Champions-League-Gewinner, sechs mal Meister, rosa Trikots, der junge Labbadia – der Hamburger SV hat in seiner Geschichte bewiesen, dass er eine coole Nummer sein kann. Wie kommt er da wieder hin?

Aus. Aus. Aus. Der Dino der Liga, der unabsteigbare HSV, muss die große Stadionuhr vorerst nicht abhängen. Warum? Weil er, wahrscheinlich zum ersten Mal in dieser Saison, Fußball gespielt hat. Nach 50 Jahren, 265 Tagen, 23 Stunden der Zugehörigkeit zur Ersten Bundesliga könnte es für die Hanseaten dort weitergehen, wo sie hingehören – in der Ersten Liga. Die stolze Hansestadt, die allerschönste Weltstadt Hamburg muss sich vorerst nicht auf Spiele gegen Sandhausen oder Heidenheim einstellen. Oder, der Horror, gegen Braunschweig.

Es gibt ja zwei Schulen. Die einen sagen: Steigt endlich ab. Das sei nicht mehr auszuhalten, das Gewürge, das Gemurkse, keiner bewegt sich, Tempofußball machen die anderen, ständig dieses hektische Geflimmer aus der Intensivstation, hat ja alle verrückt gemacht, schon seit Jahren, hier noch ein Fehleinkauf, da noch ein Trainerrauswurf, wahrscheinlich haben Deutschlands Fußballfans, die einer Umfrage zufolge dem HSV den Exitus gewünscht haben, das aus diesem Grund getan – das Geflimmer ging ihnen auf die Nerven. Aber das sind die bedauernswerten und neidischen Anhänger anderer Vereine.

Für uns aber geht der Traum weiter. Der von langfristiger Unbesiegbarkeit. Der HSV, auf Platz drei auf der Ewigenliste. HSV. Der Nimbus. Der Dino. Seit Gründung der Liga dabei. Für HSV-Fans ist die Nachkriegszeit noch immer nicht vorbei – was für einen bizarren Lauf der Verein in dieser Zeit hingelegt hat.

Die Zeitrechnung beginnt mit Uwe Seeler, schwarz-weiß, und plötzlich kommt diese Farbe rein. Diese Stichflamme Ende der 70er-Jahre, Anfang der 80er-Jahre. Purer Pop. Mit Branko Zebec hatte man 1979 den deutschen Meistertitel geholt. Nachdem er besoffen von der Bank fiel, wurde er ersetzt durch diesen Kettenraucher Ernst Happel, dessen Gesicht ein einziger Tränensack war, ein kompletter Autist, wortkarg, qualmend, Deutscher Meister 1982, Deutscher Meister 1983, was für Typen das waren.

Bereits 1979 war Günter Netzer vor dem Volksparkstadion seinem Ferrari entstiegen, in einem Pelzmantel, um als erster Manager eines deutschen Profivereins anzuheuern, wie genial, dass er dann noch mal Franz Beckenbauer vorführte, die Ikone, den Rivalen, den Freund, auch der liebte Nerz, das war Gangsta-Rap, bevor der erfunden war. Davor schon der wahnsinnige Manager Peter Krohn, der hellblaue und rosa Trikots einführte, um die Frauen ins Stadion zu kriegen, und der einen genialen Entertainer namens Kevin Keegan anheuerte, absolute Weltklasse mit dem Aussehen eines Schlagerstars.

Was für eine coole Nummer, dieser Verein, das war der Beginn der Neuzeit im Fußball. Im Süden immer dieses leicht provinzielle Bauerntheater mit Weltstars, in der Frontstadt Berlin die Hertha, deren Beitrag zum deutschen Fußball in Erich Beer bestand, also der Fleischwerdung des Mittelmaßes. Und da war der HSV, der Verein zwischen Hafen und Strich und Alster und Villen.

Ja, schon das Trikot! Rote Hosen, sonst Weiß-Blau und Schwarz. Kein Wappen mit Jahreszahlen und Klimbim, sondern die Raute. Ein Totem, weißblau wie die Wassergötter, die Windgötter, und der magische schwarze Rahmen, ein kajal umrandetes Auge in die Ewigkeit, und wenn das alles bekifft klingt, dann weil es das ist und wie klar und nett das nun plötzlich alles vor uns liegt.

Nie spüren wir die Nähe zur Urhorde und ihren Totems und Schlachten so stark wie im Fussball. Ein Sieg, und die Woche beginnt mit einem Strahlen. Wieder eine krumme Niederlage, und du schleppst dich krumm in den Tag. Es ist, wie Nick Hornby in “Fever Pitch” schreibt: Uns Fans fehlt es sicher nicht an Fantasie, und es ist auch nicht so, dass wir unsere Tage traurig und gedrückt verbringen, es ist nur so, dass das wirkliche Leben so viel blasser und fader ist und nicht entfernt diese grenzenlosen Delirien liefert, die der Fußball bietet.

