Poet, Gelehrter und Frauenliebling – das Leben von Johann Wolfgang von Goethe ist oft erzählt worden. Jetzt hat der Philosoph Rüdiger Safranski eine faszinierende Deutung seiner Vita vorgelegt.

Nichts anderes interessiert das postmoderne, postdemokratische, auch postreligiöse Publikum so sehr wie ein geglücktes Leben hier auf Erden. Man liest in Zahnarztpraxen davon – jede zweite Prominentengeschichte gaukelt wünschenswerte Modelle vor.

Neben der Komplettheit allerdings, die Johann Wolfgang von Goethe vorgab – als Dichter, Minister, Forscher, lebenslang Liebender -, müssen sich all diese Attrappen, muss sich noch jeder als Stückwerk fühlen.

An seinem Leben ließe sich zumindest ein Verlust ausbuchstabieren: Ein “Ich” war möglich! Es muss möglich sein, auch in dieser Welt der Zersplitterungen und Entfremdungen: ein Ich, immun gegen gesellschaftliche Zumutungen, gegen die Zurichtungen von Staat und Markt.

Ich erlag dieser Verführung vor über 20 Jahren als Reporter im Ost-Berliner Palasthotel zur Zeit der Wende, nach-dem ich, nach einer Art Nervenzusammenbruch, in meinem grünbraunen Spinatblätter-Tapetenkäfig gestrandet war. All diese abgebrochenen, umgelogenen, zertrümmerten Lebensläufe. Und mein eigener war auch nicht gerade die Idealkurve.

Zwei Tage lang las ich in Richard Friedenthals Goethe-Biografie, die bis dahin der Goldstandard war.

Wie Goethe sich alles aneignete, blitzschnell, und es verwandelt zurückgab. Manchmal ebenso blitzschnell, manchmal konnte das Jahre dauern wie beim “Faust”, diesem welthaltigen Schwamm.

Goethe, der “Ausnahme-Deutsche”, wie ihn Nietzsche nannte, der Kunstfeldherr, buchstäblich auf Augenhöhe mit Napoleon, damals im Schloss von Erfurt. Zwei Herrscher, zwei Charismatiker, zwei Ich-Größen. Goethe ist beeindruckt von Napoleon, aber er vermittelt in der Hauptsache, wie sehr Napoleon beeindruckt war von ihm. Die Szene liest sich heute wie ein Irrenwitz.

Bisher überragte Friedenthals anschauliche Goethe-Biografie von 1963 alles andere an Popularität. Anschaulich im Sinne von Kino und Kostümschinken, aber auf eine so kluge, spöttisch-distanzierte Art, wie es nur Briten können, historische Erzählkunst auf Gipfelniveau.

Im eigentlichen Sinne übrigens war Friedenthal kein Brite. Er war vor den Nazis nach England geflohen, ursprünglich kam er aus München. Er galt also als Emigrant – war das der Grund für die zunächst empörten Reaktionen auf seinen Goethe? War er zu respektlos?

Natürlich gab es andere Deutungen, unlängst die auf drei Bände angelegte von Nicholas Boyle, Jahre zuvor die voluminöse psychoanalytische von Kurt R. Eissler, doch nun, genau 50 Jahre nach Friedenthal, holt der Philosoph und Bestsellerautor Rüdiger Safranski aus und liefert das nach, was Friedenthal weitgehend vernachlässigte: Goethe und seine Ich-Echos im Werk.

Ein Bewusstseinsroman. Safranski durchleuchtet, wie Goethe in seinem Werk sich selbst Gestalt gibt, ja, wie er sich prometheisch selbst formt. Safranski verfolgt, wie es entsteht, dieses “Kunstwerk des Lebens”, so der Untertitel(*).

Goethe übrigens hat sein Leben genau so empfunden: wie ein Bauwerk. Eine Pyramide, um genau zu sein. Er ist gerade 31, als er an Lavater schreibt. Die Grundfesten sind gelegt, nun geht es auf die Spitze zu. Diesen Bau will er vollenden, und bereits jetzt ist er besorgt, dass ihn “das Schicksal in der Mitte” bricht, und der “Babylonische Turm bleibt stumpf unvollendet”. Aber wenigstens solle man sagen können, sein Dasein sei “kühn entworfen”.

