In einem Essayband polemisiert Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa gegen den Niedergang der modernen Kultur, die kein oben mehr kennt, kein unten, keine Grenzen.

Sie ist nicht neu, aber genau darin liegt ihre Kraft: die Kritik an der Zeit, vorgetragen vom Unzeitgemäßen. Es gibt sie immer wieder, von Platons Schelte über den Sittenverfall der Jugend bis zu Nietzsches Kulturkritik an den zynischen “Spätlingen” in seinen “Unzeitgemäßen Betrachtungen”. Jedes Mal waren auch Wahrnehmungsschärfungen über gesellschaftliche Fehlentwicklungen in den Polemiken enthalten.

Diese Art von Fundamentalkritik ist – tja: außer Mode. Nie war das Unzeitgemäße verachtenswerter als heute. Es gibt ein Vorurteil der Moderne zugunsten des Allerneuesten, gegen die Verteidiger der Tradition, die als Anachronisten belächelt oder als Reaktionäre verteufelt werden, mit dem Schwefelgeruch der Unbelehrbarkeit, der dem Begriff anhaftet.

Was aber, wenn der Fortschritt trügerisch wäre? Wenn die Progression in den Abgrund führte? Ist dann die reaktionäre Haltung nicht die eines Sanitäters, der den Unglücksopfern zur Seite springen möchte? Heute, in Zeiten des Spektakels, ist die Unzeitgemäßheit in der öffentlichen Arena das, was Lepra im Mittelalter war. Wer nicht mit angelegten Ohren in ständig kürzeren Innovationsschüben durchs All der aktuellsten Welterklärungen und Rollen schießt, wird aussortiert.

Dieser Tage erscheint im Suhrkamp Verlag ein Essayband des Nobelpreisträgers Mario Vargas Llosa. Er heißt “Alles Boulevard” und ist ein einziger Angriff auf das Zeitgemäße(*). Man muss nicht allem zustimmen, aber selten ist eine so entschlossene Philippika gegen den aktuellen Lärmbetrieb gehalten worden.

Der Untertitel des Buchs enthält die Kernthese: “Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst.” Es ist ein konservativer Einspruch gegen den Verfall der Theorie, die Entmachtung von intellektuellen Eliten, den Niedergang der Erotik, die Korruption durch den Skandaljournalismus, die Trivialisierung der Politik.

Mario Vargas Llosa, 77, weiß, wovon er spricht. Er erneuerte den lateinamerikanischen Roman, war Politiker, Dozent und Kritiker, lebte in Lima, Paris, Madrid, London, in den USA und kennt die Moden der Theorie, kennt die Weltkultur.

Von Vargas Llosa gibt es dieses Foto aus dem peruanischen Präsidentschaftswahlkampf, der silberhaarige Gaucho mit seiner Sonnenbrille auf einem Pferd, damals zog er in die Politik gegen die Amtsführung des korrupten linken Präsidenten Alan García. Er war damals ein liberalkonservativer Don Quijote, der tatsächlich im ersten Wahlgang vorne lag. Er kennt die Politik als Spektakel, von innen und von außen. Für Romane wie das Dschungel- und Bordell-Epos “Das grüne Haus” oder “Der Geschichtenerzähler” über einen jüdischen Ethnologen, der verschlungen wird vom Wald mit seinen wuchernden Mythen, bekam er 2010 den Literaturnobelpreis.

Nun also “Alles Boulevard”, das im Originaltitel “Die Zivilisation des Spektakels” heißt, ein Buch, das von spanischsprachigen Kritikern mit Bewunderung, aber auch mit Ironie bedacht wurde, weil es wenig zeitgemäß sei.

Zunächst zeichnet Vargas Llosa die Metamorphose des Kulturbegriffs nach: von T. S. Eliots “Notes Towards the Definition of Culture”, in denen Kultur als die einer Minderheit oder Elite definiert ist, die ohne christliche Wurzeln nicht denkbar wäre, über George Steiners düsteren Befund, dass die Gräuel “zwischen dem Ausbruch des Ersten und dem Ende des Zweiten Weltkriegs” jeden veredelnden Effekt aus der Kultur vertrieben haben, hin zu Guy Debords anarchistischer “Gesellschaft des Spektakels”, der die kapitalistischen Verdinglichungen der Kultur mit seiner Guerilla des situationistischen Spiels zu sabotieren trachtete. Jeder Schritt eine Banalisierung, eine Entzauberung des Begriffs.

In einer weiteren Theoriewelle wurde Gilles Lipovetskys und Jean Serroys Buch “Culture-monde” populär, eine Weltkultur, die die Einebnung aller nationalen, religiösen und ethnischen Differenzen vollzog und eine Gleichwertigkeit von Eskimo-Kultur und Shakespeares Sonetten behauptete. Alles ist Kultur, und damit ist nichts mehr Kultur, in dieser Überdehnung plätschern wir dahin.

Dabei ist diese in Ansätzen optimistische demokratische “Weltkultur”-Theorie vom “Mainstream”-Befund Frédéric Martels längst widerlegt, der zeigt, wie sich die Kultur unter den Bedingungen der Entertainment-Industrie in Augenblickserfolgen erschöpft. Da ist nichts mehr, was über den Tag hinaus dauern möchte, dauern kann.

