Über das Theater in Anklam, die Strafkolonie für unbotmäßige Regisseure wie Frank Castorf und Herbert König. Von Matthias Matussek (am 28.05.1990)

Abends, wenn die Rapsfelder ihr Giftgelb in den verblassenden Himmel feuern und vom Hochmoor weiße Nebelfäden herüberziehen, dann wird Anklam zur Geisterstadt. Dann liegt das dunkle Häusermeer der alten Hansestadt verlassen hingewürfelt da, abgebrannt in Pommerland. Eine aufgebrochene, nie ausgebaute Straßentrasse streckt sich wie eine erdige Zunge über die Peene in die Innenstadt, wo ein halbes Haus über einen menschenleeren Marktplatz wacht. Das Haus wurde nie zu Ende geführt. Man hatte vergessen, das angrenzende Grundstück zu enteignen.

Eine abgebrochene Metallschwinge, die am Markt senkrecht in die Höhe stößt, ist das Wahrzeichen der Stadt. Sie soll an Otto Lilienthal erinnern, der in Anklam geboren wurde, und sie tut es mit einer schwarzen Pointe. An ihrem Sockel ist der Spruch eingraviert: “Die Macht des Verstandes wird auch im Fluge dich tragen.” Jedes Schulkind aber weiß, daß der Tüftler bei einem Flugversuch tödlich abgestürzt ist, die Macht des Verstandes hat ihn nicht getragen.

In diesem Dämmerlicht, in dem sich die Macht des Verstandes in Nacht auflöst und ein ganzer Staat, der sie auf seiner Seite glaubte, verschwindet wie Zaubertinte, könnte die Stunde der Phantasie schlagen. Aufschwingen, hinaus und – fliegen!

Das alte Schützenhaus liegt am Rande der Stadt, gleich hinter dem Soldatenfriedhof. Mit zitternder Krücke zeigt eine alte Frau hinüber, auf eine Plakatwand, die unter einer mächtigen Kastanie halb verborgen ist. ERPRESSUNG steht da. “Wer hat das dahingeschmiert?” Keiner? Das ist ein Theaterplakat? “Ach so”, kichert die Alte und humpelt davon. “Theater! Faxenmacher!” Hinter der Pförtnerloge ein schmuckloser Schankraum. Ein Dutzend bleicher, junger Gesichter. Und mittendrin, gemütlich und rund, ein Onkeltyp mit Brille, dem ein schwarzer Schnurrbart in schweren Zapfen über die Mundwinkel wächst. Der Intendant des Theaters, Dr. Wolfgang Bordel. “Wie Bordell mit einem L.”

Es gibt kein Kino in Anklam. Nichts. Nur das Theater – ein Nachtasyl. Der Totentanz hier drinnen ist eine Premierenfeier. Am Nachmittag haben sie vor einer Schulklasse das Kinderstück “Kikerikiste” aufgeführt, im Klubraum: Simone, die hochwangige Sekretärin aus Schwerin, Jana, die Berliner Pädagogik-Studentin, und Kathrin, die OP-Schwester, die gerade von ihrer Lieblingsamputation erzählt – sie alle haben irgendwann einmal vom ganz anderen Leben geträumt. Und sie sind in Anklam gelandet. Rene läßt einen Sektkorken knallen. Am Nebentisch springt wütend ein Bühnenarbeiter auf und brüllt: “Noch einmal, du Fatzke, und ich hau’ dir die Fresse ein!”

Keiner der Jungen hat eine Schauspielschule von innen gesehen. Und ausgebildete Schauspieler kommen nur noch selten hierher. “Wer bei uns landet”, sagt Bordel mit grimmigem Behagen, “hat entweder Probleme mit dem Alkohol oder mit dem Leben.”

In einer Glasvitrine ein weißes Theaterkleid, aufgespannt wie ein toter Schmetterling. “Früher war’n da mal Grünpflanzen drin”, sagt Bordel, “aber man hat vergessen, sie zu gießen.”

Früher . . . Auf einem Theaterplakat neben der Vitrine steht: “Man spielt nicht mit der Liebe.” Der junge Regisseur Herbert König hatte es inszeniert, 1983, kurz bevor er seinen Ausreiseantrag stellte.

