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Jetzt sollte es der Amtsschimmel sein, und den ritt er mit bemerkenswerter Energie, er stürzte sich in alle möglichen Aufgaben, in die Finanzen, die Politik, den Wegebau, das Schulsystem, alles Mögliche. Hans Dampf in allen Gassen. Manchmal auch dilettantisch. Als Jurist war er sowieso keine große Nummer. Aber er wollte das jetzt.

M: Und er hatte durchaus Erfolg. Die Finanzen hat er tatschlich saniert. Das war ja vorher eine Schuldenwirtschaft. All der Pomp auf Pump. Also das, was wir heute „Sondervermögen“ nennen. Und er hat am Militär gespart.

 

Safranski: Politisch war er ein heller Kopf. Da war dieser große Machtblock im Norden, also Preußen, und im Südosten der andere Block, das Habsburger Kaiserreich, und seine Vision war, einen Bund der Mittelmächte zu schmieden, um nicht zwischen diesen Blöcken erdrückt zu werden. Er vertieft sich in Weimar sosehr in die Amtsgeschäfte, dass der Punkt kommt, wo er merkt Hoppla, da stimmt die Balance nicht mehr. Nach rund zehn Jahren, also 1786, bricht er aus. Er reist aus, bricht auf nach Italien, heimlich, ohne den Fürsten oder seine Freundin Charlotte von Stein zu informieren. Er will herausbekommen, ob seine poetische Ader trockengelegt ist, oder ob da noch etwas lebt.  Und er entdeckt zu seiner Freude, das kommt alles wieder.

 

M: Er begibt auf die Italienische Reise, er bildet sich weiter durch eine Auslandserfahrung, auch das gehört dazu, was passiert da?

 

Safranski: Er lebt auf. Er war ja im Zweifel, ob er noch Kunst machen kann, wirkungsvolle, schöne, von der Art, die ein Menschenleben ausfüllt. Das will er überprüfen. Ich finde das einen sehr mutigen Schritt.

 

M: Er riskierte ja durchaus, seinen Geldgeber, den Herzog, zu verärgern

 

Safranski: Na ja, den hält er sich auch weiterhin warm, aber ein gewisses Risiko ist dabei, dass seine ganze bisherige Stellung in Gefahr gerät. Aber er riskiert es trotzdem. Und in Italien erlebt er seine ganz persönliche Renaissance

M: Er nimmt ja Arbeit mit, zum Beispiel die Iphigenie, die er ja makabererweise während einer ziemlich rohen Phase, nämlich einer Rekrutenerhebung, erarbeitet hat und die das klassische Stück schlechthin bildet, eine Feier der Humanität und Tugend.

 

Safranski: Ja, er nimmt sich seine Werke noch einmal vor, macht zum, Beispiel den Egmont fertig, er versifiziert die Iphigenie, also er schreibt nicht nur die „Italienische Reise“, die auch berühmt wird, sondern er will auch Dinge zum Abschluss bringen. Er kostet diese Zäsur der Italien-Erfahrung aus, nimmt sie als Herausforderung an, die auch darin besteht, die Welt zu sehen, neu zu sehen.

 

M: Er erlebt zum Beispiel den römischen Karneval. Und er schreibt, dass Gleichheit und Freiheit zusammen zu feiern nicht geht. Das gehe nur im Wahn des Karnevals.

 

Safranski: Das ist ein schönes Beispiel, wie Goethe manchmal ganz eminente und zentrale Einsichten auf solchen Nebenschauplätzen formuliert. Freiheit und Gleichheit, das funktioniert tatsächlich nur im Karneval. Eine freie Gesellschaft bedeutet ja, da wachsen die Leute und ihre Talente und ihre Durchsetzungskräfte ganz verschieden heran, da kann es keine Gleichheit geben. Das ist für Goethe eine ganz elementare Einsicht. Und dass er die im Karneval formuliert, ist großartig.

M: Dort im Karneval lernt er auch die geheimnisvolle „Faustina“ kennen, und da kommt es zum ersten Mal zu dem Ereignis, das wir als „geschlechtliche Vereinigung“ bezeichnen, also Verkehr, was mich wundert, denn er ist mittlerweile 34 Jahre alt.  Bis dahin hatte er enorm viele Frauenbekanntschaften, aber meistens unmögliche, weil sie entweder bereits vergeben sind, oder weil er die Bindungen scheute. In Italien wird er entjungfert.

