Fußball ist wichtig, noch wichtiger aber sind den Brasilianern derzeit die Massenproteste: Während ein Freund das Confed-Cup-Spiel Italien gegen Japan verfolgte, hat Matthias Matussek mit ihm geskypt: Ein Gespräch über Politik – und spielentscheidende Momente.
“Du kannst dir das nicht vorstellen”, sagt Servulo, der mit glänzenden Augen vor seiner Skype-Kamera sitzt, es ist nachts, im Hintergrund spielt Japan gegen Italien im Confed Cup, was wunderbar ist, denn Japan führt, die Italiener mag man nicht, da waren wir uns immer einig.
“Hunderttausende gehen auf die Straße, heute werden in Rio eine Million erwartet.”
Was ist da los bei euch? “Wir werden erwachsen, das ist los!”
Auf der Avenida Presidente Morais haben die Angestellten aus den Bürotürmen weißes Konfetti auf die Demonstranten regnen lassen, weiße Tücher aufgespannt.
Ich muss an die Neujahrsfeiern an der Copacabana denken, alle in weiß, alle mit weißen Gladiolen, Millionen unterm Feuerwerk, die Cariocas schaffen selbst Millionen-Versammlungen friedlich und schön.
Aber das hier ist Politik. Kein Happening. Wobei sich das ja nicht ausschließen muss. Aber trotzdem, POLITISCHE Proteste?
Ausgleich durch Eigentor
“In meinen 61 Jahren habe ich so was nur einmal erlebt”, sagt Servulo, “das war in den achtziger Jahren in Bonn, es hat geregnet.” In Bonn hatte er mal studiert. Derzeit bringt er irgendwelchen EU-Angestellten Portugiesisch bei, er ist Sprachlehrer, aber auch Ethnologe, Kulturwissenschaftler, Strandspezialist, kennt jeden Beamten vom Ordnungsamt, was nützlich ist, kennt, jede Platte von Caetano Veloso auswendig, was geradezu lebenswichtig ist.
“Müsst ihr denn ausgerechnet jetzt auch in Rio diese Demos mitmachen?”
Rio kocht. Ganz Brasilien kocht. In São Paulo, Fortaleza, Belo Horizonte, Servulos Heimatstadt gehen Menschen auf die Straße. Aus den unerschiedlichsten Gründen, aber mit einem einzigen Gefühl. “Es reicht.”
Ein paar Occupy-Masken sind dabei, aber auch Samba-Flitter, Parteiparolen werden nicht geduldet, denn natürlich versucht auch die regierende Partei PT Kapital zu schlagen – ein Jahr vor der Präsidentenwahl.
Wut ist der Stoff, rund um den Globus, ob auf dem Taksim-Platz in Istanbul, ob in New York oder Santiago de Chile, der Mittelstand marschiert, und Servulo ist Mittelstand und marschiert ebenfalls. Es sind Lächerlichkeiten wie Fahrpreiserhöhungen. In Rio wurden die Minivans abgeschafft.
Rio, erzählt Servulo, ist ein einziger Stau. “Aber das war doch immer schon so”, sage ich.
“Aber jetzt kommen die Baustellen für die WM und die Olympischen Spiele hinzu”, sagt er, und plötzlich: “Ach du Schande, so’n Mist!” Ausgleich im Spiel Italien-Japan. Mir fällt ein Stein vom Herzen, Servulos Instinkte funktionieren noch.
Italien geht in Führung
Aber Servulo ist genauso perplex wie ich über dieses neue urbane Brodeln. “Weißt du, wir haben uns doch an alles gewöhnt, an die Korruption, die Misswirtschaft, die miserablen Schulen, die Telefonmasten, die bei jedem Sturm umkippten, und immer gab es einen jeito, und jetzt das.” Und ob ich das weiß.
