Haschisch hilft gegen vieles: Diese Erkenntnis bleibt nach den Hippie-Erfahrungen von vor vierzig Jahren. Eine Erinnerung an Zeiten, als man die Welt noch friedlich verändern wollte.

Was für eine schöne letzte Szene der Blumenkinder: Rainer Langhans schlendert durch die indische Nacht mit seiner Lebensgefährtin Jutta Winkelmann, die mit dem Krebs kämpft und Angst vor dem Sterben hat, sie sind auf der Suche nach einem Meister, der ihr das dritte Auge öffnet, das Gelassenheit und Erkenntnis bringt und die verdammte Angst vor dem Tod nimmt. Sie schlendern über diese Erdpiste da, auf der Kumbh Mela, dem größten religiösen Festival der Welt in Allahabad in Uttar Pradesh. Eine Art Yogi- und Baba- und Wunderheiler-Jahrmarkt, Zelt an Zelt, Erleuchtung und Heilkraft, dicht an dicht wie Schiffsschaukel und Losbude, und sie sind auf der Suche nach einem Nachfolger für Rainers “Meister” Kirpal Singh, der ihn vor rund 40 Jahren initiiert hat. Ja, nach den antiautoritären Kommune-1-Jahren hatte sich Rainer Langhans eine neue Autorität gesucht, hatte sich dem Osten zugewendet, wie viele seiner Generation, die eine war, die nach Weisheit und Heilung suchte, Anfang der Siebzigerjahre.

Auch wenn der Meister inzwischen gestorben ist, vielleicht lebt er weiter an den Orten, an denen er sich aufgehalten hat. Jutta sagt in schöner Naivität: “Wenn man jemanden sucht, findet man auch jemanden.” So spricht man, wenn man kaum noch Chancen hat. Schließlich sitzen sie eng an eng in einer kleinen Bude, dort ein Baba auf Kissen, bärtig unterm Turban, Rainer und seine Frauen, Christa Ritter und Brigitte Streubel sind ebenfalls dabei, und Jutta fragt, wie man eben so die Eingeborenen fragt, mit viel vorauseilender Sympathie, andere Länder, andere Sitten, hier wird gerade mordsmäßig gekifft mit einem Chillum, also einem dieser Profigeräte, einer dieser Röhren aus Speckstein, es qualmt wie eine Dampflok, die im Zelt ganz ohne jedes Zischen zum Stehen gekommen ist.

“And smoking? A way to god?”, fragt Jutta also lächelnd. “Yes, yes”, ruft einer der Anhänger des Baba: “Four hours a day he meets god.” Viermal trifft er Gott, heißt übersetzt: Viermal am Tag verschwindet der Kopf des Meisters in diesen Wolken, viermal ist der Schwerenöter da auf dem Kissen so high, dass die Schädeldecke abhebt. “You smoke?” “Yes, 40 years ago.” Jutta lächelt. Es war nicht ihr Weg. “It was not my way.” “Aber du hast viel geraucht”, sagt Rainer, ihr Mann, der eiserne, der coole Space-Cowboy in seiner weißen Steppjacke. “Yes”, lächelt Jutta. “40 years ago.” Die Anhänger sind begeistert, die Schwaden erfüllen das Zelt, sie preisen ihren Guru an wie ein Auto. Also, Verbrauch?

Wunderbar exzentrisch und abenteuerlich

“He only eats milk.” Richtig, das haben sie schon draußen ganz außer sich gerufen. Ein halbes Dutzend verschlagener dunkler Gestalten in weißen Leinen geben die Jünger mit wackelnden Köpfen, sie rufen “only milk” und “he meets god”, bekiffte Taschenspieler, die Bauern und ungläubige Westler umgarnen. Tja, und dann steht die Truppe wieder draußen, und Rainer lächelt kalt, “was für Gauner”. Aber wie komisch doch auch. Wie wunderbar exzentrisch und abenteuerlich. Ist eben vierzig Jahre her.