 

Safranski: Na ja, wie bei allen halbwegs interessanten Aspekten Goethes gibt es da gleich meterweise Literatur dazu. Also zum Beispiel die Deutung, dass er vorher sexuelle Ladehemmung hatte und die italienische Reise brauchte, weil auch sein Vater in Italien war, und er also erst da mit ihm gleichziehen konnte. Der Psychoanalytiker Eisler hat ein 800-Seiten-Werk darüber verfasst, warum Goethe erst in Italien zum Schuss kam. Ich will sagen: Wir wissen es nicht. Goethe war auch äußerlich in seinen jungen Jahren ein so anziehender und leidenschaftlicher Mann, dass ich keinen Schwur darauf leisten möchte, dass er tatsächlich noch Jungfrau war.

 

M: Auf alle Fälle stürzt er sich in diese sexuelle Leidenschaft,  die „Römischen Elegien“ legen davon Zeugnis ab – hinein in diese Liebesaufregung, als sei er noch in der Pubertät.

 

Safranski: Das ist ein wichtiges Stichwort. Er sollte ja noch weitere Pubertäten erleben. Und er schätzte diese pubertäre Aufgeregtheit hoch ein. Die Pubertät ist ja eine Umbruchzeit, eine Zeit der Öffnung. Man tritt aus Festgelegtheiten heraus. Man begreift sich, wenn man es nutzt. Er hat ja auch später, 1818, da war er schon an die 70 Jahre, im „West-östlichen Divan“ mit einer solchen Verliebtheit gespielt in seinem Briefwechsel und den Reimspielen mit seiner – verheirateten – Briefpartnerin Willemer. Es war ein Stoß Jugendlichkeit, für den er dankbar war.

M: Unser Klassiker als Verteidiger der Pubertät. In unseren Schulen muss man noch lernen, mit diesem schwierigen Alter umzugehen. Da gibt es diese besondere Offenheit für alle möglichen Welterklärungen und Fehlschaltungen. Das ist fast wie in der Gnosis heutzutage mit all den Heilslehren, die da herumschwirren. Black Lives matter, Feminismus, Ökologismus, Weltuntergang, Vegetarismus, Veganismus, Transhumanismus. Das klassische oder klassizistische Ideal des abgerundeten, harmonischen, allseits gebildeten Menschen gibt es nicht mehr, das ist ein Auslaufmodell, eine ferne Erinnerung. Die jungen Leute von heute haben alle ADS, das nervöse Zappelphilipp-Syndrom, zerrissen, völlig außer Gleichgewicht.

 

Safranski: Dem Befund muss leider zugestimmt werden

 

M: Deshalb lass uns noch bitte kurz über die Iphigenie reden, das Drama des Klassizismus schlechthin. Goethe nannte die Iphigenie „verteufelt human“. Und Adorno hat in seinem Aufsatz über diese Teufelei nachgedacht. Iphigenie, die ihr Vater Agamemnon opfern will für einen günstigen Ausgang des trojanischen Krieges, wird von Artemis gerettet und auf die Insel Tauris – die heutige Krim – versetzt. Sie ist Gefangene des wildes Herrschers Thoas, der sich in sie verliebt. Ihr Bruder Orest findet sie dort und will mit ihr flüchten. Sie widersetzt sich. Statt – wie von Thoas befohlen – Orest zu töten, eröffnet sie Thoas ihre Fluchtpläne und appelliert an seine Liebe und seine Großzügigkeit und bittet, sie ziehen zu lassen. Und Thoas kann sich dem Appell an seine Liebe und seine Humanität nicht verschließen und lässt sie gehen.

Safranski: Die Iphigenie, die sanfte Iphigenie, erpresst ihn geradezu mit seiner Liebe, verlangt von ihm, von seiner Sitte der Tötung aller Fremden abzuweichen. Ihretwegen. Der Humanismus, zu dem Thoas von Iphigenie überredet wird – „so fahrt denn wohl“ sind seine letzten Worte – wird von ihr zu seinem Gutsein erpresst. Dass dieser Humanismus eine Spur von Gewalt in sich trägt, sonst funktioniert das alles nicht, wurde von Adorno sehr scharfsinnig herausgelesen.

