BUCHKRITIK: Amy Hempel ist eine Kultfigur der US-Literatur. Ihre Kurzgeschichten erscheinen erstmals auf Deutsch.

Der erste Satz muss zünden, jeder, der schreibt, weiß das. Ob das jetzt ein guter erster Satz ist, muss sich erweisen; vielleicht auch, ob es ein richtiger erster Satz ist.

Manche erste Sätze enthalten, wie in Kafkas “Die Verwandlung”, bereits die ganze Story: “Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.” Andere schlendern beiläufig in sie hinein.

In Amy Hempels nur zwei Seiten langer Geschichte “Anbruch des Tages” handelt der erste Satz von einer Hündin, die Heißhunger entwickelte, nachdem sie trächtig geworden war. Die Hündin spielt im Fortgang keine Rolle mehr. Der Satz, der dem Leser den Schauer den Rücken hinunterjagt, taucht erst in der zweiten Hälfte des Textes auf: “Dann sah ich, wie er aus dem Schutz der Palmen auf mich zuging, und erkannte meinen Fehler.”

Wer spricht, wissen wir nicht. Worin der Fehler besteht, können wir nur erahnen. Wir wissen von zwei Ehepaaren auf einer Insel, einem offenbar fröhlichen alten Paar, das gerade geheiratet hat, und einem vermutlich jüngeren, dem wohl der Hund gehört. Wir erfahren von Schnorcheltouren, von den Tiefen des Ozeans, von Hibiskusblüten, die in ein Meeresschneckenhaus gesteckt sind und nur ein einziges Mal blühen, und von Eheringen, die unter Wasser verlorengehen.

Selten ist auf knapp zwei Seiten unter einer Oberfläche glitzernd schön wie Sonnensprenkel auf tropischen Wellen mit einem einzigen rätselhaften Satz so ein Grauen angerichtet worden. Die Welt wankt. Plötzlich hat auch die trächtige Hündin eine Bedeutung, plötzlich stehen alle Sätze unter Strom.

Dass die Kunst der Aussparung zu den wirkungsvollsten Waffen eines Erzählers gehören kann, wissen wir von Größen wie Raymond Carver. Wie jeder einzelne Satz einer Kurzgeschichte poliert und justiert und ausgerichtet ist auf seine Tauglichkeit, den Leser bei der Stange zu halten, ohne dass es den Anschein von Prätention hätte, erleben wir in dem kleinen Band “Die Ernte”, der im erst recht kleinen Luxbooks-Verlag erschienen ist.

Amy wer? Hempel, 61, hat in den USA seit 1985 erst vier Kurzgeschichtenbände veröffentlicht. Gelegentlich erscheinen ihre Texte in “Harper’s Bazaar” oder in “Vanity Fair”. Sie ist ein Kind der Sixties, in Chicago geboren, sie vagabundierte durch die Haight-Ashbury-Szene in San Francisco, hörte Konzerte von Greatful Dead und Jefferson Airplane, besuchte die Stand-up-Comedy-Szene, wo sie alles über Witz und Timing lernte.

Einmal besuchte sie den Komiker Steve Martin in seiner Garderobe, der unter einer fürchterlichen Erkältung litt. Sie könnte das nicht, sagte sie mitfühlend, so krank zu sein und dann rauszugehen. “Sei nicht albern”, sagte Martin, “du könntest es auch nicht, wenn du kerngesund wärst.”

Sie hat davon in einem ihrer seltenen Interviews erzählt, in der “Paris Review”, und davon, wie sie den Satz prompt für eine Kurzgeschichte verwendete. Hempel ist Geheimtipp, eine Autorin für Autoren, oft auf Achse, Vagabundieren ist ihr Lebensstil geworden. Das Autorinnen-Foto zeigt eine Frau mit offenen, weißblonden Haaren und einem nachlässigen Zopf links, so als ob sie schnell das Interesse an ihm verloren hätte, weil sie weiterschreiben wollte. Sie wirkt wie eine Schamanin. Hempels Mutter hat sich umgebracht, viele ihrer Geschichten handeln vom Tod.

Für ihre Geschichte “Die Ernte”, auch nur wenige Seiten lang, gilt sicherlich der Sieg des ersten Satzes: “In dem Jahr, in dem ich anfing, Wahs anstelle von Vase zu sagen, brachte mich ein Mann, den ich kaum kannte, unabsichtlich beinah um.”

Ein Mädchen liegt im Krankenhaus, sein Bein ist mit 400 Stichen genäht, es sagt 500, “denn nichts ist jemals so schlimm, wie es sein könnte”. Der Anwalt des Mädchens bespricht mit ihm Schadensersatzansprüche.

Die Erzählerin berichtet vom Krankenhaus, von einem Gefängnisausbruch in der Nähe, von Haien und deren Fressverhalten, und doch erfahren wir ganz viel von diesem pubertierenden Mädchen und seinem Problem, ob Aussehen wichtig ist oder nicht. Der Erzählstil ist lakonisch, unvermutet spricht die Erzählerin den Leser an, erörtert Kompositionsprobleme, reflektiert über Wahrheit und Lüge, über Tapferkeit und Desillusionierungen; es ist eine Stimme, die in ihrem frühreifen Sarkasmus fesselt. Tatsächlich hat man den Sound aus Hempels Geschichten noch tagelang im Ohr.

Und schließlich ist da, neben vielen anderen Juwelen, dieser Ausklang: “Die Ruhe Gottes”, eine Sommer- und Lagerfeuer- und Naturbeschwörung, die auf nichts hinausläuft als ein großes Glück, einen großen Einklang. Es ist eine unwiderstehliche Poesie des Einverstandenseins von Freunden und ihren Familien, so ökonomisch, so voll von Wildblumen und Grill und Geschichten, dass man weiterhören möchte, immer weiter.

Amy Hempel ist eine Zauberin.

Erschienen am 29.07.2013 im DER SPIEGEL 31/2013