(Die Fotos mit Rüdiger Safranswki stammen aus einem Gespräch über Hölderlin aus dem Jahre 2019)

 

Wir leben in Zeiten des Umbruchs, ja einer Abrissunternehung unseres Menschenbildes. Pubertierende Mädchen lassen sich die Brüste entfernen, weil sie sich im falschen Körper fühlen, unserer Sprache und ihrer Grammatik werden die Knochen gebrochen aus Gründen der sogenannten Geschlechtergleichheit, Transhumanisten träumen von Chip-Implantaten und Optimierung durch künstliche Intelligenz, nach Elon Musk wird es binnen Jahresfrist zu neurologischen Chip-Implataten kommen.

 

Der Lieblingsphilosoph der großen Tech-Firmen Yuri Harari zielt auf den „Homo Deus“, den gottgleichen Menschen. Mittlerweile rühmt sich die künstliche Intelligenz über das Programm Chat GTP sinnvolle Texte zu jedem Themas verfassen zu können. Folgendes hat das Programm zum Thema „Menschenbild“ und „Transhumanismus“ geantwortet, was nur zu einem gewissen Grad beruhigt, weil es durchaus „woke-linke“ Ideologien bedient:

Chat GTP:„Das klassische Menschenbild, das in vielen Kulturen und Epochen vertreten wurde, betont die Einzigartigkeit und Würde des Menschen als rationales, freies und moralisches Wesen. Es geht davon aus, dass der Mensch eine besondere Stellung in der Schöpfung einnimmt und eine natürliche Ordnung der Dinge existiert, die es zu beachten gilt.

 

Transhumanisten hingegen vertreten die Ansicht, dass der Mensch durch die Anwendung von Technologien und wissenschaftlichen Fortschritten verbessert werden kann und sogar übernatürliche Fähigkeiten erlangen kann. Sie sehen die menschliche Natur nicht als festgelegt an, sondern als etwas, das durch den Einsatz von Technologie verändert werden kann.

Es gibt tatsächlich einige Entwicklungen in der Technologie und der Gesellschaft, die für manche Menschen beunruhigend oder sogar beängstigend sein können. Ein Beispiel dafür ist die Möglichkeit, dass Chip-Implantate zur Verbesserung von kognitiven Fähigkeiten oder zur Steuerung von Prothesen verwendet werden könnten. Diese Technologie birgt das Potenzial, das Leben von Menschen zu verbessern, aber sie könnte auch missbraucht werden, um die Privatsphäre von Menschen zu verletzen oder ihnen unwillkommene Kontrolle aufzuzwingen.“

 

Immerhin sieht auch die künstliche Intelligenz das Problem. Wir sägen und basteln, der Mensch bereitet sich vor, sozusagen die nächste Stufe zu seiner Optimierung zünden. Zum Thema der Geschlechts-Operationen hat die Maschine folgendes zu sagen:

 

 

„Ebenso gibt es in der Gesellschaft immer wieder Diskussionen über Fragen der Geschlechtergleichheit und der Rechte von transsexuellen oder non-binären Menschen. Diese Diskussionen können für alle Beteiligten emotional belastend sein und es gibt keine einfachen Antworten auf diese Fragen. Es ist wichtig, dass alle Beteiligten respektiert und gehört werden und dass Lösungen gefunden werden, die für alle Seiten akzeptabel sind.“

 

 

Höchste Zeit, mal ein bisschen zurückschauen, und uns vor Augen zu halten, von welchem Menschenbild wir uns verabschieden wollen. Wir haben ein Modell: Johann Wolfgang von Goethe, unseren Klassiker, den Nietzsche den „Ausnahmedeutschen“ nennt, wohl weil er auch für ihn ein Ideal verkörperte.

 

Es gibt wohl keinen geeigneteren Gesprächspartner zu Goethe als Rüdiger Safranski, der sich in insgesamt drei Büchern mit ihm beschäftigt hat.

