Einige Betrachtungen anlässlich der Debatte über Monika Marons „Artur Lanz“ und das Heldentum.

Da wir im 30. Jahr der Wiedervereinigung leben, drängen sich noch einmal die Szenen aus der „Heldenstadt“ Leipzig mit ihren Montagsdemonstrationen auf. Zunehmend größer wuchs der Protestzug, der sich über die Ringstraße schob, mit jedem Montag mehr verlor sich die Angst vor dem totalitären Regime, wuchs der Mut zum Widerstand.

Die Ironie der Geschichte will es, dass nun erneut Menschen in Massen auf die Straße gingen, um zu protestieren, auch solche, die schon damals dabei waren. Und sie demonstrierten gegen die Politik einer ehemaligen FDJ-Sekretärin, die nun Kanzlerin ist, und eines ehemaligen SED-Mitläufers, der es zum Innensenator geschafft hat.

Beide hatten ein Verbot dieser Demonstrationen verlangt bzw. begrüßt.

Und es bedurfte eines Publikumslieblings aus der ehemaligen DDR, nämlich Jan Josef Liefers, der die Parallelität der beiden Protestzüge entdeckte und sie miteinander verglich, ohne Diktatur und Demokratie gleichzusetzen. Aber er zeigte doch die totalitären Entstellungen auf, die unsere freiheitlich demokratische Grundordnung im Laufe der Corona-Panik nicht nur seiner Ansicht nach erlitten hat.

Ja, er wurde sogar zum Strategen: In den gegenwärtigen Coronademonstration tadelte er in einem Video die Zersplitterung der Protestenergien im Gegensatz zur Disziplin und Entschlossenheit, da man 1989 an den Tag gelegt habe. Er weiß, wovon er spricht. 1989 rief er auf dem Alexanderplatz Berlin auf der Großkundgebung, die schließlich zum Mauerfall beitrug, aus: „„Die vorhandenen Strukturen, die immer wieder übernommenen prinzipiellen Strukturen lassen Erneuerung nicht zu. Deshalb müssen sie zerstört werden.“

Im gegenwärtigen kulturellen Mehrheitsklima geht Liefers damit ein beträchtliches Risiko ein, denn das Gros der Künstler, allen voran Udo Lindenberg oder Herbert Grönemeyer, hat der Regierung Vasallentreue geschworen und nennt Dissidenten unter dem Beifall der öffentlich rechtlichen Sendeanstalten und dem Gros der Presse „Hirntote“.

 Er ist also ein stolzer Einzelner und entspricht gerade nicht dem Aphorismus von Norbert Bolz, demzufolge „Schauspieler immer die politische Meinung äußern, von der sie annehmen, dass sie dem Publikum gefällt“.

Viel eher entspricht er der Definition des innengelenkten  Helden.

Meine frühesten Heldenlegenden waren, in einer katholischen Familie der 50er Jahre eine Selbstverständlichkeit, Märtyrergeschichten, denn nirgends ist das heroische Selbstopfer reiner vorhanden als in diesen.  Weshalb es zu den romantischsten Vorstellungen meiner Kinder- und Jugendtage gehörte, dass ich mein Leben für Jesus Christus hingebe, nicht ohne selber darüber maßlos gerührt zu sein.

Und ich wurde an jedem Namenstag daran erinnert, dass mein Vorbild, der Apostel Matthias, durch die Hand eines römischen Legionärs enthauptet wurde.

Nun, ich hatte mich gegen andere Apostel unter den Brüdern zu behaupten, Johannes machte mir keine Sorgen, er starb an Altersschwäche, auch der ungläubige Thomas verschwand irgendwo in Indien, aber gegen Peter (Petrus), der den Märtyrertod in Rom starb, und Andreas, der spektakulär an ein x-Förmiges Kreuz mit dem Kopf nach unten genagelt wurde, war es schwer.

Mit großer Befriedigung erfuhr ich, dass Matthias nicht durch das konventionelle Schwert getötet wurde, sondern durch einen Axthieb – das Opfer konnte nicht grausam genug ausgemalt werden, die kindliche Lust an Grausamkeit ist maßlos.

Märtyrer starben im Colosseum Neros unter Löwen!

Ein paar Jahre später träumte ich vom Tod auf den Barrikaden der Revolution, der als Preis für den roten Sieg zu zahlen war – das Faszinosum der Selbstaufopferung hatte sich also erhalten.

Das Heldentum reitet in den unterschiedlichsten Maskeraden auf. Helden sterben für die große Sache, für das Heilige, sie sterben, um andere zu retten, für die Geliebte, die Familie, den Freund, das Vaterland, ein Ideal.

