Mal war er eisig, mal ledertrocken, mal slapstickhaft menschlich, und wie er vorlesen konnte! Mit dem Tod von Otto Sander hat Deutschland einen seiner größten Charakterdarsteller verloren. Selbst in seinen komischen Rollen umgaben ihn immer Traurigkeit und Einsamkeit.
Vor dem offenen Grab von Wolfgang Menge im letzten Jahr, und später, während des wohl offiziell “Leichenschmaus” genannten geselligen Beisammenseins vor der Tür dieses Italieners in Zehlendorf, traf ich Otto Sander das letzte Mal. Am Aschenbecher. Rauchen tötet. Aber Rauchen stiftet auch Gemeinsamkeit.
Otto Sander, genesen von einem Speiseröhrenkrebs, umgab eine unfassbare Melancholie und die allersanfteste Welt-Verabschiedung, die er gerne mit trockenem Witz und dem berühmtesten Knurren des deutschen Theaters durchbrach.
Dort am Aschenbecher sprachen wir, mit Gottfried Böttger, Menges Talkshow-Pianisten, dann also über Eartha Kitt und über Wolfgang Menges Eroberungen. Otto Sander hustete. “Und, was hat’s ihm gebracht?” Und wie er es sagte, war es tatsächlich umwerfend komisch und traurig und sehr philosophisch. Ich erinnerte ihn an Else Lasker-Schülers “Wupper” (1976) – mit einem Satz aus seiner niederrheinischen Dialekt-Rolle: “Willße ne Köppke Kaffe?”
“Dass sich einer noch daran erinnert!”
Theater – die große Flüchtigkeitsveranstaltung. Otto Sander war einer der großartigsten und stoischsten Künstler dieses Vergangenheitsrauschens, der Vergeblichkeit, des Zeitverfließens, komplett illusionslos. Er habe, sagte er in einem Interview, sich schon mit 45 alt gefühlt, “und dann ist wieder ein Tag rum, und schon wieder ein Jahr”.
Gemälde aus Stimmen und Tönen
“Die Wupper” war eine Nebenproduktion der Schaubühne, eine Entdeckung, ein lyrisches Stück unter einer großen Weide, die Bühnenbildner Karl Ernst Herrmannn auf die Berliner Bühne am Halleschen Ufer gestellt hatte. Und Otto Sander, mit dieser viel zu sonoren Stimme für den viel zu schmächtigen Körper, war bereits der Star, neben Bruno Ganz der zweite, denn damals gab es tatsächlich Stars am Theater, und vor allem in der Schaubühne.
Man hörte ihn heraus, auch in den Nebenfiguren. Traurigkeit und Einsamkeit umgaben ihn immer, selbst in den komischen Rollen. Natürlich die “Sommergäste” (1975) nach Maxim Gorki, dieses atmosphärische und vorrevolutionäre Gemälde aus Stimmen und Tönen und Birkenstämmen, da spielte er den Ingenieur Suslow.
Und so vieles andere, Unvergessliche. Der messerschneidige Obrist Kottwitz im “Prinz von Homburg”, der Champbourcy in Labiches “Sparschwein”; ein Komödienhit, der die theaterintelligente, aber auch streng basisdemokratisierte Schaubühne überraschend und überaus populär entspannte.
Er arbeitete mit allen Großen, mit Luc Bondy, mit Robert Wilson, mit Klaus-Michael Grüber, mal war er eisig, mal ledertrocken, mal slapstickhaft menschlich, und wie er las!
Es gibt Theater, solange es ihn gibt
Dieser Abend mit Becketts “Mercier und Camier” – durfte man nicht damals noch rauchen? -, die Gauloise also und der Aschenbecher, und diese lässig in die Welt geraunzten und geraunten Klugscheißereien, diese wunderbar komisch gesetzten “sagte er” (es ist ein theatralisierter Roman!), dieses Parlando zweier Vagabunden über die verstreichende Zeit und – selbstverständlich – die Vergeblichkeit. Fast zwanzig Jahre sind er und Peter Fitz damit auf Tournee gegangen.
Und wie lauernd und perfide er als Kommissar Escherich dem Widerständler Quangel in Peter Zadeks “Jeder stirbt für sich allein” nachstellte, die allergrößte Revue mit Beineschwingen und Militärstiefeln, und dann diese Szenen mit Minetti, und das ganze Gewirbel war verflogen und plötzlich konzentriert auf eine Leidens- und Mut- und Widerstandsgeschichte.
Minetti pflegte, und diese Anekdote erzählte Otto Sander zustimmend, immer den Hut abzunehmen, wenn er nach Probenschluß über die Bühne ging. Weil er, wie er sagte, dort lebe. Auch Sander lebte auf der Bühne, anstrengungslos, ja, er machte oft gar nichts, so sah es aus, und er lebte.
Obwohl er in Hannover geboren wurde, später in München spielte, gehörte er ganz und gar nach Berlin. Nach Westberlin. In der Paris Bar am Tresen gab es eine Plakette für ihn. Er stand am Tresen, er gehörte dahin, und er stand da wie ein Trost: Er erinnerte alle daran, dass es das Theater gibt, solange es ihn gibt.
Ein letztes Mal die Alpen sehen
Selbstverständlich der Film. In Petersens “Das Boot” sollte er eigentlich den Kaleu spielen, die Hauptfigur, doch das Theater wollte ihn nicht das nötige halbe Jahr freistellen, so spielte er eine Nebenfigur, und Prochnowstartete als Kaleu seine Weltkarriere. Sander hat es hingenommen, stoisch.
Er spielte in der “Blechtrommel”, in rund 140 weiteren Filmen, ein Arbeitstier. Seine vielleicht schönste Rolle war die des Engels Cassiel inWim Wenders “Himmel über Berlin”, wie ruhig und klar und ewigkeitsgerichtet er da dieses schwarzeiße Kunstwerk durchmaß!
Er las vor, viel, er las von Kleist bis Beckett alles ein, was ihn interessierte, selbst auf der Krankenstation las er vor. Nachts. Den Schwestern. Er war: “The Voice”, auch in der Eckkneipe in Wilmersdorf, wo er gelegentlich vor Skatturnieren las.
Neben allem hat er als Vater für die Kinder seiner Schauspieler-Ehefrau Monika Hansen die wahrscheinlich wichtigste Rolle seines Lebens übernommen. Und liest man, was die Kinder über ihn sagen, tat er das in der ungewöhnlichsten und liebevollsten und verständigsten Weise: Einen wilden Talentbrocken wie Ben Becker und die starke und eigensinnige Meret Becker hochzubringen und zu begleiten und zu formen, da hilft einem kein Erziehungsratgeber, dazu braucht man Herz und Großzügigkeit und wieder Herz, und davon hatte Otto Sander im Übermaß.
In seinem letzten Film spielt er einen krebskranken Rentner, der während eines Ausflugs ein Flugzeug entführt, jedoch nicht, um irgendwelche politischen Gefangenen freizupressen, sondern um ein letztes Mal, mit den anderen Senioren, die Alpen von oben zu sehen und dazu zu tanzen.
Mehr nicht.
Aber mehr geht auch nicht, würde er wohl sagen, mit seiner dunklen, traurigen Reibeisenstimme.
Erschienen am 12.09.2013 www.spiegel.de
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