Damals war Anklam nicht irgendeines der 69 DDR-Theater, die vom SED-Staat gehätschelt und geknebelt wurden. Anklam war die Strafkolonie am Ende der Welt. Unbequeme Regisseure wurden hierher ins vorpommersche Sibirien geschickt, wo sie keinen Schaden anrichten konnten. König hatte aus der französischen Komödie einen hochartifiziellen, kühlen Alptraum gemacht. Liebe war ein Fremdwort in seiner Inszenierung – “l’amour” stand in roter Schrift auf blauen Bühnen-Kacheln. Zur Premiere waren Berliner Freunde und die SED-Kultur-Sheriffs erschienen. In der dritten und letzten Vorstellung dösten nur noch rund 15 Volksarmisten im Parkett. Angetreten zur “organisierten Kulturmaßnahme Theater”. Wer blieb, bekam hinterher ein Bier.

Damals war Frank Castorf Oberspielleiter. Die asthmatische Pförtnerin erinnert sich noch gut an ihn: “Das war doch so’n Spacker, mit Nickelbrille.” Castorf in Anklam, das war Rock’n’Roll auf dem Mond. Wie war das mit Desdemona? Im Wassereimer ertränkt oder im Kühlschrank erschossen? Damals war die Phantasie an der Macht – und wenn auch nur für zwei Theaterstunden vor leerem Provinzparkett. Und sie schien der Macht des Verstandes, der Parteimacht, gefährlich. Eigens abgestellte Stasi-Leute, die sich, keine Satire, “Abwehroffiziere Kunst und Kultur” nannten, lieferten streng vertrauliche Verschlußsachen wie: “Alternative Theaterauffassungen am Landestheater Anklam haben sich weiter verfestigt.”

Damals wurde Bordel aus Berlin geholt. Und der sorgte für Ruhe. Für Friedhofsruhe. Dr. Wolfgang Bordel, gelernter Physiker und Laiendarsteller, die Tragödie eines lächerlichen Mannes. Von Kindheit an liebte Bordel das Theater. Doch das liebte nicht zurück. So rächte sich Bordel am Talent, das er nicht hatte, rächte sich an allen, für die Theater mehr sein konnte als ein Laienbums. Der ideale Mann für die Partei und alle “Abwehroffiziere Kultur”.

Er feuerte Castorf, angeblich, weil der mit dem Neuen Deutschland den Bühnenboden auslegte. In Wahrheit aber, weil Castorf, wenn er gut war, in jene Zauberregionen stieß, von denen Bordel nur ahnen konnte. Er feuerte Bühnenbildner, Regisseure, Dramaturgen, Schauspieler, erdrosselte sie mit seinem lachend-vergnügten Dilettantismus, bis er allein dasaß, in seinem monströsen Kinderzimmer, und Theater spielen durfte, stümpernd, bieder.

Gefährlich war der schnaufende Dicke nur für jene, die arrogant und damit dumm genug waren, ihn zu unterschätzen, seine opportunistische Intelligenz und seine Zähigkeit. Bordel, sympathisch verschlampt und gesellig, wahrscheinlich ein guter Physiker – und ein furchtbarer Intendant.

Ganz sicher einer, der die Macht liebt und die Bequemlichkeiten, die sie verleiht, selbst in der Provinz. In seinem Intendantenzimmer, das mit schweren, dunklen Gründerzeit-Möbeln vollgestellt ist, hängt sein Wahlspruch. Er stammt aus Kleists “Zerbrochenem Krug”: “Und find’ ich gleich nicht alles, wie es soll, ich freue mich, wenn es erträglich ist.” In Kleists Komödie muß der Dorfrichter Adam, jener unsterbliche Provinzpotentat, gegen einen Gauner ermitteln, der er selber ist.

In diesen Tagen ist Bordel nicht nur Kandidat der PDS für den Kreistag, sondern auch Dorfrichter Adam. Er sitzt im Ausschuß zur Untersuchung von “Amtsmißbrauch und Korruption”. Und wacht darüber, daß keiner allzu genau nachfragt, wie er etwa zu der Privatstraße gekommen ist, die zu seinem Gehöft führt, und mit welchen Mitteln er sein Haus ausgebaut hat.