Damals wusste ich noch nicht, dass ich eines Tages tatsächlich mit Verwandten und Freunden von leibhaftigen christlichen Märtyrern reden würde, nämlich über einen Bäcker und seine Söhne im syrischen Maalula, die sich trotz der vorgehaltenen Waffen der schwarzen Killer vom IS geweigert hatten, zum Islam zu konvertieren.

Märtyrer also sind durchaus nicht auf das frühe Christentum begrenzt. Es gab sie in Auschwitz, es gibt sie heute, unter uns.

In Maalula war die Realität des Bürgerkriegs und die heroische Gegenwehr gegen die schwarzen Mörderbanden greifbar. Am traditionellen Fest der Kreuzeserhebung feierte ich mit ihnen zusammen den Sieg, nach einer Messe, die der melkitisch-katholische Patriarch in Aramäisch, der Sprache Jesu, mit ihnen zelebrierte.

Anschließend floss der Schnaps in Strömen. Ein junger querschnittsgelähmter Kämpfer wurde in seinem Rollstuhl in die Höhe gestemmt, wo er über den Köpfen Salven aus seinem Maschinengewehr in den Himmel feuerte.

Nachts hallten die Bergflanken wieder vom Freudengeratter der Uzis und Kalaschnikows. Auch mir wurde ein Maschinengewehr in die Hand gedrückt. Ich hab den Abzugshebel nicht gezogen, denn das Gerät war ungewohnt, es wäre für die Umstehenden gefährlich gewesen, ich kann ja schon meine eigene Handschrift nicht lesen.

All diese Männer hatten ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um die Freiheit zurückzuerobern. Und nun feierten sie, archaisch, wild, zügellos, in einer Realität, die nur vier Flugstunden und für unsereins, die Kinder der wohlstandssatten Friedenszeit, drei Generationen entfernt liegt.

Auf Krieg und Selbstverteidigung sind wir Cafe-Latte-Kopfarbeiter und pazifistischen Babyboomer sehr viel weniger vorbereitet als jene, die zu uns strömen.

Martin Mosebach hat in seine großartige Reportage “Die 21“ über die koptischen Märtyrer geschrieben, die am libyschen Küstenstrand von schwarzvermummten IS-Kriegern rituell abgeschlachtet wurden. Und er hat Reflexionen eingebaut wie diesen inneren Dialog, den Streit der zwei Seelen in seiner Brust, denen er die Namen „Beschwörer“ und „Bezweifler“ gibt.

Für den Bezweifler ist der Märtyrer-Kult gefährlicher Ausdruck religiöser Gewalt, der Beschwörer wiederum weist daraufhin, dass der Christliche Märtyrer nie Gewalt ausübt, sondern nur erduldet.

Der Bezweifler: Also wenn es mir das Leben rettet, würde ich jederzeit beschwören, dass zwei und zwei fünf ergibt.

Der Beschwörer: Aber die 21 sollten eben nicht bestreiten, dass zwei und zwei vier ist. Die Wahrheit des Christentums ist keine mathematische Formel.

Der Bezweifler: Wahrheit, wenn ich das schon höre…

Und dann kann sich Mosebach der heimlichen Faszination, ja Verführung nicht verschließen, die in der Vorstellung liegt, dass ein ganzes von Halbheiten und Irrtümern geprägtes Leben im Märtyrertod, der auch ein Heldentod ist, mit einem Schlag in die Heiligkeit überführt wäre.

So trifft er im Heimatdorf der 20 auf eine fast heitere Gelassenheit bei den Hinterbliebenen, den Müttern oder Geschwistern oder Ehefrauen, auf die nun ebenfalls der fromme Glanz der Heiligkeit fällt. Die 21 (ein Schwarzafrikaner war darunter) sind in einer Ikone verewigt und zur Anbetung erhoben.

Die Angehörigen berichten von den Wundern, die sich seither ereignet haben im Tonfall allergrößter Selbstverständlichkeit, und Mosebach, der Künstler, hütet sich, ihnen zweifelnd in die Parade zu fahren, wie es ein 08/15-Reporter in unseren Tagen täte.

Als Journalist und Reporter kann man sich vor dieser Leistung nur verneigen. Für einen Katholiken aber, der verzweifelt seine Kirche in die bequemen Anpassungen an die Moderne entschwinden sieht, ist die Lektüre ein Muss.

 Allerdings: Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich zum Islam übergetreten wäre. Anders läge die Sache, wenn das Selbstopfer das Leben des Sohnes oder der Frau retten würde. Was muss in die Waagschale liegen, um das ultimative Opfer zu erwägen? Die Familie, das Vaterland, der Glaube?