Die Entwicklung von T. S. Eliot zu Frédéric Martel liest sich für Vargas Llosa wie eine Grabesinschrift der Kultur: “Es ist der traumatische Umzug in eine neue Wirklichkeit, in der kaum noch Spuren bleiben von jener, die sie verdrängt hat.”

Der Intellektuelle als Instanz, so Vargas Llosa, ist abgeräumt und durch Blogger ersetzt. Möglicherweise, könnte man einwenden, trauert da einer seinem Bedeutungsverlust nach, aber er schreibt von Leuchttürmen wie Sartre oder Moravia oder Enzensberger. Der Betrieb braucht sie nicht mehr, die großen Einzelnen.

Und warum? Weil der Kulturbegriff mittlerweile ausgedehnt ist auf eine vage Gesamtheit aus Bräuchen und Sitten, aus Sprache, Glaube, Kleidung, Technik, auf die Kochkunst genauso wie die Ekstase-Messen der Rave-Keller, die Haute Couture oder Fußball, die Unterhaltungsschwarte genauso wie Joyce’ “Ulysses”. Kurz: Die Kultur kennt keine Hierarchien mehr, keine Grenzen.

Die Kritik als Institution hat sich aufgelöst. Der Unterhaltungswert ist zum alleinigen Kriterium geworden, wichtiger für den Erfolg eines Buchs ist nicht die Besprechung im Feuilleton, sondern dass es im Fernsehen vorgestellt wird. Die bildende Kunst? Der Wert eines Kunstwerks bemisst sich nach seinem Preis, nicht etwa umgekehrt.

Wir begleiten Vargas Llosa, wenn er die Londoner Show “Sensation” besucht, wo ein Marienbildnis mit Porno-Schnipseln und Elefantendung kombiniert wurde, und wir begreifen seinen traurigen Widerstand sofort. Wer das nicht tut, den nimmt er mit in die Ausstellung “Seurat und die Badenden” und verweilt vor einem Bild, an dem Georges Seurat zwei Jahre lang arbeitete, lenkt den Blick “auf die Ruhe der Figuren”, auf die Landschaft, “diese tiefe Harmonie zwischen Mensch und Wasser, Wolke und Segelboot, eine Demonstration vollkommener Beherrschung des Werkzeugs”.

Kultur bedeutete Bildung und einen Kanon, ein “gemeinsames Erbe von Ideen, Werten und Kunstwerken”. Heute, so Vargas Llosa, ist keiner mehr gebildet, auch wenn alle glauben, es zu sein.

Natürlich beschäftigt er sich auch mit den Salondenkern, den Poststrukturalisten, die er in seiner Pariser Zeit kennengelernt hat – ja, seine Essays bilden auch die Autobiografie eines Intellektuellen und seiner Kunsterfahrungen. Vargas Llosa war mit Baudrillard befreundet. Nun schaut er kopfschüttelnd zurück auf die “Stunde der Scharlatane”.

Sicher, “dass wir in einer Zeit der Abbilder leben, der Repräsentationen”, scheint ihm wahr zu sein, aber die theoretischen Balletttänzer tun das Ihre, um an der Entwertung der Wirklichkeit mitzuarbeiten, das geht hin bis zu Baudrillards Behauptung, der Golfkrieg habe gar nicht stattgefunden, er sei eine reine TV-Farce gewesen.

Das Bildungssystem? Erst recht im Verfall. Vargas Llosa berichtet von einer TV-Dokumentation über eine Schule in der Pariser Banlieue, voller Waffen, Drogen und Gewalt, und er beschreibt einen gespenstischen Gewöhnungsprozess – eine Lehrerin erklärt, solange sie mit Kollegen gemeinsam zur Schule gehe, sei sie sicher vor Prügeln: “Es ist alles in Ordnung.”

Dies führt er zusammen mit Ideen von Foucault, der die Schulen der westlichen Welt als Machtinstrumente verstand, in denen hocheffiziente Formen der Unterwerfung und Entfremdung genutzt würden, um die Schüler zu unterdrücken. Foucault habe angenommen, so Vargas Llosa, wahre Emanzipation erreiche man nicht in Klassenzimmern oder an Wahlurnen, sondern “mit Steinwürfen auf Polizisten, mit dem Besuch einer Schwulensauna in San Francisco oder eines SM-Clubs in Paris”.

Bis zum Schluss übrigens leugnete Foucault die Wirklichkeit von Aids, jener Krankheit, an der er starb – für ihn war sie ein Täuschungsmanöver des Establishments.

Vargas Llosa spricht Foucault nicht ab, Wahrheiten über den Wahn oder die Sexualität erkannt zu haben. Doch was nach ihm kam an postmoderner Theorie, sei zu einer delirierenden Veranstaltung dekonstruktivistischer Schwätzer verkommen.