Sie reisen nach Norden in den Himalaja, nach Süden nach Kerala, Goa schenken sie sich, aber Indien ist überall eine Zumutung, eine chaotische Herausforderung, Dreck und Gewimmel und Ekstase, Millionen von Götterschreinen, viele auf der Straße umsteckt von Räucherkerzen. Und nirgends vernünftiger WLAN-Betrieb, für die Skype-Konferenzen mit Zwillingsschwester Gisela. Kein einziger menschenleerer Fleck in Indien, und hier, beim Kumbh Mela, sind es 35 Millionen, die das dritte Auge suchen oder Gott oder das Wunder. Indien ist kein Land, sondern ein Bewusstseinszustand.

Am Ende steigt Jutta, die Sirene der Hippies und ihrer Happenings, dann doch noch in diesen verdammten Fluss. Jutta Winkelmann, die mit ihrer Zwillingsschwester Gisela Getty die schönste Offenbarung seit LSD war. Sie waren die Bandidas, die ein Leben auf der Kippe lebten, damals in Italien mit Paul Getty, die dann in Hollywood gefeiert haben mit Bob Dylan und Roger McGuinn und Leonhard Cohen, die mit Dennis Hopper Filme gedreht haben, die auch das eigene Leben als Kunstwerk empfunden haben, wie die Romantiker um 1800, ein romantisches Experiment, das ständig kuratiert und ausgestellt werden muss, in Cartoons, in Rätselromanen verarbeitet, sie, die Zwillinge im “Harem” von Rainer Langhans, den man sich als zölibatäre Klostergemeinschaft vorstellen kann.

Lauter alt gewordene Blumenkinder

Und nun dieser Film über das Sterben und das Ende der Hippies. Ja, am Ende steigt Jutta Winkelmann in den verdreckten Ganges und ist “erleichtert”. Doch noch mal zur Szene im Zelt, denn da ist alles drin, was es über diese wunderbar sanfte und unschuldige und freche und verspielte Generation der Hippies zu erzählen gibt: Da sind die indischen Glücksversprecher, diese listigen Lebenshelfer der westlichen Wohlstandskinder, und da die alt gewordenen Blumenkinder auf diesem Jahrmarkt und die Verzweiflung der krebskranken Jutta Winkelmann, die doch Hoffnung braucht.

Gezeigt wird auch die Umstandslosigkeit, mit der dort in die andere Welt gewechselt wird, in die der “Bewusstseinserweiterung”, aus der man das irdische Gewimmel von außen und von oben betrachten kann, sozusagen in der Gott-Perspektive. Lachend.

Mich hat immer die gute Laune dieser Babas verblüfft. Sie lächeln dauernd, ob das der Maharishi Mahesh Yogi war, der die Beatles aufgekrempelt hat, oder der Bhagwan, der seine Sannyasins, unter denen auch Sloterdijk war, mit seinem Witz und seiner geradezu kosmischen Lässigkeit beeindruckt hat.

Sinnsuche und Bewusstseinserweiterung

Vielleicht, denke ich mir, beruhte unser Zugang zur indischen Weisheitslehre auf einem grotesken ethnologischen Missverständnis. Vielleicht ist das, was bei uns so tief und dunkel und ernst ankam, doch eher die bunte Bude hier, also derb aus dem indischen Alltag gegriffen, Schwankmaterial der drastischen und flimmernden Vielgötterei, vielleicht gehören auch diese dicken Babas zu den volkstümlichen Helden des einfachen Inders, Millowitsch in ihrer Art, vielleicht ist auch Varanasi am Ganges nichts anderes als das Altötting des indischen Volksglaubens, und vielleicht ist dieser ganze Versenkungskram der Sadus und die Sinnsuche und die Bewusstseinserweiterung Komödienstoff, den die Inder selber nicht so ernst nehmen. Bei so vielen Leben, die sie noch zu durchwandern haben. Der Dokumentarfilm “Auf der Suche nach dir selbst!” wäre somit auch Bauerntheater, aber von der zartesten und poetischsten Sorte. Schon der Titel ist ja lächelnd gefunden worden. Gleich zu Beginn unterhält sich Jutta mit einem anderen Westler in einem Bazar in Delhi, und der fragt sie, was es mit diesem Film auf sich habe, und sie antwortet, sie versuche, sich zu finden.