Helden opfern sich auf, weil sie ein höheres Ziel im Auge haben als die Rettung der eigenen Haut. Die Bedingung: Sie müssen für das Gute, Edle, Wahre streiten. Der islamistische Selbstmordattentäter, der sich zur Waffe macht und lediglich die Vernichtung anstrebt, also das schwarze Loch, den ultimativen Nihilismus (auch wenn er ihn mit Fantasien eines überirdischen Lustgartens füllt), wird unsere Hochachtung, ja Anbetung kaum erringen.

Da wir offenbar mit Heldensehnsucht und Anbetungsbedürfnis zur Welt kommen, mit einem Urtrieb, der zwar die großen Mythen befeuerte, aber in der Komfortzone unserer postheroischen Zeit nur dürftig befriedigt wird, schaffen wir Ersatzhelden, Ersatzheilige.

Unser Celebrity-Zoo stopft diese Lücken eher unzulänglich, allerdings immer hektischer und intensiver. Da wird aus dem Jet-Set-Gör Lady Di, der royalen Legehenne für die britische Thronfolge, eine Art Supermodel der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts, bis sie, in der ihrem tödlichen Auto-Unfall nachfolgenden öffentlichen Hysterie, als Madonna Gestalt annahm, der Altäre errichtet wurden – in manchen Fällen kam es dort tatsächlich zu Tränen-Wundern.

Für das urbane linke Publikum war Barack Obama eine geradezu messianische Erscheinung, als er die politische Bühne (etwa an der Berliner Siegessäule) betrat und sein Mantra verkündete „Yes we can“. Ein Mantra, welches einige Jahre später von Kanzlerin Merkel während der Flüchtlingskrise benutzt und abgenutzt wurde, als sie sagte „Wir schaffen das“.

Dass sogar deutsche Bischöfe bisweilen den Boden unter den Füßen verlieren und sich in religiöse Groupies verwandeln, durfte man verblüfft verfolgen, als die kleine Greta Thunberg zum Widerstand gegen die böse naturschändende Welt der Erwachsenen aufrief – für den Berliner Weihbischof Koch war sie eine Wiedergängerin Jesu.

Doch in den meisten Fällen verirren wir uns mit unseren Anhimmelungen in die Welt der Filmsterne und Pop-Idole. Auch dort kann das Gefälle zu unserer irdischen Normalo-Existenz niederschmetternd sein, obwohl es in unserem Beruf, dem der Journalisten, nicht gerade selten ist.

Als ich zum ersten Mal damit zu tun hatte, bei einem Interview mit der Rolling-Stones-Legende Mick Jagger, konnte ich an nichts anderes denken als 1. Wahnsinn, du sprichst mit Mick Jagger, 2. Er ist Mick Jagger und du bist es kein bisschen, 3. Erschieß dich.

Im Laufe der Jahre hat sich das Verhältnis selbstverständlich professionalisiert, beide Teilnehmer solcher „pressjunket“ genannten Stargespräche wissen, dass es eine Geschäftsbeziehung ist, oder wie es im „Paten“ heißt, wenn es um Morde innerhalb der Mafia-Familie geht, „it’s strictly business, nothing personal“, und genau auf dieser Grundlage entsteht doch so etwas wie eine Kurzbeziehung auf Augenhöhe.

Und so kommt es, dass ich mir keine Mühe gab, beim Tee-Trinken mit Jeremy Irons meine Langeweile zu verbergen, so wenig wie er die seine, oder mit Harrison Ford engagiert über obdachlose Männer, eines seiner sympathischen Herzensanliegen,  sprach oder, als ich zu jener Zeit mal massive Eheprobleme hatte und an nichts anderes denken konnte, mit Tom Hanks nicht nur über das Apollo-Programm sprach, sondern, „Houston, we have a problem“, auch darüber.

Und es zeigte sich: Helden, auch die der Leinwand, sind auch nur Menschen, die in manchen Fällen äußerst einfühlsam und hilfsbereit sind.

Der Wunsch nach wahrem Heldentum ist tief in unsere Seelenmatritze eingegraben. Der Held ist ein Archetyp aus der Menschheitsfrühe, und nicht nur in Erzählungen wie der Homerischen von Odysseus spielt die Heldenreise eine zentrale Rolle, wie der amerikanische Mythenforscher Campbell herausfand.

Sie ist der Prozess der Heldenwerdung, der Emanzipation.

Mittlerweile sind mythische Figuren wie Herakles oder Thor zu Comic-Helden geworden, und von den Maevel-Comics wieder auf die Leinwand übergesprungen, wie Batman, Superman, Spiderman und was die Omnipotenz-Phantasien der Kindheit sonst noch hergeben.