 

M: Sein Vortrag darüber – über das Klassizismus-Problem der Iphigenie – war sein letzter. Studentinnen stürmten das Podium, zeigten ihre Brüste, streichelten ihn über den Kopf, überreichten ihm einen großen Teddybären– Teddy war sein Spitzname – bis Adorno, der rein theoretisch die Notwendigkeit eines Aufstands gegen das System forderte, mit Tränen in den Augen den Hörsaal verließ. Er hatte mit der Besonnenheit und dem Humanismus der Iphigenie bei seinen Zuhörern im Auditorium gerechnet. Stattdessen wurde er von wilden Taurern, von gewalttätigen Banausen, in die Flucht geschlagen.

 

 

Safranski: Das ist die traurige Ironie und ein Beispiel dafür, dass der Idealismus als Weltanschauung vielleicht auf der Bühne klappt, aber nicht in der Wirklichkeit. Aber es ging Goethe ja wirklich um ein Ideal, nach dem man sich strecken sollte. Deshalb die Versifizierung, der hohe Ton. Das Ganze ist in einer wunderbaren Sprache aufgelöst. Goethe (wie auch Schiller) verabscheute den Naturalismus. Auf der Bühne sollte es um gesteigerte Erfahrungen gehen, nicht um einen stumpfen Abklatsch der Wirklichkeit.

M: Anfang der 70er Jahre auf dem Berliner Theatertreffen – damals war ich noch Theaterkritiker – gab es eine Inszenierung von Ernst Wendt, die nur auf die Sprache abhob. Die Schauspieler standen vor dem geschlossenen Vorhang und lasen den Text. Nicht wenige buhten am Schluss – es war tatsächlich eine Strapaze.

Was hatte es mit diesem Ziel der „Ästhetischen Erziehung des Menschen“ auf sich, auf das sich Schiller mit Goethe in der Zeitschrift „Die Horen“ verständigt hatte? Schönheit der Kunst veredelt den Menschen auch sittlich, das ist der Kerngedanke. War das der Beginn der deutschen Besserwisserei, der moralischen Überhebung? Wir machen der Welt vor, wie Humanität zu verwirklichen ist?

 

Safranski: Hier muss man Schiller und Goethe doch auseinanderhalten. Da dachte Schiller doch etwas anders als Goethe.

 

M: Kurz dazwischen, um es vielleicht primitiv herunterzubrechen: War Schiller, der idealistische Aufrührer, der Linke und Goethe, den manche als „Fürstenknecht“ beschimpften, der Rechte?

 

Safranski: Goethe war sicher der Konservativere von beiden.

 

M: Schiller wurde – wahrscheinlich wegen seines Dramas „Die Räuber“, wo der outlaw der Gute ist, und der feudale Systemling der Böse – zum Ehrenbürger der französischen Revolution ernannt. Schiller musste fliehen.

 

Safranski: Ja, die Ehrenbürgerei. Die dauerte, denn die Franzosen in ihrer kulturellen Arroganz, hatten nur den Namen und den schrieben sie falsch, Chillair oder so, es dauerte fünf Jahre bis die Urkunde ausgehändigt wurde, da waren die meisten, die sie unterschrieben hatten, bereits guillotiniert. Goethe, durchaus amüsiert, sagte zu Schiller: Sie haben Nachricht aus dem Hades bekommen…

M: Da hatte sich Schiller schon längst distanziert, nicht wahr, er war angewidert von der terreur, der revolutionären Abschlachterei

 

Safranski: Er war sich mit Goethe darin einig,  dass der Mensch nicht durch Gewalt, sondern nur durch Schönheit und Kunst zum Guten gebracht werden kann.

 

M: Sie wollten also erzieherisch wirken. Schiller sprach von der Bühne als „moralischer Anstalt“- nun scheint genau das sich bis heute durchzuziehen, bis zu den Energie-Einsparungsmaßnahmen der grünen Regierung – wir Deutschen wollen der Welt ein Vorbild sein in unseren Anstrengungen zur Klima-Rettung.

 

Safranski: Es hatte durchaus ein wenig von am deutschen Wesen wird die Welt genesen. Der Akzent war schon dabei. Nun, es war ein bisschen tiefer gedacht. Schiller ging so weit, dass er sagte, der Mensch ist noch gar nicht reif zur Freiheit. Man muss ihn erst freiheitsfähig machen, und das Spielfeld, auf dem das geschieht, ist die Kunst. Da übt man, sich gehen zu lassen. Im Spiel. Nur im Spiel, sagt Schiller, ist der Mensch ganz Mensch. Das ist der Kernsatz. Das war durchaus auch als Kontrastprogramm zu diesem rabaukischen, blutsäuferischen Frankreich gedacht.

