über denen bisweilen, wenn die Nebelschleier zerreißen, die Abendsonne glänzt.
Dann eben, wenn seine rauhe Wetterstimme überhaupt in Anflügen Melodien erkennen läßt! Im allgemeinen haut er das Gold aus dem Gestein, dann klingt „All along the watchtower“ wie Geröll und rollender Donner, wie „thunder on the mountain, rolling like a drum …“

Aber vorerst sitzen wir hier im kühlen Halbdämmer in Mac‘s Place am Tresen, die Hand am Whiskey-Glas, im Hintergrund leise die jüngste CD des Meisters, „Rough and Rowdy Ways“, wo er zu einer string guitar brüchig singt: „I fuss with my hair, I fight blood feuds/ I contain multitudes.“ Wie wahr!
Du aber zeigst auf dein leeres Glas und hebst zwei Finger, und der Barkeeper in Mac’s Place weiß, was zu tun ist, und du stößt mit ihm an.

Here is to you, Bob Dylan!