Natürlich hat Bordel zur Wendezeit Protestversammlungen im Theater abgehalten, hat den Zug angeführt, der die örtliche Stasi auflöste. Und hat gleich zwei Stasi-Mitarbeiter an seinem Haus angestellt. Der Stasi-Funker besorgt jetzt die Tontechnik. Und Stasi-Hund Berry bewacht sein Gehöft.

Am nächsten Tag zeigt Bordel sein Theater und den Fundus, ein Leichenschauhaus mit früh gestorbenen Inszenierungen wie “Frau Holle” oder “Ein irrer Duft von frischem Heu”. Die Musikbox aus seinem eigenen Ausflug ins Regietheater, Shakespeares “Was ihr wollt” mit Fischernetzen, steht bei ihm zu Hause. Die letzte Vorstellung lief vor drei Besuchern. “Drei sind das Minimum.”

Aber warum eigentlich spielen? Und für wen? Die Subventionen fließen ohnehin. 1,7 Millionen Mark für eine Geisterkultur mit kleinen Privatgeschäftchen, von der rund hundert Beschäftigte ganz gut leben. Bordel führt über das Gelände. Im Fuhrpark ein Schulbus und zwei Lkw, die fürs Theater so gut wie nie gebraucht werden. In der Werkstatt wird das Sofa der Kostümschneiderin aufgepolstert. Im Schuppen neben der Requisite sind Ziegelsteine gehortet, Zementsäcke, Betonmischer und Teerpappe. Einer der Theaterleute baut immer.

Hoch steht die Sonne über dem alten Schützenhaus. Drinnen, im trüben Schankraum, sitzt die Stammbesetzung vom Abend zuvor. Mißmutig wischt der Wirt über die Regalbretter mit Aprikosenlikör und Nordminze, Rum “Kaminfeuer” und “Rotkäppchen”-Sekt. Sortiert Konfektschachteln, Marke “Grandios”, und Erdnußflips. Vor zwei Monaten noch war er Maler. Aber jetzt, wenn die Westler kommen, will er hier “‘ne Gaststätte mit Niveau aufziehen, wo man mal ‘ne Soljanka bekommt und ein Steak mit Kräuterbutter”.

Welcher Westler will ausgerechnet im Theater von Anklam eine Soljanka essen? Und warum muß die Suppe mit 1,7 Millionen Mark subventioniert werden? Die Westler . . . Der Radiosprecher verliest Einzelheiten zur Währungsunion. Irgendein Politiker spricht von Ehe und Aussteuer. Die Gespräche verstummen. Und einer sagt: “Der Westen wird uns überrollen!”

Plötzlich wird die Schwingtür aufgestoßen, und der Westen stapft in den Schankraum. Er trägt Lederjacke und Texanerstiefel mit roten Herzchen, und über die blauen Augen fällt ihm eine Strähne blondes Haar: Torsten Münchow aus Lübeck. Ein Boxertyp mit Kindergesicht, ein Glücksritter. Im Westen kämpfen Theater ums Überleben. Lübeck hat gerade dichtgemacht. Im Osten dagegen stehen sie noch. Auf nach Anklam!

Torsten, gerade 24, ist die Ochsentour gegangen. Schauspielschule, Provinztingel, große Rollen. Mit 21 hat er in Hamburg den “Woyzeck” inszeniert. Seine letzte Rolle war der “Konzentrationslager-Ehrhardt” aus Lubitschs “Sein oder Nichtsein”. Und nun will er im Osten Oberspielleiter werden, Bordel hat es ihm versprochen – Torsten, der Eroberer. Als er vor einigen Wochen aus dem Nichts hier auftauchte, waren sie alle schwer beeindruckt von seinen Plänen. Tourneeabstecher nach Meran! Und Computer und Telefone von seinem Freund Penzel aus Bayern! Philip Morris wird sponsern und Astra die Kantine aufmöbeln. Der strahlende Herold der neuen Zeit.

