Bernd Lucke und seine Partei Alternative für Deutschland schneiden bei Wahlen neuerdings erstaunlich gut ab. Was hat der erfolgreiche, aber umstrittene Parteichef bloß, was andere nicht haben?

Der Spießer. Vielleicht ist er ja das letzte Exemplar. Und da es hier um Deutschland geht, muss ich handeln. Ich stell den Fuß aufs Trittbrett, um den ICE, Gleis 8, am Verlassen des Frankfurter Hauptbahnhofs zu hindern. Die Schaffnerin will die Kelle hochhalten, ich sage, Moment, da kommt noch einer, und ich hebe die Hand und winke. Da kommt er tatsächlich gelaufen, mit Rucksack und Rollkoffer, leichter Sprint, schlank, lachend, als ob das alles hier ein Spaß sei und nicht der Ernstfall.

Bernd Lucke, Chef der Alternative für Deutschland, da steht das ganz Große doch schon im Parteinamen! Die ALTERNATIVE. Für DEUTSCHLAND. Rumms. Warum ausgerechnet das in der Welt von allen beneidete Deutschland, diese Insel der Sorglosen und Glückseligen, eine Alternative braucht, muss er mir erklären. Wäre nicht erst mal Russland dran oder Syrien?

Bernd Lucke also schafft es, den Zug zum Wahlkampf in Thüringen nicht zu verpassen. “Sie sind eher so der Zuspätkommer?”, frage ich leicht gönnerhaft, während wir nach einem freien Abteil suchen. “Eigentlich nicht”, sagt er, “aber Sie sind wohl der Überpünktliche.” Das musste ich mir bisher von niemandem sagen lassen.

Eine fiese Kellerassel aus “Men in Black”?

Nun gut, er wirkt jung, schätzungsweise 34 Jahre alt, auch wenn das Archiv 52 behauptet, allerdings, er hat bereits fünf Kinder, und er gibt in Talkshows meist den rechthaberischen Igitt-Spießer und das Trampolin, auf dem aufgebrachte Menschen ihre demokratische Gesinnung vorturnen.

Seit der ehemalige Christdemokrat als AfD-Chef die politische Arena betreten hat, wollen ihn immer alle enttarnen. In der letzten Bundestagswahlnacht – die AfD verpasste den Einzug ins Parlament knapp – nannte er das parlamentarische System “entartet”. Entartet! Das sind dann so diese Momente, wo dem Kenner klar wird, dass Lucke doch kein Mensch ist, sondern diese fiese Kellerassel aus “Men in Black”, die sich eine Menschenhaut nur übergestülpt hat, und plötzlich rutscht da so ein Käfer-Fühler raus.

Entartet. Ertappt. Volker Kauder von der CDU mag schon gar nicht mehr mit Lucke oder irgendeinem von der AfD an einem Talkshow-Tisch sitzen. Was eventuell damit zu tun hat, dass Kauder es gar nicht mag, dass ihm Luckes AfD die Wähler nimmt. Mit einem Programm, das die CDU früher vertreten hat. Familie, Vaterland, Ordnung und Sicherheit. Offenbar gibt es weiterhin eine Nachfrage danach, die nun die AfD stillt. Wie der Wahlerfolg in Sachsen bewies. Und wie es voraussichtlich in Brandenburg und Thüringen in einer Woche sein wird.

Warten auf den Zusammenbruch des Systems

Es gibt ein paar obskure Nummern in der Partei. Gerade trat der 70-jährige Detlev Spangenberg in Sachsen das Amt als Alterspräsident nicht an, weil er seine rechte Vergangenheit verschwiegen hatte. Krumme Nummern gibt es bei jeder Neugründung, das war bei den Grünen, bei den Piraten nicht anders.

Also die Morgenlage im Abteil. Die Schlagzeilen des Tages: der Ukraine-Konflikt und Draghis erneute Zinssenkung auf 0,05 Prozent, der letzte Schuss der EZB, um die Konjunkturen in der Euro-Zone anzukurbeln. Ich bin ja sehr für Europa, sage ich. Ist es nicht toll, dass Europa mit einer Stimme spricht?

Lucke lächelt. Eine Stimme? Hm. Was die Euro-Zone angeht, wohl kaum. Und die Briten sind nicht dabei, die Dänen nicht. Er spricht über die Risiken eines Schuldenausfalls, dann über einen möglichen Zusammenbruch des Systems. Und was machen wir Sparer denn mit unserem Geld bei diesen Zinsen?

Wo hat er seins? “Aufm Girokonto”, sagt er. “Obwohl es da weniger wird. Aber Aktien und Immobilien sind mittlerweile überhöht.”