M: Lieber Rüdiger, deine Goethe-Biografie trägt den Untertitel „Kunstwerk des Lebens“.  Du hast also nicht nur seine Dichtung, sondern auch sein Leben rezensiert und es als einen eigenen Entwurf verstanden.

 

Safranski: So hat er es selber gesehen. Du hast vom Basteln gesprochen und dem Versuch einen gesteigerten, einen optimierten Menschen herzstellen. Auf dem Gebiet hat Goethe schon einiges vorgemacht. Er hatte ja einen ungeheuren Gestaltungstrieb. Er war verliebt in das schöpferische Tun. Insofern jetzt auch in der Moderne am Menschen herumgemacht wird, könnte man sagen, das ist natürlich auch ein Gestaltungsfuror, der sich sogar auf Goethe berufen kann. Erst mal, wenn wir genauer hinschauen, dann wird es natürlich sehr problematisch.

 

M: Was können wir von ihm lernen? Ich habe diese Frage auf einer Sommerparty gestellt, mit einer Goethepuppe in der Hand. Die Antworten fielen unterschiedlich aus. Die einen rühmten seine Gedichte, die anderen seine Leistung als Minister, und so gut wie alle konnten aus dem „Faust“ zitieren, der ja jetzt aus den Curricula der Schulen gestrichen wurde.

Safranski: Keine gute Idee

 

M: Zweifellos hätte Goethe den Unfug der freien Geschlechtswahl nicht mitgemacht, wobei es auch bei ihm eine Zwitterfigur gab, den Mignon, der in seinem Roman des „Wilhelm Meister“ das berühmte Sehnsuchtslied singt: “Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn…“

 

Safranski: Goethe war von solchen Phänomenen der Vermischung fasziniert. Er war ja überhaupt fasziniert davon, was die Natur alles an Wunderlichkeiten hervorbringen kann. Aber ihm war auch klar, dass das Schöpferische in der Natur ganz stark mit der Polarität zusammenhängt, eben auch jetzt Polarität der Geschlechter. Das Produktive besteht darin, wenn die Pole rein aufeinanderstoßen und in eine Spannung geraten. Insofern war er dann auch wiederum für die Eindeutigkeit.

M: Ihre Biografie nennt sich im Untertitel „Kunstwerk des Lebens“. Sie zitieren vorweg aus einem Brief an Lavater: „Diese Begierde die Pyramide meines Daseins, deren Basis mir angegeben und gegründet ist, so hoch als möglich in die Luft zu spitzen, überwiegt alles andere und lässt kaum augenblickliches Vergessen zu.“  Also er hat schon sehr früh offenbar das Bewusstsein gehabt, dass es ein Werk gibt und ein Leben gibt und beides zu gestalten ist. Er hat sich sozusagen als Exempel empfunden, als Beispiel der Menschenbildnerei.

 

Safranski: Ja, vielleicht ist das auch der Grund, weswegen der Goethe auch immer noch eine solche Präsenz hat. Wenn wir Goethe hören, dann sehen wir doch nicht nur den Dichter vor uns, sondern wir wissen, er hat auch Naturwissenschaften betrieben, hat auch Politik gemacht. Er war ein großer Liebhaber, er war ein großer Reisender, er hat Steine gesammelt, er hat, in Weimar hat er eine ganze Welt um sich herum geschaffen, einen Gesellschaftskörper.

 

M: Kurz, ein Universalgenie, ein Mensch in Vollendung, darauf wird in Zeiten des Spezialistentums kaum Wert gelegt.