“Morgen kommt Penzel!” Das sagt er schon seit Wochen. Mittlerweile glaubt ihm keiner mehr. Die anderen im Schankraum werfen sich vielsagende Blicke zu. Penzel wird nie kommen, und Philip Morris erst recht nicht, hierher, ans Ende der Welt. “Was sollen wir jetzt tun?” fragt Becketts Wladimir. “Warten!” Und so warten sie im Theater, auf Penzel, auf den Westen, auf Godot. Ihr Favorit als Oberspielleiter ist Peter, der so alt ist wie Torsten. Er war Fischer, bis Bordel ihn holte. Er hat zwar keine Ahnung vom Theater. Aber er ist einer von ihnen.

Torsten hat noch gar nicht bemerkt, daß ihm allmählich die Felle wegschwimmen. Er probt, schiebt die Techniker, verkauft Theatertickets auf Schulhöfen. Er kann sich mittlerweile nur noch mit Vitamin-Spritzen auf Touren halten. Torsten ist theaterverrückt. Und noch schlimmer: Er ist liebestoll. Und er braucht das Theater, um seine Liebe zu inszenieren.

Seine Liebe zu Sylvia, der Schauspielerin aus Schwerin, die schön und zart an seiner Seite schwebt, in einem gelben Seidenkimono aus Vietnam, auf den weiße Kraniche gestickt sind. Er lernte sie kurz nach der Maueröffnung kennen. Jetzt ist sie im vierten Monat schwanger. Morgen soll Hochzeit sein. Und gleichzeitig Premiere. Zusammen inszenieren sie Sam Shepards “Liebestoll”, als DDR-Erstaufführung.

Vor vier Monaten wäre das noch ein Illustriertenstoff gewesen. Jetzt, im deutsch-deutschen Kater, ist es nur noch der peinliche Kitsch von gestern. Außer für Torsten. Man spielt nicht mit der Liebe? Mit was sonst soll man spielen? Die Bühne – ein Bett! “Hier”, sagt Torsten und wedelt mit einer Zeitung, “‘ne halbe Seite, wer hat das schon!” Auch die taz hat über Torsten und Sylvia geschrieben. Das Bett – eine Bühne!

Torsten aus Lübeck schnappt sich seinen Kaffee und verschwindet mit Sylvia im Theatersaal zur Generalprobe. “Das ist immer noch unser Land”, murmelt ihm einer hinterher. “Der macht sie doch fertig”, sagt ein anderer.

Sam Shepards “Liebestoll” spielt in einem Motelzimmer am Rande der Mojawe-Wüste, wo der Westen so trostlos ist wie Anklam. Ein Mann und eine Frau knallen aufeinander, hemmungslos, bedingungslos, mörderisch. Der Text? Pure Oberfläche. Trivial. Unergiebig für Gesellschaftsanalysen und dialektische Dramaturgenübungen. Eine Hülle, die von Wut und Haß und Leidenschaft weggesprengt wird. Regieanweisung des Autors: “Dieses Stück ist, ohne Pause, erbarmungslos durchzuspielen.”

Shepards New Yorker Off-off-Broadway-Inszenierung war ein Prügelwestern, war Körpertheater, in dem eine verschmierte Blondine und ein Baumfällertyp sich gegenseitig das Herz aus dem Leib zu reißen versuchten.

In Anklam steht Werner, ein schmaler, 40jähriger Alkoholiker, auf der Bühne und versucht ein Lasso zu schwingen. Und auf dem Bett liegt Kirsten, seine spirrlige Freundin, die mit dieser Rolle ihr Schauspielerinnendiplom machen möchte. Torsten-Lübeck hat einen mannshohen Pappfernseher bauen lassen, in welchem ein Schauspieler zu Playback Country singt. Es ist grauenvoll – und deshalb von alptraumhafter Klasse.

Der Westen im Ost-Theater. Amerika in Pommern, Rodeo in Anklam. Die Karambolage zweier Kulturen. Und mitten auf der Bühne, in einem Schrotthaufen aus Trabi-Blech, ein alter, grauhaariger Wolf, der ruhig und gelassen ist und niemand als er selbst. Ein Chargenspieler namens Gerhard Schönerstedt, der den Vater der beiden spielt – die Kinder, die sich da hassen und lieben, hat er beide gezeugt, mit verschiedenen Frauen.