Die Wirklichkeit gibt es nicht? Stattdessen nur noch ein Dickicht von Diskursen, Sprache nur noch als Kontrollinstrument? Haben nicht, so Vargas Llosas Einwand, Denker von Sokrates bis Marx, von Nietzsche bis zu Joyce, die Mächtigen und Konventionen herausgefordert?

Eine weitere Verödung besichtigt der Essayist in einem für die Kultur besonders inspirierenden Terrain, der Erotik. Sein Ausgangspunkt ist ein Onanier-Kurs, der in spanischen Schulen unter dem Titel “Die Lust in deiner Hand” angeboten wurde. Wie wurde da wohl benotet?

Die Erotik “verschwand zur gleichen Zeit wie die Kritik und die Hochkultur”. Kein Spiel, kein Kunstwerk aus Phantasie und Ritual und subversiver Regelverletzung, nur noch promiskes Ineinanderstürzen. Er greift zurück auf die erotischen Zeichnungen Picassos und vergleicht sie mit Catherine Millets manischen Ausflügen in den “kalten Sex” auf den Ladeflächen von Lieferwagen. Welch ein Höllensturz!

Der Journalismus! Längst mit dem Boulevard verbrüdert, mit der Lautstärke, dem kurzweiligen Reiz. Da wird einer wie Julian Assange zum Freiheitshelden! Für Vargas Llosa eher ein ruhmbesessener Polit-Pornograf, dessen Geheimnisverrat – der nur im freien Westen möglich war – hauptsächlich das unseriöse Interesse an politischem Klatsch befriedigte.

Wir, die wir die Demokratie und ihre Freiheiten genießen, die Kunst, die Ideen, die Werte, die Literatur, wir haben die Freiheit genutzt, “ein allgemeines Recht zu etablieren, zynisch auf alles herabzuschauen, was langweilt, beunruhigt und uns daran erinnert, dass das Leben nicht nur Vergnügen ist, sondern auch Drama, Schmerz, Mysterium und Enttäuschung”.

In diesem Zusammenhang stellt Vargas Llosa, der Diktatur in seinem Heimatland kennengelernt hat, die Frage, die sich heute alle Jugendlichen in der westlichen Komfortzone stellen sollten: Wären auch sie bereit, für die von ihnen so zynisch verachtete Freiheit das eigene Leben zu riskieren, wie es die Jugend während der Arabellion vorgeführt hat?

Im letzten Kapitel, das er “Das Opium des Volkes” nennt, nimmt Vargas Llosa erneut T. S. Eliots Gedanken zur Religion auf, der befand: “Ohne das Christentum als Hintergrund hätte unser ganzes Geistesleben keinen Sinn.” Vargas Llosa, der selbst nicht gläubig ist und reichlich Kirchenkritik liefert, gibt ihm erstaunlicherweise recht. Er, der Matador des freien Marktes, ist sich sicher, dass der Zusammenbruch der Banken auf einen “Zusammenbruch des moralischen und geistigen Haltes, wie ihn das religiöse Leben bietet”, zurückzuführen ist.

Die grassierende Frivolität in einer Kultur des Spektakels bedeutet eine moralische Entwaffnung in einer “gottlosen Kultur”. Was für eine Wortwahl eines Agnostikers. Er warnt die Religion vor einer “Banalisierung ihrer selbst”. Nicht von ungefähr hatte er die Leserschaft der linken Tageszeitung “El País” damit geschockt, dass er den Papstbesuch zum Weltjugendtag in Madrid bejubelte.

Vargas Llosa empörte sich damals über die Demonstranten, die betenden Mädchen Kondome zuwarfen, er nannte den Papst den “gebildetsten”, den es nur geben könne, und verteidigte die Kirche in all ihrer autoritären Verfasstheit. Eine Abschaffung des Religionsunterrichts, so schreibt er nun, würde der Jugend ein gewaltiges Wissen verschließen und der Kultur des Spektakels alle Tore öffnen.

“Alles Boulevard” ist eine melancholische Musterung unserer kulturellen Trümmerlandschaft im Dämmerlicht des Alters.

Nicht ohne Schrecken. Noch nie, so schreibt Vargas Llosa, waren wir so reich an wissenschaftlichen Neuerungen und noch nie so ratlos, wenn es um die alleingültige Frage geht: “Was tun wir auf diesem unseren Gestirn ohne eigenes Licht, wenn das bloße Überleben das einzige Ziel und die alleinige Rechtfertigung für das Leben ist?”

Etwas geht zu Ende. Es ist ein Gefühl, das offenbar von vielen geteilt wird. Den Prix Goncourt erhielt im vergangenen Jahr Jérôme Ferraris kunstvoller Roman “Predigt auf den Untergang Roms”. Der Titel spielt auf eine Predigt des Augustinus an, die der im Angesicht der Bedrohung durch die Westgoten hielt.

Vordergründig geht es um das Ende einer Kneipe auf Korsika, die zwei aus Paris gekommene Intellektuelle betreiben, auch um das Ende des französischen Kolonialreichs – doch im Kern um das Ende einer Kultur, wie wir sie kennen.

Erschienen am 15.04.2013 im DER SPIEGEL 16/2013