Anders Goethe. Er war pragmatischer. Er machte da ein Fragezeichen. Er meinte, es genügt schon, wenn man durch die Kunst ein wenig höflicher und gesitteter wird. Also: ‚Hamses nich ne Nummer kleiner‘. Das war im Grunde das, was Goethe zu seinem Freund Schiller sagte, in Bezug auf dieses Projekt.Er sagte: seien wir bescheidener.

 

M: Goethe mochte keine ruckhaften Veränderungen, er setzte auf das Werden und Wachsen, auf langfristige Prozesse, die verfolgt werden mussten. Die Menschenbildner von heute denken kurzfristiger, panikartiger. Es muss sofort geschehen, sonst sind wir verloren, und deshalb müssen wir Zwang anwenden. Goethe ging es um die Kunst. Er hatte im Sinne, gattungsgeschichtlich zu wirken. Also er schrieb den „Roman“, die „Novelle“, das „Märchen“ usw.

Safranski: Vielleicht kann man es so sagen, wie ich es in meinem Schillerbuch ausführte: Schiller ging es um die Freiheit.  Er war gewissermaßen der Sartre des späten 18. und frühen 19.Jahrhunderts. man muss etwas machen aus dem, wozu man gemacht wurde. Er dachte vom Entwurf her, und das bezog sich sogar auf den eigenen Körper. Er war ja immer sehr krank. Die Ärzte sagten, er hätte eigentlich schon zehn Jahre früher sterben müssen, als sie ihn aufschnitten. Aber Schiller sagte: es ist der Geist, der sich den Körper baut.

 

M: Das geht schon fast in Richtung Transhumanismus, oder? Das Leben verlängern durch einen Willensakt.

 

Safranski: das ist der Unterschied zu Goethe. Der war ein Meister des Lassens, nicht so sehr des angestrengten Machens. Er hat nur gedichtet, wenn er dazu in Stimmung war. Am Faust arbeitete er ein Leben lang. Immer mal wieder ein paar Stunden, dann treibt er was anderes voran, dann katalogisiert er seine Steine, dann ist er Minister, er lässt die Dinge wachsen. Das ist ein ganz anderer Stil. Der eine ist Macher und der andere ein Lasser, der eine will Freiheit, der andere Natur. Deswegen ist das ja eine so unglaubliche Freundschaft, sie spüren durchaus ihre Gegensätze, dann aber auch, wie sie sich wunderbar ergänzen.

 

M: Du hast das ja in deinem Buch über die Freundschaft der beiden wunderbar beschrieben. Schiller begegnet Goethe zum ersten Mal, als er vor ihm kniet. Vor ihm und dem Erzherzog, als diese die Karlsschule visitieren. Ich war ja selber auf diesem Gymnasium, die sind immer noch sehr stolz auf ihren Schüler Schiller. Schiller also, als Schüler, schaut hinauf zu Goethe. Später umwirbt er ihn. Er ist frustriert, weil der so unnahbar bleibt. Bis er an einen Freund schreibt „Man muss ihm wie einer stolzen Prüden ein Kind machen.“ Und noch später erkennt er leise: „Es gibt dem Vortrefflichen gegenüber nur die Wahl, ihn zu lieben.“ Da ist diese wundervolle Skizze von Thomas Mann, sie heißt „Späte Stunde“ und zeigt Schiller, wie er an seinem  Wallenstein schreibt, und sich quält, und dann hinüberschaut zum Frauenplan, wo der anstrengungslose Meister der Dichtkunst lebt, der Olympier, dem alles leicht fällt.

 

Safranski: Aber natürlich wusste Goethe, was er an Schiller hatte, der ihm half, beim „Wilhelm Meister“, beim „Faust“ – das „Vorspiel im Himmel“ geht auf Schiller zurück. Sie waren ideale Sparringspartner. Goethe schrieb an Schiller: „Fahren Sie fort, mich mit mir bekannt zu machen.“ Der eine war der Analytiker, der andere das Emotionstalent, das griff ineinander wie Ying und Yang.

 

M: Statt, wie es heute üblich wäre, sich über einer Meinungsverschiedenheit die Schädel einzuschlagen. Scheint, dass sie den idealen Menschen, oder das klassische Menschenideal,  gemeinsam schufen.

