Wo schlägt in diesen Tagen ein nahezu 80-jähriger Groß-Schriftsteller, ja Nobelpreisträger sein Zelt auf? Richtig, er ist Risikogruppe, also selbstverständlich am äußersten hinteren Rand eines bereits aufgelassenen Friedhofs, dort, wo er schon in die Steppe übergeht.

Doch was er erzählt stammt aus den Berichten anderer, von Freunden, von der Schwester, denn er war „von Sinnen“, und ja, richtig, die Rede soll hier von Peter Handke sein und seinem schmalen soeben erschienenen Bändchen „Mein Tag im Andern Land“, das auf unfassbar anziehende Weise verrückt ist, also gleichzeitig hochfahrend und bescheiden, wirr und von der wundersamen Klarheit eines Traums.

Der Erzähler war, bevor die „Dämonen“ in ihn einfuhren, Obstgärtner von Beruf, ein ernster, eher unfreundlicher Typ, so dass es im Dorf hieß „launisch wie ein Obstgärtner“, oder „mit dem bösen Blick eines Obstgärtners“, oder „obstgärtnerischer als ein Obstgärtner“, wobei schon diese letzte Steigerung im Stil einer Thomas-Bernhard‘schen Tirade bei mir sofortige Heiterkeit und die Bereitschaft zum Mit-Albern erzeugte.

Und das, obwohl „Mein Tag im Andern Land“ Handkes kleines Totenbuch ist.

Aber möglicherweise war ich bei meiner leichtsinnigen Lektüre beeinflusst durch ein Interview, in dem Handke unmittelbar nach der Mitteilung über den Erhalt des Nobelpreises sein sonst so schroff nach außen gewendetes Predigertum gegen eine erstaunliche Gelöstheit getauscht hatte – so ein überraschender Temperaturwechsel nach der wild verhakten oder um sich schlagenden Milosevic-Rangelei!

Dieser Preis, so ähnlich sagte er es, tauche sein Werk nun in eine vielleicht vorübergehende, aber doch immerhin „besondere Beleuchtung“. Und da Handke über nichts anderes schreibt, als über sich und seine Empfindungen in der Welt, las ich seine Novelle als verrätselte Selbstmitteilung einer, hier wird es so genannt, „Erlösung“, – Puh, Schluss mit der Weltmeisterei, als sei eine Last abgefallen.

Vorher jedoch die Raserei, an die er sich in seinem Büchlein rückblickend „nach Jahrzehnten“ erinnert. Brüllen, außer sich sein. Er herrscht die Amsel im Baumwipfel an „Maul halten!“. Und die Menschen, die hässlichen genauso wie die Normalen. Nicht nur die mit den zu großen Nasen sind dran, auch die mit den kleinen.

Die Publikumsbeschimpfung aus frühen Tagen: „Und am hässlichsten ihr ohne besondere Merkmale, ihr, die raumverdrängende Mehrheit auf Erden…ihr mit dem normalen Gang, den normalen Stirnen, normalen Nasen…“, schließlich die Verwünschung, “… die Lerche im Zenit, zum Wahnsinn treibend unsichtbar; hässlich und zum Hassen unsichtbar. Hassenswertes Blau des Himmels! Nieder mit der Schöpfung!“

Nach solchen Redekreuzzügen, die wir von irren Großstadt-Predigern kennen, kehrt er heim auf den Friedhof und ist überraschend die Sanftheit in Person.

Zunehmend wird unser Held fortan sich und anderen zum Rätsel, denn er spricht in einer Sprache, die die Welt nicht kennt, nie gehört hat, er spricht leise, dieser große Unverstandene, doch alle seine Worte sind klar vernehmbar noch in der letzten Hütte.

Und er singt. Singt mit Engelsstimme. Und er wird zur Autorität, zum Orakel, das allerding mit seinen „Satzpfeilen“ ganz geheimnislos die Wahrheit über jeden Einzelnen enthüllt.

Man kann das alles als eine grandios gesteigerte Bilanz lesen, einen rückwärtigen Streifzug Handkes durch sein  Dichterleben, die Gewalttätigkeit und das „Gemetzel“ genauso wie den Zarathustra-Ton von Theaterprophezeiungen wie „Über die Dörfer“, selbst einen Bleistift findet er, dem er ein Büchlein gewidmet hat, einen Tischleroder Zimmermannsstift. Aber das ist dann schon im Andern Land.