Schönerstedt war 20 Jahre lang Parteisekretär der SED am Theater. Und früher, unter Hitler, war er in der anderen Partei. Er ist “zweimal verarscht worden im Leben”. Ende der fünfziger Jahre kam er hierher, in der Hoffnung, irgendwann “entdeckt zu werden”. Heute ist er 68 und wird den Egmont wohl nie mehr spielen. Aber der Alte in Shepards Stück liegt ihm. Die Macht des Verstandes? Pah – der Alte kann nur noch lachen! Zwei Kinder von verschiedenen Frauen, die sich ineinander verlieben. Zwei Deutschlands, die jetzt aufeinanderkrachen. Was gibt es da zu erklären! Man sollte lachen.

Leise erzählt Schönerstedt in der Kantine, über Rotkäppchen-Sekt und Schneeglöckchen aus Plastik, die in grünen Riffelvasen vor sich hinstauben, von seinem “ergreifendsten Theatererlebnis”. Damals, da war er noch Parteisekretär, spielte er ausgerechnet unter Castorf in Heiner Müllers “Schlacht”. Und als er in der Bomberpilotenszene mit einem abgeschlagenen Kopf über die Bühne gehen sollte, schlug er Castorf vor, “ein bestimmtes Lied” zu summen, das man früher gesungen hat. Castorf war sofort einverstanden.

“So ging ich über die Bühne”, sagt Schönerstedt versonnen. “Der Kopf war in Zeitungspapier eingeschlagen, Blut tropfte heraus, und ich summte ,Die Fahne hoch . . . SA marschiert’.” Schönerstedt wischt sich über die Augen. “Mir waren die Tränen näher als alles andere. Das war so feierlich, so choralartig. Und die alten Genossen im Parkett waren ebenso hin, das ging durch Mark und Knochen.”

Ein junger Theaterpunk, ein abgeschlagener Kopf, Schlachtenerinnerungen alter SED-Genossen an ihre Nazizeit und Tränen beim Horst-Wessel-Lied – mit der Macht des Verstandes hat das nichts zu tun. Aber mit Deutschland.

Anklamer Voodoo – wer hier überleben will, muß unter harten Schalen böse träumen können, muß ein Käfer werden unter schweren Steinen. Er darf nicht naiv sein und ganz sicher nicht liebestoll. Torsten ist zusammengebrochen. Auf den Matratzen seiner Mansardenwohnung erzählt er von seinem letzten Alptraum. Er hatte sich in einen Frosch verwandelt und lebte in einem Teich, einem nebelverhangenen pommerschen Froschteich. Er lernte zu quaken und zu schwimmen und verstand sich mit den anderen Fröschen, bis er merkte, daß er gefressen wurde.

Sylvia kocht Tee. Auch sie hat geträumt. Sie picknickte im Schutz der Berliner Mauer. Plötzlich bemerkte sie, wie von der Westseite her schwarzmaskierte Soldaten über die Mauer kletterten, lautlos, eine richtige Invasion. Sie floh. Die Schwarzen besetzten die Hauseingänge. Sie flüchtete über die Dächer und stürzte ab. Deutsche Träume.

Beide wollen in Anklam Stücke spielen, die hier nie gezeigt werden durften. Die Phantasie an die Macht! Doch das Theater ist hinter ihrem Rücken schon längst verraten und verramscht. Der gemütliche Dr. Bordel hat andere Pläne, als Cocteau aufzuführen, oder Beckett oder Ibsen. Und er hat recht damit. Denn Anklam braucht kein Theater. Anklam braucht einen Exorzisten. Irgend jemanden, der die Gespenster vertreibt, die Verhexungen löst.

Im “Volkshaus”, der einzigen Kneipe des Ortes, die bis abends um zehn geöffnet hat, sitzen ungefähr 150 Jahre Zuchthaus zusammen, harte Trinker mit Hakenkreuzen auf den Unterarmen, die davon träumen, Juden und Kommunisten und “dieses ganze Viechzeug” abzuknallen.