Safranski: Die Zeit der Freundschaft, also von der großen Begegnung 1794 an bis zum Tod Schillers 1805 gab es Phasen, da fühlen sie sich auf dem Feldherrenhügel der Literatur der Deutschen. Eine Sache war ihnen wichtig: sie lehnten den platten Naturalismus ab. Kunst sollte nicht ein Ausschnitt des Alltags sein, sondern eine Steigerung des Lebens. Dafür entwickelten sie ihre ästhetischen Kriterien.

 

M: Sollten sich die Heutigen beherzigen. Aus meinen Tagen als Theaterkritiker weiß ich, dass oft ja gar nicht mehr der Text aufgeführt wird, sondern nur noch Subtext, also nur noch das, was irgendeinem Regisseur durch die Rübe schießt bei der Lektüre…Hast du mal eine gute Aufführung des Faust gesehen?

 

Safranski: Na ja, da gibt es diese wunderbare Verfilmung von Gustav Gründgens.

 

M: Auf der Bühne, meist wird ja nur der erste Teil inszeniert, habe ich selten eine erlebt. Vielleicht dieses Mammut-Projekt von Peter Stein auf der Expo in Hannover im Jahr 2000. Eine 22-stündige Unternehmung. 12111 Zeilen, mit rund 600 Sprechrollen, darunter Tiere, Geister und Fabelwesen. Der ganze Faust, beide Teile, das war famos, weil es für viele überhaupt die erste Begegnung mit diesem Textgebirge war, samt aller Wunder, mit diesem tollen Ensemble, mit Schauspielern wie Corinna Kirchhoff als klassische Helena oder Robert Hunger-Bühler als Mephisto, die tatsächlich diesen enormen Text leben ließen. Hunger-Bühler traf ich am Tag darauf erschöpft an einer Straßenbahnhaltestelle, erschöpft auch, weil die Kritik an diesem Mammutvorhaben mäkelte, es fehlte ihr offenbar der kürzende Regietheater-Zugriff.

 

Safranski: Es ist tatsächlich ein unendlich lebendiges Stück. Und weil du am Anfang den Lessing erwähntest und seinen „Nathan“, der natürlich in die politisch-korrekte Multikulti-Versöhnungslandschaft passt – das Tolle am „Faust“ ist ja, dass er keine moralistische Figur ist. Und das passt eben in unsere Zeit, dass man den rauswirft und mit dem „Nathan“ ersetzt, bei dem sich die Schüler todsicher langweilen. Beim „Faust“ hast du die Chance, 22 Stunden lang nicht gelangweilt zu werden.

 

M: Er ist sicher schwer zu inszenieren, weil er ja ein Weltmärchen ist, eine Weltumrundung, und eine Zeitreise, gerade im zweiten Teil, der Besuch bei der schönen Helena in der Antike, die Experimente mit dem Homunculus, die Erfindung des Papiergeldes am Kaiserhof, später die Landgewinnung und die frühkapitalistische Vertreibung von Philemon und Baucis, und am Schluss die Himmelsleiter mit den Engeln, die auf und absteigen…

 

Safranski: Das Verwunderliche ist ja, dass sich Goethe seinem Freund Schiller, dem Jüngeren, unterlegen fühlte. Er fühlte sich fast als dessen Schüler. Er hielt Schiller für den Profi und sich selbst für einen Amateur…

 

M: Was daran gelegen haben mag, dass Schiller als Theaterautor wesentlich erfolgreicher war. Bei ihm klingelten die Kassen. Ja, er hielt sich ja auch für einen großen Schauspieler, trotz seines breiten schwäbischen Akzents, die Romantiker um Schlegel und Tieck haben sich kaum eingekriegt vor Lachen.

 

Safranski: Goethe brauchte Schiller, um sich zu vergegenwärtigen, was er da eigentlich tut, wenn er dichtet. Und im Briefverkehr mit Schiller wird ihm das klar. Er kommt seinem Betriebsgeheimnis auf die Spur, Schiller ist für ihn ein Bewusstseinsspiegel. Beide haben sich beschenkt. Und das letzte Geschenk, das Goethe Schiller machte, war der Stoff zum Wilhelm Tell. Denn Goethe war ja mehrere Male in der Schweiz und hat das Material gesammelt, weil ihn das interessierte. Und in wenigen Wochen, sein letztes, wirklich großes Werk gemacht.