Wie damals 1983, die achte Minute in Athen gegen Juventus, Finale im Pokal der Landesmeister, Magath trifft nach einem völlig bescheuerten Dribbling auf der linken Seite aus dem Gewühl mit einer Bogenlampe, und die restlichen 82 Minuten wurde das 1:0 verteidigt, und ich stand in der Menge am Dammtor-Bahnhof im Autokorso und erlebte Hupen und Raketen.

Insgesamt sechs deutsche Meisterschaften, drei Pokalsiege. Vom 16. Januar 1982 bis 29. Januar 1983 blieb der HSV ungeschlagen, in 36 Spielen hintereinander. Der Rekord hatte 30 Jahre Bestand und wurde erst von Bayern München 2013 gebrochen. Das kann doch jetzt nicht in der Zweiten Liga enden!

Manni Kaltz’ Bananenflanken und Horst Hrubesch, der seine Kopfballtorpedos mit Todesverachtung flog, bis der Schlamm spritzte. So sehen Sieger aus, dachte man in den letzten Tagen, Monaten, ach, Jahren oft. Seither zehrt der Club von diesem Leuchten. Ein letztes Nachglühen gab es in der Saison 2009/10. Der Trainer, der damals verpflichtet worden war, war jung und hatte Ideen. Er hieß Bruno Labbadia, und er hatte eine Truppe versammelt und motiviert, die Träume möglich machen konnte.

Da war der Altstar Ze Roberto, der noch eine späte Hochform erlebte. Mladen Petric, das Stürmerwunder, der Artist mit seinen Fallrückziehern. Ein junger schneller Marcell Jansen. Trochowski, der Scharfschütze, und hinten ein Neuling namens Jérôme Boateng. Jarolim, der Ackergaul, und der unermüdliche Ivica Olic. Guerrero. Auf der Bank Choupo-Moting, der diese Saison für Schalke in der Champions-League die Tore liefert.

Sie schafften es zur Halbzeit auf den dritten Rang, in Schlagdistanz zum Ersten, und im Uefa-Cup bis ins Halbfinale. Und dann ging irgendwas schief, Labbadia hatte die Mannschaft gegen sich aufgebracht, man muss hier nicht in Einzelheiten gehen, auf jeden Fall soll Gerüchten zufolge der Mannschaftsrat Torwart Frank Rost ausgewählt haben, um Labbadia eine reinzuhauen. Zwei Spieltage vor Ende wurde Labbadia vom damaligen Präsidenten Bernd Hoffmann gefeuert. Und dann ging erst recht alles schief.

Mein letztes Auswärtsspiel mit dem HSV habe ich letzte Saison in Braunschweig erlebt. Es war der Horror. So was möchte ich nie wieder erleben. Der HSV wurde vermöbelt. In Braunschweig! Und seither träume ich, träumt die Stadt von einem Neuanfang. Aber gelingt der in der Zweiten Liga?

Für die Stadt wäre der Abstieg auch wirtschaftlich eine herbe Einbuße. Rund 80 Millionen Euro bringt die Erstklassigkeit der Hotellerie und der Gastronomie. Dazu Steuereinnahmen der Spieler. Aber das ist es nicht allein. Die Spielergehälter müssten auf 25 Millionen Euro begrenzt werden. Sie liegen derzeit bei über 50, allein in der letzten Saison wurden noch einmal über 30 ausgegeben für neue Spieler. Für die falschen.

Nun zur Hoffnung, dass der HSV nach einer Runderneuerung im Keller mit lauter erfolgshungrigen achtzehnjährigen No-Names den direkten Wiederaufstieg schafft und den Titel holt. Ein Traum, den jeder Achtjährige für völlig plausibel hält. Die Wahrscheinlichkeit liegt bei null Prozent. Nicht dass es nicht machbar wäre, Rehhagel hat das mal mit Kaiserslautern geschafft.

Nun also die erneute Relegation. Die Fans haben diese letzte Chance verdient. In all den Leidensjahren, in denen sie sich von den wechselnden Mannschaften wahre Unverschämtheiten bieten lassen mussten, sind sie treu in die Imtech-Arena gepilgert, 50.000, in Wintermonaten, zu stümpernden Routinebegegnungen gegen platte Mannschaften im unteren Tabellendrittel. Und draußen Busse aus Dänemark und Schleswig-Holstein.

Was haben sie alles liegen lassen in den vergangenen Jahren, unter einem Aufsichtsrat, der Tomaten auf den Augen und Rosinen im Kopf hatte. Klopp soll bei den HSV-Granden durchgefallen sein, weil er eine zerrissene Jeans trug, Shaqiri hatte vorgespielt und wurde für zu leicht befunden. Stattdessen Millionen für Magnus Berg, den Stümper im gegnerischen Strafraum. Und ein Mann namens Frank Arnesen durfte als Sportchef seine Krücken aus der Chelsea-Ablage mitbringen.

Doch jetzt glimmt noch einmal Hoffnung auf. Unter Bruno Labbadia. Und wenn es zu schaffen ist, dann unter ihm. Dem Mann mit den Ideen. Der seine Fehler nicht noch einmal machen wird. Der Kampf geht weiter, um eines zu verhindern – gegen Braunschweig antreten zu müssen.

Erschienen am 24.05.15 www.welt.de