In der Gärtnerei einer LPG dagegen steht Frau Dr. Töwe, eine kernseifigmuntere BDM-Blondine, und schneidet Rosen. Vor einem Jahr noch hat sie, als Parteisekretärin für Agitation und Propaganda, Brandreden gegen einen Heine-Abend gehalten. “Hier lachen die Leute, die uns bald aufhängen werden”, beschwor sie Bordel damals. Heute besucht ihr Mann, Kombinatsleiter und SED-Vasall, eine Managerschule. “Wir sind anpassungs- und lernfähig”, sagt Dr. Töwe und strahlt.

Durch die engen Straßen Anklams prescht ein Trabi. Er verfolgt einen Golf. Er zwingt ihn zum Halt. Heraus springt ein Halbwüchsiger und zückt eine Karte, die ihn als “Hilfspolizist” ausweist. Das Westauto, behauptet er, sei falsch abgebogen. Und dann fordert der Hilfssheriff, Feierabend-Akrobat des “Fritz-Reuter-Ensembles” und Clint-Eastwood-Fan, D-Mark. Als sich der Westler seine Personalien aufschreiben will, verschwindet er in der Nacht.

Weit draußen vor der Stadt, hinter den lohenden Rapsfeldern, hocken Lin und Doc und 40 andere Vietnamesinnen, zusammengepfercht in Sechs-Bett-Zimmern in einem verfallenen Gehöft. Die Mieter der Südstadt wollten sie nicht in ihrer Siedlung dulden. Sie sind als Geiseln der “Internationalen Völkersolidarität” gekommen und arbeiten im Kleiderwerk für 380 Mark im Monat. Doch zur Zeit wird gar nicht gearbeitet. Ihre deutschen Kolleginnen, die das Dreifache verdienen, streiken. Gegen die Niederlassung ausländischer Firmen. Und für ein Einfuhrverbot von Kinderschuhen. Ob sie im Theater schon “Liebestoll” gesehen haben? “Also, wenn ich von der Arbeit komme”, sagt eine Dicke in geblümter Schürze, “dann bin ich ganz bestimmt nicht liebestoll.” Die anderen kreischen.

Auch in der Oberschule, ein paar hundert Meter vom Theater entfernt, wird gestreikt. Für höhere Löhne und einen Kündigungsschutz auf zehn Jahre. Die Deutschlehrerin kann sich nicht erinnern, wann sie zum letztenmal im Theater war. Das soll so “modernistisch” sein, sagt sie, die Lehrerin für Literatur.

Auf dem Marktplatz spricht ein DSU-Vertreter. Er sagt: “Selbst die Neger haben eine Demokratie, nur wir nicht.” Daneben versucht ein fliegender Händler mit Goldzahn und pomadisierten Haaren aus einem Nürnberger Mercedes heraus “echt vergoldetes Besteck, 25teilig in schmucker Kassette” loszu* Im Kleiderwerk von Anklam. werden, für 2500 Ost-Mark, als Kapitalanlage vor der Währungsunion.

Ein Staat löst sich auf, die Wirklichkeit löst sich auf, und im Rathaus geben sich Torsten-West und Sylvia-Ost das Jawort. Feierlich spricht die Standesbeamtin von der Freude an “gemeinsamen Anschaffungen” und drückt einen Knopf unter der Schreibtischplatte, worauf die Orchesterversion ausgerechnet von “Strangers in The Night” erklingt. Dann treten alle in die Mittagssonne hinaus und stellen sich fürs Hochzeitsfoto auf, auch Torstens Mutter und Sylvias Vater, die sich von der ersten Sekunde an nichts zu sagen hatten. Sie ist Schriftstellerin. Er arbeitet als Ingenieur im KKW Greifswald. Er hat Angst um seine Tochter. Sie wundert sich über ihren Sohn.

Und abends ist Premiere. Abends strömen die Premierengäste, das Anklamer Establishment: der ehemalige Leiter des Zuckerkombinats und Herr Kruse mit Frau, Leiter des Fritz-Reuter-Ensembles. Dazu noch ungefähr 20 andere Theatergänger. “Bei uns ist die Bude immer gerammelt voll”, sagt Kruse gutgelaunt. An diesem Abend dagegen sind von den 300 Plätzen gerade 50 verkauft.