Er kam, am 28. August 1749, blau angelaufen zur Welt, fast von der eigenen Nabelschnur stranguliert. Daraufhin wurde ein Unterricht für Hebammen eingeführt, welcher, so Goethe, “manchem der Nachgeborenen mag zu Gute gekommen sein”. Schon seine Geburt also, so Safranski mit feiner Ironie, hat erfreuliche Wirkungen auf die Welt.

Dass die Gestirne zur Geburtsstunde eine besonders günstige Konstellation aufwiesen, wie Goethe in “Dichtung und Wahrheit” schreibt, ist allerdings ebenso autobiografische Inszenierung wie die Behauptung, dass das Familienleben friedlich gewesen sei und sein Großvater Textor “keine Spur von Heftigkeit” gezeigt habe. Safranski gräbt einen Zeitgenossen aus, der sich an einen Konflikt zwischen Vater und Großvater über die Einquartierung französischer Soldaten erinnerte, in dem Großvater Textor mit dem Messer geworfen und Vater Goethe den Degen gezogen habe.

Der Vater verlangt Leistung und Berechenbarkeit, die Mutter steuert den Märchenzauber bei, der Knabe ist der “Hätschelhans” im Vollgefühl, die Welt mit seiner Existenz zu beschenken. Er bewegt sein Puppentheater, spielt, Privatlehrer helfen, Sprachen fliegen ihm zu, Englisch, Französisch, Latein, Griechisch. Hebräisch liest er leidlich, Reiten und Fechten sind Selbstverständlichkeiten.

Früh phantasiert und dichtet er, er poetisiert die Welt. Er schreibt die biblische Josephsgeschichte neu. Er bewundert zeit seines Lebens die Bibel als große Poesie, ebenso den Koran. Doch für echte Frömmigkeit fehlt ihm das Sündenbewusstsein, wie er später einräumt. Schuldgefühle liegen diesem Glückskind nun mal nicht.

Gott findet er in der Natur. Kaum einer wird sich der Natur je wieder so vollständig überlassen, als forschender Dichter und dichtender Forscher, um ihre innere Wahrheit aufzuspüren.

Als er einem Bund älterer Schüler beitreten will, muss er Selbstauskunft geben. Er bescheinigt sich “cholerisches Temperament”, zweitens befehle er gern, und drittens rede er auch mit Unbekannten, als kenne er sie schon “hundert Jahre”.

Safranskis Diagnose dieser Jugend: Goethe kann sich auf die Welt stürzen, weil er mit sich im Reinen ist. Er weiß um seinen Wert und lässt es auch die Mitwelt wissen. Seine Mutter muss ihm jeden Morgen drei Garnituren herauslegen, eine fürs Heim, die nächste für Besuche und die dritte für Galaauftritte. Die Mutter – eine fröhliche Helikopter-Mama.

Die Figur wächst. Zum Jurastudium auf ins modernere und mondänere Leipzig mit Auerbachs Keller. Er verliebt sich, in Kätchen, eine Gastwirtstochter, und die Liebe löst eine Briefflut an den Freund Behrisch aus, es geht hoch und wieder abwärts, Liebesglut und Eifersucht, er schwelgt auch, um darüber schreiben zu können. Safranski: “Er selbst sitzt im Publikum und spielt sich vor, was er da schreibt.” Er ist entzückt von seiner Individualität.

Zum Beispiel das: “Gestern machte das mir die Welt zur Hölle, was sie mir heute zum Himmel macht.” So ähnlich wird es im “Werther” stehen.

Dabei lebt er wiederum ganz aus sich, spontan, schmiedet Verse mit Leichtigkeit, schwärmt für Shakespeare und Homer, er liegt im Gras, und seine Bewunderer, darunter auch Ältere, lauschen. Jeder von uns wäre wohl gern dabei gewesen. Er ist eine Sensation. Ein Kontakt- und Kommunikationsgenie.