Ich erinnere mich gut an den jeito, das typisch brasilianische Mittel, das alles möglich macht. Es gab ihn bei jeder Polizeikontrolle, die oft nur Abzockfallen waren. Entweder man entrichtete seinen kleinen Obulus für weitgehend erfundene Fahrzeugmängel an Ort und Stelle und ohne weiteren Papierkram – oder man erhielt förmliche Strafbefehle und musste irgendwann Stunden irgendwo anstehen, Stunden, die man doch sinnvoller am Ipanema-Strand verbringen konnte.
Jetzt gehen sie auf die Straße gegen Korruption, für bessere Schulen, für besseren Transport. “Vielleicht geht’s euch einfach zu gut?”
Mag Servulo nicht ausschließen. In den vergangenen Jahren hat Rio gemeinsam mit Brasilien ein Wirtschaftswunder hingelegt. Die Favelas sind saniert und weitgehend drogenfrei, dafür hat Professor Marco Tullio Zanini als einer der Strategen eines neuen Polizei-Corps gesorgt.
Den Kampf gegen die Drogenbanden habe ich miterlebt, brutales Geschäft, für 300 Euro pro Monat riskierten die Uniformierten ihr Leben, logisch, dass manche die Hand aufhielten. Nun sind sie echte Ordnungshüter.
Und nun sind nicht mehr die Gangster die Gegner, sondern die, vor denen sie sie schützen sollten: die Zivilgesellschaft.
“Das darf doch nicht wahr sein”, brüllt Servulo, “die Italiener sind in Führung gegangen.”
Ausgleich Japan, erneute Führung Italien
Eigentlich müsste doch alles in trockenen Tüchern sein: Die Seleção hat offenbar wieder Tritt gefasst mit Neymar, dem Goldjungen, aber trotz Fußball ziehen die Brasilianer demonstrierend auf die Straßen.
Nicht trotz, sondern gerade deswegen.
Und das ist für mich das größte aller Rätsel. Ich kann mich noch an die Freudentänze erinnern, als Brasilien den Zuschlag für die WM bekam. Doch jetzt wird gerechnet. Was das alles kostet. “Das hätte euch doch früher nie interessiert!” Nie im Leben hätte jemand Fußball gegen Bildung oder Gesundheitswesen aufgerechnet.
“Stimmt”, sagt Servulo, “aber trotzdem reicht es.”
Der Staat bläht seine Bürokratien auf. Brasilien ist das Land mit den meisten Ministern. “Du weißt, dass wir einen Fischerei-Minister haben, oder? Demnächst kriegen wir wahrscheinlich ein Ministerium für Ameisen.” Der Staat Para sollte aufgeteilt werden. Das hätte bedeutet: zwei Hauptstädte, zwei Gouverneure, zwei Kabinette mit unendliche viel Ministerien.
Möglicherweise hängt der Verdruss auch mit der langen Regierungsdauer der PT und ihren Pöstchen-Schiebereien zusammen.
Ich kann mich noch erinnern, wie an der Copacabana Samba mit roten Fahnen getanzt wurde, als Lula, der linke Gewerkschafter gewann. Unter Lula wurden der Hunger bekämpft, die Schulen verbessert, ein Mittelstand geboren, Brasilien war Wirtschaftslokomotive geworden, und die Brasilianer waren stolz.
Doch als Lula abtrat, als seine zweite Amtszeit ausgelaufen war, trat ein Heiliger ab. Sein Ziehkind, die neue Präsidentin Dilma Rousseff – wie er gestählt in den Kämpfen gegen die Diktatur in den sechziger Jahren – konnte zwar Lulas Amt, aber nie seine unbestrittene Popularität erben.
Zur Eröffnung des Confed Cup wurde sie ausgepfiffen.
“Sie ist völlig ratlos”, sagt Servulo. “Jetzt will sie sich mit Lula treffen.”
“Worum geht’s euch denn?”
“Ach ist doch egal”, sagt er, plötzlich deprimiert und lustlos, denn gerade ist Italien nach einem erneuten Ausgleich der Japaner wieder in Führung gegangen.
“Es muss sich ändern.”
“Was denn?”
“Alles.”
Erschienen am 20.06.2013 www.spiegel.de
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