Die Abteilung “Öffentlichkeitsarbeit” wird von Herrn Flesch geleitet, einem ehemaligen Bauarbeiter, den alle “Fleschi” nennen. Bordel, der Bau-Herr, hatte ihn eingestellt. Fleschi, der die Ärmel seines taillierten Sakkos gerne hochgekrempelt trägt, beobachtet das Theater von der Analphabetengrenze aus mit äußerstem Mißtrauen. Vor Jahren gab es mal eine Art Handzettel. “Theater Anklam – Theater IHRES Interesses” stand darauf. Seither passiert nichts, doch Fleschi befehligt immerhin sechs Leute.

Das Stück hat er nicht gesehen. “Handelt irgendwie von . . . äh . . . Amerika, oder?” Warum er glaubt, daß an diesem Abend nur drei Reihen verkauft sind? Seine Frau Dörthe, die hinter der Kasse sitzt, springt ihm bei. “Weil wir niemanden mehr zwingen dürfen”, sagt sie, und ihre Stimme bebt vor Mißbilligung. Zwei Minuten vor Vorstellungsbeginn stürzt Sylvia herbei und möchte noch ermäßigte Karten für überraschend eingetroffene Freunde. “Nee”, sagt Dörthe, “das hättest du letzte Woche schriftlich beantragen müssen.”

Und dann stoßen auf der Bühne wieder zwei Welten aufeinander, ein amerikanisches Muskellibretto und zwei realsozialistische Sänger, und auf seinem Trabi-Schrotthaufen sitzt Gerhard Schönerstedt und schaut ins Publikum, und er lacht und lacht und lacht.

Eine Woche später wird im alten Schützenhaus hinter dem Friedhof die Zukunft gemacht. Bordel ist in der Zwischenzeit für die PDS in den Kreistag gewählt worden. Seine Zukunft ist gesichert. Nun geht es um die seines Theaterhobbys. Während sich das Ensemble unten im Klub zur Vollversammlung einfindet, schreitet oben, in Bordels Intendantenzimmer, das Theaterkalb Torsten zur Schlachtbank. Penzel ist nicht gekommen, und die Premiere war nur ein mäßiger Erfolg. Er unterschreibt einen Vertrag als Spielleiter. Oberspielleiter bleibt Peter. Torsten Münchows Bezüge: 900 Mark plus Leistungsprämie. Schwungvoll zieht er seine Anfangsbuchstaben übers Papier, und das H bekommt einen Extra-Schnörkel.

Der Vertrag stammt noch aus der alten Zeit. In einer Präambel verpflichtet sich Torsten, “die wachsenden kulturellen und künstlerischen Bedürfnisse der Arbeiterklasse und aller Werktätigen immer besser zu befriedigen”. Dann steigen beide hinab in den Klub, wo 100 Menschen gleichmütig auf die Bestätigung ihrer fortlaufenden Bezüge warten, Früh- und Spätrentner, die ebensogut in einer Konservenfabrik arbeiten könnten. Die Republik ist am Arsch, und das Theater sowieso. Fast überall. Wen kümmert’s.

Das Geld fließt weiter, verspricht Bordel gleich zu Beginn. Nur müßten sich alle mehr anstrengen. Seine Vision vom Theater? Fremdenverkehr mit Bums! “Die Werkstätten könnten Anklam-Souvenirs herstellen, Tücher und Schlüsselbretter, wo ,Gruß aus Anklam’ draufsteht.” Wer um Himmels willen möchte an Anklam erinnert werden? Und mit welchen Motiven? Mit den “Wohnblocks vom Typ WBS 70”, die stolz im Stadtführer erwähnt werden? Die Werkstättenleute grinsen.