In einem Dorf bei Straßburg die junge Friederike Brion. In Verkleidung eines Theologiestudenten begegnet er ihr, denn er hat ein Faible für Maskeraden. Neue Verliebtheit, echte und Theatergefühle durcheinander, das Gedicht “Willkommen und Abschied” entsteht so und das “Heidenröslein”, er bricht ihr Herz, als er weiterzieht, und er weiß es.

Verbindlichkeiten sind ohnehin nicht seine Sache. Lieber schwärmt er, besonders in Briefen, 15 000 sind erhalten. Da ist Lili Schönemann, Bankierstochter in Frankfurt am Main, sie spielt eine Sonate, als er eintritt in den Salon, auch sie jung, überwältigend schön. Auch sie in der Folge verliebt. Schon ist die Verlobung arrangiert, da entzieht er sich.

In all dem Liebeswirbel zieht er sich zurück und schreibt das schönste Stillstand-Gedicht der deutschen Literatur: “Über allen Gipfeln / Ist Ruh’, / In allen Wipfeln / Spürest du / Kaum einen Hauch …”

Im Rückblick wird er feststellen, dass er seinem Glück nie so nahe gewesen ist wie mit Lili. “Sie war in der Tat die Erste, die ich tief und wahrhaft liebte. Auch kann ich sagen, dass sie die Letzte gewesen ist.” Alle anderen Lieben seien dagegen nur leichte und oberflächliche Affären gewesen, bekennt er spät im Leben.

Doch er sprudelt weiter, er schreibt im Bett, morgens und nachts, Theater in shakespearescher Manier, Jahrmarktklamauk, Knittelverse nach Hans Sachs. Safranski: “Begabte Leute treffen ins Schwarze, auch wenn sie nicht zielen.” Genie hilft.

Seine frühe Selbstsicherheit hat etwas Traumwandlerisches. “Er konnte sich gar nicht vorstellen, nicht auf der richtigen Spur zu sein.”

In kurzer Zeit schreibt er, neben seinen Rechtstätigkeiten, den “Götz von Berlichingen”. Er richtet ihn als souveränen Menschen gegen die Moderne, ein imponierender Einzelner, nicht um Gewissensfreiheit geht es hier wie später bei Schiller, sondern um die Freiheit des Seins.

Und wieder die Frauen. Anders als etwa der Psychoanalytiker Eissler, der in seiner Deutung behauptet, Goethe sei bis zur Italienreise jungfräulich gewesen – wegen einer schwer zu durchbrechenden unbewussten Fixierung auf die Schwester -, lässt Safranski offen, ob der Herzensbrecher auch im Bett ein Eroberer gewesen ist.

Eins ist sicher: Goethe brauchte seine Verliebtheiten als Treibstoff fürs Werk, fürs Leben. Charlotte Buff ist zwar vergeben, doch Goethe flirtet, flirtet heftig – und befreundet sich mit Lottes Verlobtem.

Er schlägt anders Kapital aus der Geschichte. Der Selbstmord seines Bekannten Carl Wilhelm Jerusalem gibt den Auslöser für den Roman “Die Leiden des jungen Werther”. Das Interessante dabei: Werther scheitert nicht an der unmöglichen Liebe, sondern an der Leere. Nicht, dass er liebt, sondern dass er nicht mehr lieben kann, ist das Verhängnis. Safranski: “Es droht also nicht das Zuviel, sondern das Nichts.”

Goethe nennt diesen Zustand “taedium vitae”, eine stumpfe Gleichgültigkeit, ein Lebensekel, ein Weltekel. Das ist die dunkle Seite in ihm, diese Anlage zur Depression, doch er verwandelt sie, er gibt ihr Worte, um sie loszuwerden. Safranski liest in Goethes Seele, so wie sie bei ihm im Buche steht.

Mit dem “Götz” und mehr noch dem “Werther” ist er über Nacht der maßgebliche Dichter seiner Zeit geworden. Da ist er Mitte zwanzig. In diesem Alter etwa wird Georg Büchner sterben und eigentlich nur Fragmente hinterlassen.

