BUCHKRITIK: Ferdinand von Schirachs Justiz-Thriller “Tabu” erzählt von der Suche eines Künstlers nach Wahrheit.

Wie wundervoll, so ein Buch, das aus lauter klaren Sätzen besteht, die schlank sind und klug, die nachschwingen und in ihrem Schönheitssog den Leser mitziehen auf eine Reise ins vorzivilisatorische Grauen. In Inzest und Tabu. In einen Thriller. In ein gewaltiges Rätsel, in dem man sich durchaus verlieren kann, atemlos.

Was ist Schuld? Diese Frage stellt sich der Berliner Anwalt Biegler, Allergiker, Burnout-Patient, Jazz-Fan und melancholischer Menschenkenner, eine Dürrenmatt-Figur, aber wir greifen vor.

Sebastian von Eschburg heißt der stille Held in Ferdinand von Schirachs neuem Roman “Tabu”, ein Junge, der so genau hinschaut, dass es weh tut. Lauter Hauptsätze. Beobachtungen ohne Hierarchien. Die Orangenschale in der Tasche ist so wichtig wie der Blick auf eine Madonna oder der Gedanke an den Tod.

Sebastian wächst in einem Schloss auf, das bessere Tage gesehen hat, vollgestellt mit Spuren sammelnder und jagender Vorfahren, Truhen aus Indonesien, Schirmständern aus Elefantenfüßen, Fruchtbarkeitsgöttern. Sebastian von Eschburg blickt fremd auf die Welt, er ist Synästhetiker, das heißt bei ihm, alles hat seine eigenen Farbwerte, sein Vater ist blassgrün, die Mutter farblos, der Buchstabe A ist knallrot.

Er ist anders, und wir sind fremd mit ihm in dieser Kindheit und staunen und erschrecken, wenn sein Vater ihn mitnimmt auf die Jagd und ein Reh aufschneidet, wenn die Mutter in ihrer Reiter-Illustrierten blättert und mit nachlässigem Blick über sein selbstgefertigtes Geschenk schweift, um sich wieder ihrer Illustrierten zuzuwenden.

Sebastian ist ein Außenseiter und unendlich allein. Erst recht allein, nachdem sich sein Vater mit einem Gewehr den Kopf wegbläst. Wessen Schuld ist das?

Sebastian begibt sich in die Lehre eines Fotografen, der berühmt ist für die Schwarzweißfotos stillgelegter Förderanlagen. Und dann wird er selbst berühmt. Mit seinen Akten und Porträts in leisen Sepiatönen wird er der Darling der Kunstszene, doch deren hysterischer Lärm, meisterhaft vom Autor ironisiert, berührt ihn so wenig, wie die Frauen es tun, mit denen er schläft.

Denn Sebastian von Eschburg ist, wie jeder Künstler, auf der Suche. Nach Schönheit zunächst. Sein pornografisches Werk “Majas Männer” wird ein phänomenaler Erfolg. Eschburg beginnt mit Überblendungen zu arbeiten: Er legt Gesichter übereinander und erkennt mit Schrecken: Schönheit ist Durchschnitt. Und selbst wenn er Gesichter böser Verbrecher überblendet, ist der durchschnittliche Verbrecher am Ende immer schön, weil im Durchschnitt immer Symmetrie entsteht.

Sebastian sucht weiter, nach einer Wahrheit, die ihn beruhigen könnte. Wie Ödipus ist er auf der Suche nach der Antwort auf die große Frage: Was ist Schuld?

In sein Leben tritt Sofia, die alles verändert, doch seine Frage nicht verblassen lässt. “Das alles ist nur mit ihr möglich, dachte er, das Fotografieren und das Weitermachen und das Ertragen.”

Wie auf einer sich langsam entwickelnden Fotografie treten andere schattenhafte Figuren in diesen Roman, unerklärliche Ereignisse sorgen für Unordnung und Erschütterungen. Da ist die merkwürdige Nachbarin in seinem Haus in der Berliner Linienstraße, eine Frau aus der Ukraine, vernarbt, die nachts überfallen wird von zwei Messerstechern, Sebastian eilt ihr zu Hilfe, einer der Mädchenhändler zieht ihm den Totschläger über den Schädel.

Und dann geschieht ein Mord. Ist es einer? Alle Indizien deuten darauf hin, und sie deuten auf ihn, auf Sebastian von Eschburg, als Mörder. Ein Mädchen wird vermisst. Der ermittelnde Beamte – eine der großen Szenen dieses Romans – droht Eschburg mit Folter und presst ihm ein Geständnis ab. Ein weiterer Tabubruch.

Hier betritt Biegler die Szene, ein Techniker der Rechtsmaschine, Menschenkenner und Philosoph. Zunächst lustlos, dann immer interessierter übernimmt er den Fall. Biegler ist überzeugt davon, dass Schuld zur menschlichen Existenz gehört. Doch er ist auf noch andere Art auf Eschburgs Höhe, und die ist romantisch und hat mit Artistentum und Kunst zu tun, mit ihren Spiegeln und Fallen, ihren überraschenden Manövern. Dieser Roman, der mit unendlich vielen Ebenen arbeitet, ist nicht nur kunstvoll gefügt, sondern er löst sich selbst in Kunst auf.

Wir erleben, wie verschiedene Wirklichkeitsschichten übereinanderwachsen, der erste Teil ist mit “Grün” überschrieben, es folgen die Teile “Rot” und “Blau”, und das Licht dieser Farben ergibt, so beschreibt es die Theorie von Helmholtz, Weiß – und genau so ist der letzte, der verdammt unschuldige und reine Teil überschrieben. “Weiß”.

Der Roman endet in Schönheit und in einer Ordnung, die fragil ist. Denn wir wissen, in Momenten, dass diese Ordnung bisweilen Risse zeigt, durch die wir alle stürzen können.

Erschienen am 09.09.2013 im DER SPIEGEL 37/2013