 

Safranski: Eine Figur, die auf außerordentlich schöpferische Weise mit dem Leben umgegangen ist. Er konnte, wie er sagte, nicht genug von der Welt bekommen. Aber er wusste auch, und das ist ganz wichtig: ich will nur so viel in mich aufnehmen wie ich – und das ist sein Ausdruck dafür – „mir anverwandeln kann“, also mir produktiv aneignen kann und etwas daraus machen kann. Also diese Verbindung von Welthaltigkeit, von Geräumigkeit und zugleich einem Bewusstsein, dass man auch einen gewissen Immunschutz braucht, auch einen kulturellen Immunschutz. Und das Bewusstsein geht uns heute in der Digitalisierung verloren.

 

M: Dieser Immunschutz steht unter Strafe, unter Ächtungsdrohung, unter Ignoranzverdacht. Wir müssen heutzutage schon im Supermarkt darauf achten, dass die Orangen fair gehandelt sind und dürfen das Schicksal der Kaffeerpflücker in Nicaragua nicht vergessen. Und selbstverständlich für die Flutopfer in Bangladesh spenden.

Heute würde man sagen „too much information“. Du hast das einem deiner Bücher beschrieben: wir wissen alles, erfahren jedes Unglück der Welt und können nichts tun. Und damit wächst das Gefühl der Ohnmacht. Wir sind unglücklich aufgeklärt.

 

Safranski. So ist es

M: Dazu kommt die ungeheure Beschleunigung. Damals schrieb man Briefe, Goethe allein 15 000, und wartete geduldig auf Antwort. Heute setzt man emails ab, in Sekundenschnelle. Aber beugen wir uns über dieses Leben, diesen Musterbogen eines Lebens, den er in seiner Autobiografie „Dichtung und Wahrheit“ selber beschrieben hat. Er kam in den Mittagsstunden des 29.August 1749 unter einer, wie er sie auspinselt, höchst günstigen Sternenkonstellation zur Welt…

 

Safranski: Ja, so ganz hat das wohl nicht hingehauen mit der vielversprechenden Sternenkonstellation, die hat er sich erdichtet, aber er hat ja wirklich Glück gehabt, denn er wäre fast getötet worden bei der Geburt.

 

M: Die Nabelschnur hatte sich verwickelt, er wäre fast stranguliert worden

Safranski: Und er legt sehr großes Gewicht darauf, das auch genau zu erzählen, weil er will auch damit klar machen: Zur Welt zu kommen, ist kein selbstverständlicher Vorgang. Es ist ein Glücksfall, wenn es gelingt.

 

M (lachend): In diesem Fall hat die ganze Menschheit Glück gehabt

 

Safranski (ebenfalls lachend) Er hatte Schwierigkeiten, sich selbst der Menschheit zum Geschenk zu machen. Aber er war nicht nur bei seiner Geburt ein Glückskind, sondern auch danach: er war ein rundum geliebtes und erwünschtes Kind.

 

M: Wir lernen: die elterliche Zuwendung zum Kind ist der Humus, aus dem Außerordentliches entstehen kann.

Safranski: Der Vater machte seinen Beruf daraus, ihn zu erziehen, er war Privatier, musste ja kein Geld verdienen, Vermögen war da. Mit Leidenschaft stürzte er sich auf die Erziehungsarbeit. Und die Mutter war sowieso eine sehr patente, sehr vitale, sehr offene, sehr freundliche, sehr liebevolle Frau. Also er hatte ganz ideale Bedingungen. Und dieser Anschub war natürlich sehr wichtig, in diesem Maße geliebt zu werden, anerkannt zu werden. Er musste nicht so viel Lebensenergie aufwenden, um mit sich selbst befreundet zu sein, um sich selbst anzuerkennen. Das heißt, bei ihm wird sehr früh sehr viel Energie frei für die Neugier auf die Welt, für das Umgehen mit dem, was auf ihn zukommt. Da wird so wenig absorbiert durch innere Verstrickung, es ist ein durchweg offener Mensch, geöffnet also im Sinne zur Welt hin geöffnet. Er bezeichnet sich als „Weltkind“.