“Und die Öffentlichkeitsarbeit”, fährt Bordel fort, “könnte sich ,Nord-Agentur’ nennen und eine touristische Zimmervermittlung übernehmen.” Aber wo will Fleschi, selbst wenn er telefonieren könnte, Zimmer herkriegen in Anklam? Die Baukombinatsmafia hat sich lediglich um die Datschen der SED-Prominenz gekümmert – in Anklam ist die Wohnungsnot groß. Und es gibt nicht ein einziges Hotel. “Hunderttausende von Touristen”, bringt sich Bordel in Fahrt, “müssen durch Anklam, wenn sie zur Ostsee wollen – die müssen wir irgendwie abgreifen.” Einer schlägt Straßensperren vor.

Dann stellt Peter seinen Theaterspielplan für den wilden, harten, bösen Anklamer Osten vor. “Als Knüller” zur Saisoneröffnung eine Inszenierung des Intendanten, nämlich “Das Wirtshaus im Spessart”. Bordel erläutert. Das Theater müsse sowieso umgebaut werden. Regieexperimente nur noch im Klubraum. Und in den großen Saal kommen Tische. Da können Getränke serviert werden und Noten zum Mitsingen. Eifrig schlägt eine Schauspielerin Sonntags-Quiz-Veranstaltungen vor. “Das könnte ein gesellschaftlicher Höhepunkt werden.”

Da platzt, ganz im hintersten Eck des Raums, eine dunkle Stimme in das fröhliche Geschnatter. “Das Problem an diesem Theater”, ruft Manfred Otto mit kalter Wut, “ist der Dilettantismus der Intendanz.”

Und plötzlich geht es nicht mehr um alberne Anklamer Zukunftsmusik, sondern wieder um die bösen Gespenster der Vergangenheit. Seit sieben Jahren hat Otto nicht gespielt. Seit sieben Jahren ist er kaltgestellt. Seit sieben Jahren haßt er den dicken, gemütlichen Doktor, der jetzt in seiner wendebeschwingten Kinderschar zum Marsch in den fröhlichen Provinzkapitalismus ansetzt.

Otto ist ein Profi. Er hat früher selber Schauspielunterricht gegeben. Mit blutendem Herzen hat er mitangesehen, wie dieses Theater von einem Spießer ruiniert wurde. Sein Haß ist längst zur paranoiden Fixierung geworden. In zusammenhanglosen, parolenartigen Schüben hat er ihn in einem Brief an die Kreisleitung formuliert. Dieser Brief wird nun vorgelesen.

Otto spricht darin von “Konzeptionslosigkeit”, von “stalinistischer Alleinherrschaft”. Davon, daß der Intendant “mit Menschen und Material umgeht, wie er will”. Theater, meint Otto, ist ein Seiltanz. Das muß man können, sonst stürzt man ab. Die Bretter, sagt er, seien doch heilig. “Wir könnten im letzten Schuppen spielen – wenn wir die Leute wirklich packen, dann brauchen wir keine Pufftischchen mit Weinausschank.”

Bordel wartet ab, bis die ersten seiner jungen Kläffer über den Störenfried hergefallen sind. Dann stellt er, ganz demokratisch, den Antrag, Otto zu kündigen. “Er hat sich mit diesem Brief vom Kollektiv gelöst.”

Kaum einer in diesem ganzen Haufen, der dem Schauspieler zur Seite steht. Alle, vor allem die jungen, verdanken Bordel ihr Brot. Am Theater von Anklam findet die Revolution nicht statt.

Aber die Wende. Bordels Wende. Auf seinem Anwesen hinter den Rapsfeldern empfängt er am nächsten Abend hohen Besuch aus Hamburg. Einen mäkelnden, älteren Herrn, der von den Flausen spricht, mit denen die Schauspieler sich an “einer Literatur abzappeln, die die Leute hier nicht sehen wollen”. Und der schnaufende Doktor ist beglückt, als ihm der Besucher ein Gastspiel “vielleicht für 91” in Aussicht stellt. Es ist der Intendant des “Ohnsorg-Theaters”.

Der Raps glüht. Anklam versinkt in der Nacht. Das alte Schützenhaus steht leer bis auf den Schankraum, wo einige versprengte Schauspieler über ihrem Bier brüten. An den Wänden die Programme anderer Provinzbühnen. Spitzenreiter ist Lehars Operette “Land des Lächelns”.

 



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