Luckes Deutschland sieht düster aus

Draußen fliegt Deutschland an einem Spätsommermorgen vorbei, Pferdekoppeln, Wälder, sattes schönes Deutschland. Luckes Deutschland sieht dagegen ziemlich düster aus: Die Niedrigzinspolitik führt zum Aderlass aller. “Die Sparer, die Riester-Rentner, die ganzen Pensionsfonds, die Stiftungen, alle verlieren Geld.” Und das ist Schuld des Euro?

In Fulda umsteigen, ein endloser Transportzug mit VW-Lieferwagen rattert vorbei wie eine trostreiche Demonstration des deutschen Bruttosozialprodukts. Nun ja, denke ich mir, während der Professor den Autos hinterherschaut, wahrscheinlich sieht er, wie jeder Calvinist, im materiellen Wohlstand den Vorschein göttlicher Gnade. Bernd Lucke ist reformierter Protestant, hat seine Kinder so erzogen, hat früher Kindergottesdienste veranstaltet.

Er wirkt fast zart, der Anschluss-Zug kommt, wir rattern weiter nach Osten, sind wir schon drüben? “Habe ich mich auch gerade gefragt”, sagt er. Ich tippe auf ja, ist alles so neu hier. Jetzt kommt Eisenach, Geburtsstadt von Bach. Feiert gerade den 150. Todestag von Lassalle. “Sie wissen, wie er gestorben ist?”, fragt er. “Duell, Schusswunde!” – “Ja, aber wohin?” Er guckt kurz auf seinen Schoß. “Echt?” Genau dahin. Und er erzählt die ganze Geschichte mit Helene von Dönniges und vom fiesen Schuss des rumänischen Bojaren, lächelnd, als ob da was Schmutziges weggeschossen worden sei, als sei er dabei gewesen. Und so einer war in der Studienstiftung des deutschen Volkes und Stipendiat in Berkeley!

Uncool und aus der Zeit gefallen

Die Bücher seines Lebens? “Da kommt es natürlich aufs Alter an.” Also? “Vom Winde verweht”. Als Buch! Und dann? Nein, nicht “Anna Karenina” und die üblichen Verdächtigen, sondern Uwe Johnson und Sigrid Undset, unter den Franzosen Balzac, von Hugo die Gedichte, und er zitiert “Demain de l’aube”, in dem Hugo den frühen Tod seiner Lieblingstochter betrauert, und es klingt schön. Derzeit übt er für Brüssel, die Familie zieht um.

Er hat zwei Töchter, drei Söhne, zweimal hat er Erziehungsurlaub genommen, er ist der neue Mann. Der zweitälteste hat sein Abi mit 16 gemacht und an der Uni in Freiburg einen AfD-Kreis gegründet, das ist natürlich für jeden schwäbischgrünen Widerstandskämpfer das fleischgewordene Grauen, was für ein Fell muss der haben.

Bernd Lucke ist uncool, was zunehmend gefährlich ist in Zeiten, in denen halbseidener Popsound die politische Analyse und das Lifestyle-Bekenntnis das Argument ersetzt. Was die Gefahr mit sich bringt, auf Blender hereinzufallen. Gefeiert von der Szene wurde der junge adlige Verteidigungsminister wegen der passenden Boots und seiner blonden Hingucker-Frau; gefeiert wurde ganz besonders der junge “Karstadt-Retter” und Kunstsammler Berggruen, und keiner vergaß, die Ärmel-Lederflicken auf den Sakkos zu erwähnen und die Hotels, in denen er nomadisierend lebt.

Und jetzt kommt dieser aus der Zeit gefallene lustfeindliche Wirtschaftsprofessor und rechnet? Dieser Radfahrer, der nichts davon hält, Kinder zu verziehen und vor den Fernseher zu setzen? Wo gibt’s das noch, im Ernst?

Im gleichen Boot mir der Linken

Lucke trägt C&A, grau, Konfektionsgröße 48, blaues Hemd. Sport? Nö, er fährt Rad und badet gern im See. Seine Lieblingsgegenden? “Niedersachsen.” Jetzt hör auf. Und sonst? “Brandenburg.” Nun ist auch mir klar: Er verstellt sich. Wieso Brandenburg? “Die Seen, die Rapsfelder, es gibt nichts Schöneres für Radtouren.”

Vielleicht sollte man den ganzen Lucke rahmen, als letzten Spießer, letzten Normalo, als alles, was in einer an Distinktionsgewinnen interessierten hysterischen Mediengesellschaft nicht geht: unauffällig sein. Dabei lacht er ständig. Wir plaudern, und plötzlich hockt ein junger Typ im Hoodie neben uns und möchte ein Selfie mit Lucke. Freier Künstler. Findet Lucke interessant. Der Typ steckt Lucke einen Brief zu, einen Computerausdruck, wäre toll, wenn er das läse.

Das Grauen, ganz plötzlich. Es ist der Brief eines Afghanistan-Soldaten, offenbar schwer traumatisiert, ein Brief an seine Geliebte, er ist auf Montage, er hört Schreie auf der Arbeit, er kann nicht schlafen, “denn schon im Halbschlaf sind Schlangen aus Wind unter meine Bettdecke geschlichen”.