 

M: Ich war beeindruckt über die Aufnahmebereitschaft schon als Kind, er lernte französisch, englisch, italienisch, dann auch noch Hebräisch, dann kam Fechten und Reiten dazu, er war sportlich, dazu dieser immense Wissenshunger und Spieltrieb. In seinem Geburtshaus in Frankfurt am Hirschgraben im obersten Stock hab ich mir das Puppentheater angeschaut, das ihm wohl die Großmutter vermacht hat.

 

Safranski: Er wollte ganz schnell alles immer selber machen. Für das Puppenspiel schrieb er sofort Stücke. Er war angerührt vom Religiösen und Göttlichen, also baute er sich oben in seiner Stube einen Altar, als wolle er seine eigene Religion stiften.

 

M: Er war nicht uneitel. Seine Mutter musste ihm jeden Tag drei Uniformen herauslegen, darunter eine Galauniform mit kleinem Säbel und Puderperücke. Er genoss sich und die Aufmerksamkeit, die er auf sich zog. In seiner Autobiografie erzählt er, wie er durch die Gitter des Küchenfensters Steingut auf die Straßen warf und zerdepperte, und die Passanten lachten, was ihn erst recht anstachelte. Er mochte den Applaus.

 

Safranski: Er wollte den Auftritt. Diese Eitelkeit gehört dazu. Er verwandelte die anderen in Publikum. Dieser Zug, psychologisch gesprochen, ins Narzisstische, ist natürlich da.

 

M: Allerdings hatte er auch reichlich Gründe dafür.

 

Safranski (lacht):  Also die Selbstliebe traf keine falsche Adresse. Und im Übrigen gehört eine Portion Narzissmus natürlich zu jedem schöpferischen Menschen. Ohne das geht das gar nicht.

 

M: Allerdings hatte er sich vergeblich um Aufnahme in einen „Tugendbund“ beworben. Das wollten die anderen nicht. Also hat er seinen eigenen Kreis gegründet.

Safranski: Da müssen wir mal vorspulen. Später, als Student gibt er auch mal ein Gastspiel bei den Pietisten, also bei den Herrnhutern. Er bricht den Versuch nach ein paar Monaten ab mit dem umwerfenden Kommentar: ich habe dafür einfach nicht genügend Schuldgefühl. Ich fühle mich, wenn ich ehrlich bin, nicht sündig.

 

Matussek: Tja, wir wissen, dass wir sündigen, aber wir Katholiken dürfen auch Vergebung erwarten durch das Sakrament der Beichte, in der uns, bei echter Reue, durch den Priester die Sündenschuld erlassen wird

 

Safranski: Ja, das ist aber nun wichtig, gerade weil du ja ein religiöser Mensch bist: Goethe war auch ein religiöser Mensch, aber seine Art der Religiosität basierte nicht auf diesem protestantisch definierten Schuldgefühl, sondern das Religiöse war für ihn eine andachtsvolle Steigerung des Lebens, nicht eine vergrübeltes schlechtes Gewissen. Und den Gekreuzigten konnte er auch nicht gut leiden. Er bewundert Jesus gewissermaßen als Euro-Buddhist, aber dieses Ganze aus dem Leid heraus zu entwickeln, das widerstrebte ihm. Religion war für ihn eine Art ekstatische Steigerung der Daseinsfreude, keine Einschüchterung.

 

Matussek: Er fand den Protestantismus ein bisschen spröde und fühlte sich eigentlich zu mehr zum katholischen Mess-Theater hingezogen. Er sagte: Das Heilige muss sich mit dem Schönen verbinden, um unsterblich und unverwüstlich zu sein. Und das ist ein kluger Gedanke, finde ich. Wenn das Heilige sich durch das Schöne ins Herz oder in die Seele senkt, dann hat es Wirkung.