Doch Goethe überlebt. Er überlebt vier Geschwister sowie eine Tuberkulose, schon Abschiedsbriefe hat er geschrieben, aber er lebt und ist berühmt. Vielleicht ist ein geglücktes Leben eben auch – Glückssache. Goethe also ist durchgesetzt, anstrengungslos, was soll da noch kommen? Alles.

Bis dahin war alles Spiel, spielerisch eignet er sich die kantsche Philosophie an, die Ideen Spinozas, doch immer nur das, was ihm brauchbar erscheint.

Unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Doch dann merkwürdige Versteifungen. Safranski: “Es hatte ihn jener wunderliche Ekel vor der leichten Fülle angerührt.”

Wohl zum ersten Mal wird Goethe als Spieler gedeutet, der sich nach Schwere und Erdung sehnt, denn er spürt: Die Kunstwerke gelingen ihm leichter als das Kunstwerk des Lebens. “Er leidet”, so Safranski, “an den zwei Geschwindigkeiten, sein inneres Leben ist zu schnell für die äußere Wirklichkeit.”

Er erkennt: Die Wahrheit ergibt sich aus dem praktischen Leben, nicht aus der Literatur. Er verachtet das Literatentum mit seinen kostenlosen moralischen Posen. So zieht es ihn nach Weimar auf Einladung des jungen Carl August, so wächst er weiter.

Weimar, ein Kaff mit gerade mal 6000 Einwohnern, so viel wie Frankfurts Vorort Sachsenhausen, miserable Straßen, die Armee ist 571 Mann stark, das Palais ein besserer Gutshof, das Essen wird in der Küche im Haus gegenüber gekocht und über die Straße gebracht. Doch Wieland lebt hier, weitere ziehen nach, auch Herder wird kommen, ein Musenhof entsteht unter den Fittichen der Herzogin Anna Amalia. Aus diesem elenden Flecken wächst der Mythos Weimar.

Goethe übernimmt Ämter. Er verbessert den Straßenbau. Hilft den Tagelöhnern von Apolda. Interessiert sich für Mineralogie. Er forscht nach dem Zwischenkieferknochen. Und schreibt sich in die klassische Reinheit der “Iphigenie” hinein. Er deutet den grausamen Mythos menschenfreundlich um, in ein höfisches Märchen von selbstloser Liebe.

Dieses “Iphigenie”-Kapitel über die Reinheit ist eine der vielen Trouvaillen in dem Buch, denn Safranski zeigt, wie das Motiv in Goethes Lebensentscheidungen hineinwirken wird. Alle Werke, ob “Clavigo”, “Egmont” oder der “Faust”, ob “Wilhelm Meister” oder die “Wahlverwandtschaften”, sie dienen Safranski als Spiegelungen einer inneren Biografie, eines geistigen Wachstums und der Auseinandersetzung dieses Ichs mit der Welt.

Die Quellenauswahl, die Safranski trifft, hauptsächlich Werke, Briefe, eben Primärtexte, lassen ihm, dem philosophischen Erzähler, in seinen hermeneutischen Wanderungen genug Luft. Er schiebt Diskurse ein, über Spinoza oder über die erzählte Zeit und die Zeit des Erzählens, er deutet den Nebelritt zum Brocken zur Schicksalsstunde – flüchten oder regieren -, und er scheut sich nicht, didaktische Zwischenfragen zu stellen.

Wie aber das anstellen?, fragt er sich und den Leser immer mal wieder, also uns, die wir etwa Spinoza nicht gelesen haben.

Und dann erklärt er, und er liebt die dialektische Figur, einmal spricht er sogar von “inneren und äußeren Gegensätzen”, und da schimmert dann das marxistische Vokabular aus den Siebzigern durch, als Safranski noch mit Arbeitern Marx’ “Das Kapital” gelesen hat.