Artauds Theater der Grausamkeit hat plötzlich übernommen, Zeilen wie Blitzschläge, die den Komfort-Horizont im ICE aufreißen. Wir sind beide ratlos. Er sei, sagt Lucke leise, für eine reine Verteidigungsarmee, das sollte im Grundgesetz verankert werden. “Aber da sind Sie ja mit der Linken im gleichen Boot”, sage ich. “Ist mir doch egal.”

Claudia Roth würde den Linken wählen

In Erfurt steigt er aus, um ein Interview zu geben, wir verabreden uns für Jena. Dort treffe ich in einem Hotel auf die Bundestagsfraktion der Grünen, Spitzengespräche, Mittagspause, die Grünen nehmen ernst, was hier passiert, vielleicht sind sie sogar panisch. Claudia Roth im flotten Jeanskleid am Büfett. “Und”, frage ich, “helft ihr, den Linken Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten zu machen?” – “Och klar”, sagt Claudia Roth, “der ist doch eigentlich ein Sozi, absolut tragbar.” Voraussetzung natürlich wäre, dass die Grünen den Wiedereinzug ins Erfurter Parlament schaffen, so sicher ist das nicht.

Politik, ein ständiger Überlebenskampf, und wenn Neue an die Futtertröge drängen, müssen die weggebissen werden. Nichts eignet sich in Deutschland besser dafür als der Extremismus-Vorwurf. Die Grünen kennen das aus ihrer Gründungszeit, die Linke hat damit zu tun gehabt. Und jetzt die AfD.

“Wobei”, das findet nun David Simon, der Büroleiter von Katrin Göring-Eckardt, “der Lucke sicher kein Rechtsradikaler ist, eher ein Spießer.” Und dieser Pietismus, diese langweilige Leistungsstrenge, “das muss uns hedonistischen Katholiken doch ziemlich fremd sein – wie entsetzlich für die Kinder”.

Im Wahlkampf zählt NPD statt Euro

Da hat er mich, Entsagung war noch nie meine Stärke, und hier in Jena war sie es ebenso wenig, die Romantiker-WG der Schlegelbrüder mit Dorothea Vieth, Hölderlin, Novalis, Schleiermacher, was für eine goldene Horde damals um 1800, alle ständig blau, weil man Wein trank statt des verunreinigten Wassers.

Jena 2014 bietet Spätsommerpracht, Eisdielenwetter, Gute-Laune-Wetter. Der AfD-Wahlkampf findet in der Fußgängerzone statt. Ein Feuerwehrauto, das von der AfD zur “Eurowehr” umgetauft wurde, steht da, drinnen die drei kleinen Kinder der Spitzenkandidatin Wiebke Muhsal. Im Feuerwehrauto sitzt Lucke und redigiert sein Interview mit der “Thüringischen Allgemeinen”. Wie es war? “Frustrierend”, sagt er, “die haben nur nach der NPD gefragt.”

Der Euro interessiert hier im Landtagswahlkampf kaum, hier geht es um Sicherheit, Familie, Schulen, um den ganz gewöhnlichen Alltagskram, um den sich der AfD zufolge die Altparteien kaum noch kümmern.

Plötzlich bin ich ein Nazi

Plötzlich ein Ruf: “Ihr seid doch alle Nazis!” Er kommt von einem Betrunkenen, der, Mettwurstbrötchen kauend, sein Fahrrad am Stand vorbeischiebt. “Wo sind hier Nazis?”, frage ich. “Na, Sie sind doch auch einer, das sieht man doch!” “Aber da steht doch AfD, und im Übrigen gehör ich nicht dazu”. Plötzlich bin ich Nazi, ausgerechnet hier im goldenen Jena, in bester Laune!

Und dann kommt richtig Stimmung auf, denn die Satire-Partei “Die Partei” betritt die Szene. Junge Männer, schwarze Anzüge, schmale rote Krawatten, Megafon, sie fordern: “Keine Ausländer ins Europa-Parlament” oder “Ostdeutsch als Amtssprache”.

Sie tauschen mit Lucke Anzugjacken und Krawatten, so schnell geht das, was für ein Kostümwechsel, sie lassen sich die Fahne mit AfD-Stickern überkleben und dürfen dafür den Bus entern, und dann stehen sie oben, und Nina von der “Partei” singt: “Die Partei, die Partei, die hat immer recht”, und es stellt sich heraus, dass sie mit Luckes Sohn Friedrich in einer Klassenstufe war.

Und Bernd Lucke schaut lachend nach oben und befreit auf dieses Dada-Theater, und er sieht plötzlich leicht und fast entrückt aus. Denn auch das ist Wahlkampf. Eine große, großmäulige Show, die bisweilen ans Absurde grenzt.

Erschienen am 08.09.14 www.welt.de