 

Safranski: Er hat das mal auf den Punkt gebracht in Bezug auf seine eigene Religiosität. Da sagte er, als Naturforscher und überhaupt als Mensch, der einen Bezug zur Natur hat, bin ich Pantheist. Also die Natur selber ist etwas Göttliches. Dann sagt er: als Dichter bin ich Polytheist, indem ich diese Daseinsmächte darstelle. Das sind immer viele, das sind viele Kräfte, viele Leidenschaften. Und als moralischer Mensch, da bin ich monotheistisch,  da brauchen wir so ein paar Grundregeln, die wir am besten auch gewissermaßen selig sprechen.

 

Matussek: Wir lernen: Man kann auch als Heide christlich denken

 

Safranski: Aber wie! Noch eine Formulierung bietet er uns an, um ihn in seiner Religiosität zu verstehen. Das sind die drei Ehrfurchten, die es geben muss, damit die Sache im Lot bleibt: eine nach oben, zum Göttlichen, zum Erhabenen. Eine Ehrfurcht nach unten, zur Erde, zur Natur, und schließlich die Ehrfurcht vor sich selbst. Ist das nicht schön? So prägnant, und das trifft es bei ihm wunderbar.

 

M: In der Tat, denn was wir heute erleben, ist der Verlust dieser Ehrfurcht in alle drei Richtungen. Ja, auch die Ehrfurcht vor dem eigenen Leben, auch übrigens die vor dem ungeborenen Leben. Die Ehrfurcht vor der Natur ist selbst bei den Grünen nur noch eine Behauptung. Sie klotzen die Wälder mit Betonsockeln und Windrad-Ungetümen voll, sie bilden sich ein, das Klima zu beherrschen, als seien sie Gott und die Natur eine Art Heizung, die man auf- oder abdreht. Goethe dagegen hat die Natur erst einmal betrachtet und das, was sie zu bieten hat. Wir dagegen haben sie verdinglicht, und das gilt auch für unser Bild vom Menschen.

Safranski: Du sagst es. Für Goethe kam eigentlich alles darauf an, sich selber als ein Naturwesen aufzufassen, wobei aber für ihn auch die Natur selber in einer fundamentalen Polarität besteht. Und welche Polarität ist das? Das ist die Polarität. Materie-Geist, Natur-Geist, wobei Geist für ihn eine selbstverständliche Komponente der Natur ist. Und einer seiner sehr schönen Gedanken ist ja, dass der Mensch das Medium ist, in dem die Natur sich selbst betrachten kann, also der bewusste Teil der Natur ist.

Und jetzt zu dem Punkt, auf den du zielst: Die Zivilisation mit ihrer Technik schließt uns ja immer dichter ab von unserer Natur drum herum. Die Künstlichkeit nimmt immer mehr zu, und man kann ja ein Leben in unserer Zivilisation führen nur noch mit ganz begrenzten, hochdosierten und selber künstlichen Naturbegegnungen.

 

M: Wir leben also bereits transhumanistisch, also entfremdet von der Natur, der eigenen und der äußeren.

 

Safranski:  Ja, man lebt im Gehäuse. Der Philosoph Heidegger hat das mal genannt: im Gestell. Wir hängen alle fest im Gestell. Und wenn man jetzt solche Phänomene hat, dass man sagt, das biologische Geschlecht ist gar nicht mehr die Basis, sondern ein Sprechakt, ein Konstrukt bestimmt das Geschlecht…. Da merkt man, bis zu welcher Dekadenz der Naturentfernung, wir es mittlerweile in unserer Zivilisation getrieben haben.

 

M: Was heißt hier „wir“?  Es sind die Grünen und die sogenannten Woken – die „Erwachten“ – die klingen ja nicht von ungefähr wie eine religiöse Sekte.

 

Safranski: Daran lässt sich ermessen, wie himmelweit diejenigen von der Natur entfernt sind, dass ihnen das Obszöne dieser Denkweise gar nicht mehr zum Bewusstsein kommt.