Wir lesen, dass die antiken Helden oft Halbgötter waren und die antiken Götter durchaus menschliche Züge hatten, die Grenzen waren hier fließend.

Zur Heldenreise gehört nach Campbell in groben Etappen: die Aufgabe, die dem Helden gestellt wird, sein Zögern, Überwindung der Schwelle, die Reise, die Frau als Versucherin, die Versöhnung mit dem Vater, die Apotheose, in der er seine innere Berufung spürt, die endgültige Segnung, mit der er die Welt rettet, schließlich die Heimkehr.

Ein Grundmuster, mit dem alle modernen Heldenfilme arbeiten, besonders die Star-Wars-Reihe von Georg Lukas, die wohl wirksamste Heldenerzählung in der Geschichte des Kinos. Die Heldenreise ist so urtümlich angelegt, dass sie sich sogar  zur psychischen Gesundung von Gestalttherapeuten nutzen lässt, wo sie mit Fantasiereisen und Körperarbeit wahre Ziele, aber auch einschränkende Selbstbilder erkennen lässt.

Die Heldensehnsucht nach dem rettenden oder der rettenden Einzelnen (häufiger dem Einzelnen) ist also tief in jedem und jeder von uns eingepflanzt.

Sie kollidiert aber ganz offensichtlich mit der modernen Ethnien- und Schichten übergreifenden

Nivellierungsidee, die unsere Sozialgemeinschaften regiert. Nur so lassen sich die heftigen Protesten gegen Monika Marons novellistische Meditation in ihrem Buch „Artur Lanz“ erklären.

Maron traf besonders auf den Widerstand linker, „woker“ d.h. „erwachter“ Frauen, die das Heldentum als unaufgeklärte und vorgestrige Macho-Affäre abtaten. Dabei gibt es doch auch HeldInnen wie die Hl.Jeanne d’Arc, die durch den Gesangspoeten Leonhard Cohen Eingang in die Popmythologie fand:“…Now the flames they followed Joan of Arc, as she came riding through the dark…“

Wenn auch die Reihe männlicher Helden im kulturellen Gedächtnis imposant erscheint, so ist doch die Zahl der Heldinnen und weiblichen Heiligen im Gedächtnis der Kirche ebenso beeindruckend. Meine Lieblingsheldin ist da zweifellos die Hl.Elisabeth aus Thüringen (1207 – 1231), die mit 14 Jahren dem 17-jährigen Ludwig verheiratet wurde und auf der Wartburg, einer damals noch unausgebauten Festung residierte und früh im Dienst an den Bedürftigen starb.

Der Legende nach versorgte sie von der Burg oben die Armen und Kranken unten im Tal mit Arzneien und Broten, gegen den harschen Widerstand ihres Gatten und dessen Mutter. Als sie eines Tages wieder unterwegs war mit einem Korb voller Brote, wurde sie von der Schwiegermuter gestellt. Auf die Frage, was sie dort im Korb verberge, antwortete Elisabeth: Rosen. Die Mutter schlug das Tuch zurück und starrte – auf eine rote Rosenpracht.

Ein Merkmal teilen alle Helden und Heldinnen. Sie sind Einzelne. Sie folgen ihrer Bestimmung. Sie sind innengelenkt. Tatsächlich ist es nicht die Selbstaufopferung, die den Helden, die Heldin ausmacht, sondern die Einsamkeit der Selbstbestimmung. Helden widersetzen sich ihrer Umgebung. Genau darin eigneten sie sich zur Identifikation auch in meiner Pubertät und darüber hinaus.

Ja oft, so scheint es mir im Rückblick, hat erst der Widerstand meinen Lebensweg geformt. Erst im Gegenwind spürte ich mich. Und dies ist wohl die stärkste Verführung, die für mich von Helden ausgeht. Und der Mut.

Todesmutige wie Ernst Jünger sind Helden nach meinem Geschmack. Er, der im Sturmangriff durch den Kugelhagel rannte und nachts in der Verschanzung Thomas de Quinceys „Bekenntnisse eines Opiumessers“ las: Krieger und literarischer Dandy in einem. Was für eine attraktive Doppelnatur.

Unsere Zeit ist diesen Titanen nicht wohlgesonnen.

Doch auch die unkriegerischen Unbeirrten wie der Musiker und Schauspieler Jan Josef Liefers haben meinen Respekt.

Es sind die stolze Einzelnen, die über sich ins Allgemeine hinausgreifen und sich dem Kollektivmenschen mit genau diesem Paradox schimmernd einprägen.