 

M: Die beiden ringen um die deutsche Sprache, sie veredeln sie, sie bringen die deutsche Sprache zur Blüte. Dein Romantik-Buch beginnt so wundervoll und geheimnisvoll mit Herder und dessen Aufbruch ins Ungewisse von Riga aus, Herder, der Stürmer und Dränger, auch der Sprachforscher. Von Herder stammt der Satz: „Sprache ist Vernunft und Vernunft ist Sprache.“ Im Moment erleben wir den Abbau der Sprachfähigkeit und das Auftauchen von Ersatzsprachen, von ideologisch beauftragten Sprachverkrümmungen und  -verkümmerungen. Das Gendersprech mit seinen Binnen-Is und Knacklauten mit gleichzeitiger Moralisierung der Grammatik ist ja nicht das Einzige. Dass heutzutage wissenschaftliche Arbeiten, die nicht gegendert sind, entweder schlechter benotet oder gar nicht erst angenommen werden, ist meiner Ansicht nach Barbarei.

Safranski: Wir tun gut daran, auf die Sprache zu hören, weil sie dasjenige ist, in dem gesammelte menschliche Intelligenz repräsentiert ist als Struktur, als Ordnung, als Semantik, also als die Vielfältigkeit von Bedeutungen usw.. Das heißt unsere erste Haltung gegenüber der Sprache sollte eine pragmatische Ehrfurcht sein. Wir sollten von der Sprache lernen, in sie hinein hören. Was jetzt passiert kommt mir vor wie der Lärm von verzogenen Kindern, die klüger sein wollen als die Sprache, und das mit moralischem Gestus. Es ist ein banausischer Moralismus.

 

M: Was würdest du den Schülern von heute aus Goethes Werk zur Lektüre empfehlen.

 

Safranski: Immer wieder den „Werther“. Weil da jeder merkt, was wirklich eine Sprache des Herzens ist und nicht eine Sprache der moralischen Gesinnung. Und zu welcher Lebendigkeit, die Sprache in der Lage ist. Wenn man Werther liest, kann man nicht nur selber dann in die Geliebte da verliebt sein, sondern man kann sich verlieben in die Sprache

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M: Lass uns doch abschließend über das schönste und berührendste Gedicht Goethes reden, das berühmte Nachtlied

 

Ueber allen Gipfeln
Ist Ruh’,
In allen Wipfeln
Spürest Du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur! Balde
Ruhest du auch.

 

Er notierte es auf die Bretter der Hütte auf dem Kickelhahn, zu der er 1780 aufbrach aus dem Weimarer Trubel und den Geschäften dort, weil er Ruhe brauchte.

 

Safranski: Es ist eine ergreifende Geschichte, er geht ja kurz vor seinem Tod noch mal hinauf, und erkennt auf den verwitternden Brettern die mit Bleistift dort hingeworfenen Worte, und die Tränen rollen

 

M: Damals, als er das Gedicht schrieb, war er knapp über 30, also noch relativ jung

 

Safranski: Vielleicht war es auch ein bisschen diese melancholische Weltverachtung der Jugend…aber Du merkst an dieser kurzen Zeile, also „warte nur, balde ruhest du auch“, es ist ja eigentlich eine Vergegenwärtigung der Sterblichkeit und des Vergehens. Und du spürst, weil wir eben von der Magie der Sprache gesprochen haben, dass ein solches ernstes Vorkommnis wie unsere Sterblichkeit in einer wunderbaren Gestalt vor uns erscheint.

 

M: Es ist so knapp wie ein japanisches Haiku, das ja auch im Wesentlichen mit lapidaren Naturbildern operiert, die aneinander oder gegeneinander gesetzt sind, ohne sie mit Bedeutsamkeit aufzuladen, keine Abstrakta, keine Metaphern, nach dem Punkt bei „Vöglein schweigen im Walde.“ wechselt die Perspektive vom Beobachteten zum Beobachter, der nun ebenso schlicht („warte nur Balde“) als zur Ruhe kommendes Dasein angesprochen wird.

 

 

Safranski: Gewissermaßen triumphiert die Poesie über den Tod. Diese Kraft hat die Poesie, und wenn man dafür Sinn hat, für diese Sprache. Wenn man bemerkt, was sie alles kann, dann ist man ihr so dankbar, dass man jede Form ihrer Vergewaltigung zurückweist.