Sein Heimatland: Klein, „nicht größer als ein paar durch Bäche und Teiche getrennte Talschatten“, könnte Slowenien  sein, oder die Waldpfade hinter Paris und während er dieses durchstreift, schließen sich ihm, in diesem ersten Teil, andere Irre an. „Wie das? Wir endgültig Durchgedrehten von öffentlichem Interesse?“ Aber ja. Sie dienen den anderen als Spiegel. Das ist die Aufgabe der Dichter. „Spiegel des eigenen gefährdeten Inneren.“

Er schreit in sich hinein, er weint, so erinnert sich seine Schwester, erstickt fast an verschluckten Konsonanten, er verflucht sich selber, mit großen Bildern und den schrägen wie aus einem Dada-Gedicht: „Mir auf den Schädel gestürzt, alte Eiche…Oder daß wenigstens ein Taubenschwarm mich augenblicklich von oben bis unten zuschisse.“

Die Entfernungsangaben hier schwanken traumgerecht, sie pendeln zwischen amerikanischen Meilen und russischen Werst, und am Ufer des Meeres, nicht größer als ein See, sieht er drüben das Andere Land, an seinem Küstensaum aber eine Gruppe von Fischern im Halbkreis um einen Mann, und der schaut zu ihm hin und seine Augen lassen ihn nicht los, er ist der Gute Zuschauer.

Und so, Teil 2, macht er sich auf in jenes andere fremde Land mit seiner Dekapolis, verschwunden sind die Dämonen, ausgetrieben vom Guten Zuschauer, denn der hört hin, auch wenn es nichts zu hören gibt, wie sehr muss der Theaterdichter Handke sich den Guten Zuschauer herbeigewünscht haben, wenn er ihm dieses jesuanische Format gibt, ein Zuschauer, der kein Lob erwartet und nicht im Auftrage – bewahre! – der Macht handelt.

Und der Dichter fällt auf die Knie und der Gute Zuschauer sagt: „Da bist Du mir ja wieder, mein Freund!“ Und noch nie hatte ihn einer einen Freund genannt.

In diesem Anderen Land gelten andere Regeln, und selbstverständlich dauert sein Tag unendlich lang, möglicherweise ist es das Jenseits, denn er spürt den Tod irgendwann, „spürte den Tod in mir, wie er ansetzte zu einem Purzelbaum. Und da aber Nichts geschah, atmete ich durch und ging erfrischt weiter.“

Und zwar nach Regeln, hier zwingt er sich, die Autobahnen entlang zu laufen und nicht ins Dickicht zu verschwinden, er wird zeitweise unsichtbar, wird wie Kafkas unschuldiger Josef K. im „Schloss“-Hof von Rücksichtslosen gerempelt, er trifft auf Kinder, auf eine riesige Polizistin in einer Betonkirche, Traum- und Kriegs- und Jenseitsbilder mischen sich, und wieder sammeln sich Jünger um ihn, „ah meine Anfänger, ihr, die Gutwilligen“.

Irgendwann aber trifft er seine „zukünftige Frau“ und alles löst sich auf in Tanz und Geselligkeit und er ruft aus: „Nie mehr Entzweiung; Schluss mit der ewigen Getrenntheit; angehörig sein, ein Angehöriger.“

Der dritte aus nur wenigen Seiten bestehende Schluss-Teil der Reise beginnt erneut mit einem Traum auf dem Friedhof, er stellt sich vor einen Spiegel und ein Fremder schaut zurück, doch nach einem Wimpernzucken verwandelt der sich in einen „so müden wie sanften Mann“, dessen Lippen die Worte formen „Keine Angst“.

Und wieder musste ich an das versöhnte Interview denken mit den Fotos, die Feldblumen leuchtend in der Obertasche des schwarzen Trauer-Anzugs, den er da trug.

Schon Recht, sagt sich der Alte im Buch, dieses Versöhntsein, dieses „Dasein perlen lassen“, gut und schön aber aber offenbar doch ein bisschen langweilig, so sehnt er sich nach dem Kantigen, nach dem Widerstand, denn bloßes Sein ist blöde, das Werden ist es, beides gehört zusammen, und so umarmt er sich auf diesem Friedhof in diesem Traum.

„Jubel stieg auf in mir; und Abenteuerlust“. Und so rettet er sich mit ein paar letzten Sätzen aus der Schwärze, die sich bereits hinter ihm auftürmt und er stößt einen „Kriegsschrei“ aus, hinein in die Leere „Seid ihr alle da?“

Aber klar, Peter Handke, großer Seher, wir sind da und wir sind gefolgt über die Schwelle zum Tode, wir mehr oder weniger großen Zuschauer, und wir bleiben zurück nicht ohne Rührung über diesen „Tag im Andern Land“, von dem Hamlet wohl nur irrtümlich annahm, daß es aus ihm keine Wiederkehr gibt.

Immerhin, Dichter, hast du dich weit hinaus- und hinübergelehnt, um uns zu berichten.

Und das in einem wundersamen poetischen Slapstik, einem surrealen Kinoabenteuer, einer lyrisch-unsinnigen Dada-Nummer, die die Selbstparodie der eigenen Idiosynkrasien nicht scheute.

Ein Handke, der den Leser leicht werden und staunen, schauern und lachen ließ. Das ist doch auch mal schön.