 

M: Man hört darin auch eine Art Verballhornung der romantischen Formel von Eichendorff „Und die Welt beginnt zu tanzen, triffst Du nur das Zauberwort“ – also, als Sprechakt zur Umpolung, ‚triffst du nur das Zauberwort, beginnt das Geschlecht zu tanzen‘…Aber wie gesagt: eher eine gehässige Verballhornung.

 

Safranski: Das ist natürlich der Höhepunkt es Machbarkeitswahns und der Naturentfernung, ja der Verfeindung mit der Natur. Nun hat Goethe in seiner unbändigen Neugier vor allem gegen Ende seines Lebens auch diese Tendenzen auch schon wahrgenommen. Im Faust II gibt es ja die Homunculus-Szene, wo Mephisto und Faust im Reagenzglas den Menschen zu züchten versuchen…

 

M: Elon Musk will demnächst den Menschen mit Chips optimieren…

 

Safranski: …im Faust wird das Glas mit dem Homunculus darin weggeworfen, es zerspringt  auf den Meeresklippen und der Homunculus selbst löst sich im Wasser auf und dann heißt es so schön „Da regst du dich nach ewigen Normen,/ Durch tausend abertausend Formen, / Und bis zum Menschen hast du Zeit“  Das Machwerk muss also zurück in die Natur und dort muss der Keim im evolutionären Geschehen gewissermaßen von der Pike auf dienen. Also, das Menschenmachen, das lassen wir jetzt erst mal, da lassen wir die Natur arbeiten, die lässt sich Zeit, manchmal unendlich viel Zeit, bis etwas entsteht. Im Schnellverfahren ist da nichts zu machen. Aber er hat sich gegen solche Torheiten gar nicht mal eingemauert. Er nahm die jeweils neuste Verrücktheit auf und spielte damit, auch um es zu verspotten.

M: Das hat diesen doppelten Ton. Lass uns bitte noch einmal zurück, zum Werther, seinem „Durchbruch“, wie man das heute nennen würde, schon der junge Goethe hatte ja diesen doppelten Ton aus Hingerissen sein und desillusioniertem Hinschauen. Gleichzeitig Liebe und Selbstmordgedanken. Ja, eigentlich Weltekel. Er spürt den horror vacui. Er spürt, dass die Liebe zu Lotte nicht alles ist, sondern dass dahinter auch die Leere droht.

 

Safranski: Ja, er spürt auch, dass diese Liebe etwas Fabriziertes hat. Wir sehen den Jüngling mit all diesen schönen Eigenschaften, wie er sich mit der Neugier und der Klugheit und der poetischen Sprache in etwas hineinsteigert, und zwar auch nach dem Vorbild der Literatur hineinsteigert. Diese berühmte Liebesszene mit Lotte, ein Sommergewitter geht nieder. Erste Begegnung zwischen den beiden. Und dann sagt der eine zur anderen, „wie bei Klopstock“. Das ist so, wie wenn du sagen würdest: wie bei den Doors. Also die Liebe selbst wird schon zitiert aus einer literarischen Vorlage. Klar ist er in Lotte verliebt. Aber er ist auch in das Verliebtsein verliebt. Und deshalb ist er auch geängstigt von dem „danach“.

M: Das erinnert an die Schlussszene von „Reifeprüfung“, ich weiß nicht ob du dich an den Mike-Nichols-Film von 1968 erinnerst. Ganz am Schluss schafft es ja Dustin Hoffman mit seiner Kathrin Ross, die er im letzten Moment vom Hochzeitsaltar von diesem anderen losgerissen hat, zu flüchten. Sie springen in den Bus, der zufällig hält. Übermütig lachen sie. Sie haben es dem Establishment gezeigt, dem Senator und Mrs. Robinson und dem übrigen Geldgesindel. Und dann werden sie plötzlich ernst und ernster und starren vor sich hin. Mit der bangen Frage: was nun, was kommt danach? Ein Rebell, der gewonnen hat – und nun?