Werke und Briefe: Goethes Sicht auf die Welt und auf sich selbst spielen eine erhebliche Rolle in der Entstehung des “Kunstwerks des Lebens”, denn dazu gehört stets auch die Selbstbetrachtung. Sie muss nur herausgelesen werden. Auch aus den Werken, etwa wenn er im “Tasso” Künstler und Weltmann auseinanderdividiert, die er in sich vereint.

Wie Schiller ihn schließlich, nach einem naturkundlichen Vortrag, in eine Diskussion über die Urpflanze zieht und damit das Eis bricht und ihn für die Mitarbeit an seiner neuen Zeitschrift – damals war die Welt noch in Ordnung – gewinnt, die er “Die Horen” nennt.

Für Schiller ist die Urpflanze eine Idee, worauf Goethe ihm in die Parade fährt: “Das kann mir sehr lieb sein, dass ich Ideen habe, ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe.”

Goethe kommt über die Anschauung zur Idee, während Schiller über die Idee zur Anschaulichkeit kommt, darin verständigen sie sich, befreunden sie sich, befruchten sie sich. Sie einigen sich auf zwei Grundtypen: den naiven und den sentimentalischen Künstler, Schiller ist der sentimentalische, der Theorieweltmeister, und man kann auch Safranskis essayistische Biografie durchaus der sentimentalischen Seite zuschlagen.

Dass Goethes Anschauung nicht unfehlbar ist, nimmt man dann mit einer gewissen Erleichterung zur Kenntnis. Hinreißend, wie er die Irrtümer seiner Farbenlehre verteidigt, wie er sie, die er für seine größte Entdeckung hält, über all seine Dichtungen stellt.

Die letzte Ausfahrt nach Ilmenau und die Besteigung des Kickelhahn, hin zur Jagdhütte, wo er in “früher Zeit” einige Bleistiftverse an die Wand geschrieben hat: “Über allen Gipfeln ist Ruh”. Nun liest er sie wieder, die Zeilen: “Warte nur, balde ruhest du auch.” Tränen fließen.

Der Lebenskreis, der Werkkreis hat sich geschlossen. Ein paar Monate später, am 22. März 1832, schläft er friedlich in seinem Lehnstuhl ein.

Was lernen wir?

Goethe hat die Vorstellung abgelehnt, dass ein Leben “erst am Ende zu seiner Vollendung” komme, auch wenn er das Pyramidenbild bemüht. Die Tätigkeit macht das Leben, auf jeder Stufe neu.

Goethe überließ es anderen, so Safranski, “eine Geschlossenheit, einen inneren Zusammenhang auszuklügeln”. Er blieb ein Instinktmensch, ein Tatmensch, keiner, der sich in “trüben Innenwelten” verliert, sondern alles zur äußeren Gestalt treibt. Auch wenn sie misslingen sollte.

Sein Geheimnis, vermutet Safranski, ist vielleicht das: Er ließ immer nur so viel Welt in sich hinein, wie er produktiv verarbeiten konnte. Er war selektiv. Und da könnte er doch auch heute noch zum Modell werden für ein geglücktes Leben.

Stets umgibt ihn eine merkwürdige Heiterkeit. Wir haben die Kunst, sagt er, um nicht an der Wirklichkeit zugrunde zu gehen. Heine hat das verstanden. Er sah Goethe als Statthalter himmlischer Poesie auf Erden, seine Wipfel, sagte er, wuchsen so hoch, dass man keine Jakobinermütze daraufstecken konnte.

Goethe war frei, im ursprünglichsten Sinne. Safranski schließt mit dem Satz: “Er ist ein Beispiel dafür, wie weit man damit kommen kann, wenn man es als Lebensaufgabe annimmt, zu werden, der man ist.”

In diesen Zeiten der Facebook-Avatare, des eifrigen Kuratierens der eigenen Person, der ständig neuen und ständig befristeten Lebensentwürfe – was kann produktiver sein, als sich mit dieser strahlend hellen Biografie in eine Figur zu vertiefen, der die buchstäblich klassische Harmonie mit sich selbst gelang.

Erschienen am 26.08.2013 im DER SPIEGEL 35/2013