Schon kurz vor dem Werther hatte der junge Goethe ja seinen eigenen Aufstand inszeniert, und zwar gleich gegen die Götter, mit seinem „Prometheus“….“Bedecke deinen Himmel Zeus mit Wolkendunst und übe dem Knaben gleich der Disteln köpft am Eichen dich und Bergeshöhn…“ Er ist der Rebell gegen die göttliche Ordnung.

 

Safranski: Ja, am Prometheus sieht man, wie Goethe mit dem klassischen Erbe arbeitet, nicht einfach verehrungsvoll, sondern er mischt sich ein in diese alten Geschichten. Prometheus hat ja den Göttern das Feuer gestohlen und den Menschen gebracht und dafür wird er von den Göttern bestraft. So, und jetzt kommt dieser junge, rebellische Goethe wie ein antiautoritärer 68er, der verbündet sich mit Prometheus gegen Zeus. Das ist so charakteristisch für Goethe. Der steht da nicht jetzt andachtsvoll vor dieser Antike, sondern das war für ihn ein lebendiger Kampf, der da stattfindet. Ja, das Prometheus Gedicht ist so eine Art Vatermord. Also er hakt sich bei Prometheus unter. Goethe hat zu dieser klassischen Vergangenheit, die eine große Rolle spielt, kein antiquarisches Verhältnis, sondern ein ganz lebendiges.

 

M: Nicht die geringsten Anschlussprobleme an das klassische Menschenbild

 

Safranski: Aber noch eines ist wichtig an dieser frühen Geniephase, bis er dann nach Weimar geht: Sowohl als Dichter wie als Gesellschaftsmensch fiel ihm alles unglaublich leicht. Nachts schreibt er seine Gedichte, die fielen ihm manchmal als Ganzes ein. Da wacht er auf, ein Gedicht im Kopf, schreibt das auf dem Papier, hat noch nicht mal die Zeit, das Papier gerade hinzulegen. Schreibt so schräg über den Bogen rüber. So schnell muss das gehen. Also es fällt ihm unglaublich leicht.

 

Und jetzt kommt das Interessante. Das ist einer dieser Häutungen und dieser Zäsuren in diesem Leben von Goethe. Jetzt nimmt er den Ruf nach Weimar an.

 

M: Wir lernen: es ist wichtig, der inneren Stimme zu gehorchen, der inneren Regung zu folgen. Das kann die künstliche Intelligenz nicht. Sie hat kein Inneres. Das gibt dieses KI-Programm Chat GTP selber zu, ich hab es danach befragt.

 

Safranski: Ja, warum geht der jetzt zum Teufel nach Weimar? Warum macht er das? Antwort: Weil ihm alles so leicht gefallen war bisher. Das Dichten konnte er gar nicht als Arbeit ansehen. Das ist eher so ein Geschehen. Er will die Herausforderung, sagt sich: Jetzt will ich eine richtige Arbeit, jetzt soll mir mal richtig etwas schwer fallen. Jetzt will ich mal die Mühen der Ebene, die Arbeit, einen Stein hoch zu wälzen. Das war, das war der Antrieb, nach Weimar zu gehen.

 

 

M: In den ersten Monaten allerdings hat er sich noch einmal richtig ausgetobt, vor allem mit dem jungen Herzog an der Seite.

 

Safranski: Richtig, das wurde für ihn ein Problem, aber dann machte er klar: er wollte Verantwortung übernehmen. Bisher hat er Pegasus, das poetische Pferd, das Himmelspferd geritten. Jetzt sollte es der Amtsschimmel sein, und den ritt er mit bemerkenswerter Energie, er stürzte sich in alle möglichen Aufgaben, in die Finanzen, die Politik, den Wegebau, das Schulsystem, alles Mögliche. Hans Dampf in allen Gassen. Manchmal auch dilettantisch. Als Jurist war er sowieso keine große Nummer. Aber er wollte das jetzt.