Beim Abschied meint der andere: “Good luck finding yourself.” Beide lächeln und genießen die Ironie wie ein plötzliches gemeinsames Geheimnis. Wie ruhig Regisseur Severin Winzenburg, Jutta Winkelmanns Sohn, diese Reise erzählt. Ruhige Gespräche. Oft ist Rainer Langhans mit beeindruckender Nüchternheit und Solidarität an Juttas Seite, schließlich sind sie schon seit 40 Jahren zusammen. Alte Eheleute. Zölibatär.

Und Jutta, der Weißgold-Engel der Gruppe, vorwärtsjagend, suchend, ohne Rücksicht auf Verluste – sie findet, dass Christa nun besser aussieht, weil sie Gewicht verloren hat. “Steht dir, der Stress”, sagt sie. Grausame Jutta, kindische Jutta, weinende Jutta – so offen und schutzlos sucht sie sich die Öffentlichkeit zum Gefährten. Leben heißt sterben lernen, jeden Tag, und Jutta lernt sterben und wir mit ihr, ganz dicht dran. Wir sind die Zwischen-den-Kontinenten-Generation, der westöstliche Diwan der Jugendkultur, deutsch-indisch, und wir haben so viel mittlerweile importiert. Man denke an die Yoga-Studios, die alle drei Querstraßen aufgemacht haben. Oder an die Ayurveda-Massagen in den Wellness-Hotels. Oder an das Chicken-Curry in den Supermärkten.

Eine Vision in Curry-Gelb und Safran-Rot

Warum, fragt man sich da, hat es der angenehmste und wundersam heilende Qualm aus Cannabis-Harz, das Haschisch, nicht schon längst über den Ozean geschafft, wo doch eine ganze Generation damit aufwuchs? Waren wir zu dämlich, die Gesetze zu ändern? Und sind wir es immer noch?

Indien. Wie für alle Hippies war es für mich eine Vision in Curry-Gelb und Safran-Rot, Staub und klimpernde Goldketten und schwarze Blicke und kiffende Sadus an jeder Straßenecke. Wir alle kannten Hesses “Siddhartha”, und, natürlich, “Steppenwolf” war eine Rockband.

Den wahrscheinlich komischsten Film über den Culture Clash des Westens mit Indien hat vor ein paar Jahren Wes Anderson gedreht, “The Darjeeling Limited”, in dem drei depressive Brüder die Absurdität dieses Landes erleben, und nie wird klar, wer nun verrückter ist, das Land in seinen knallbunten Farben, oder die neurotischen Westler, die es durchreisen, diese Geschwister mit den traurigen Gesichtern, die einfach mitspielen, mitfahren in diesem Irrsinn, denn anders geht es nicht. Du kannst nicht gegen den Strom. Nicht in Indien. Sind zu viele.

Eine neue Kultur der Empfindsamkeit

Aber auf Indien lief alles hinaus damals: entweder Revolution oder die Reise nach Indien. Entweder Weltveränderung oder Selbstveränderung, damals 1973. Da die Welt nicht so ohne Weiteres zu verbessern war, erkundeten wir uns selbst. War weniger stressig. Dachten wir. Wahrscheinlich hat sich nie wieder eine Generation derart selbstverliebt in den Bauchnabel gestarrt und dabei alle Gefahren vergessen. Während also Rainer Langhans in München vom Guru Kirpal Singh initiiert wurde, machten wir uns auf, um über die kurdische Osttürkei, Iran, Afghanistan, Pakistan, Indien, nach Nepal zu reisen, das war damals noch eine Route, die man mit der Steppdecke unterm Arm bewältigen konnte, im VW-Bus.

Wohlstandsverwöhnt? Aber sicher, und zwar auf die nette Art, auf die der Blumenkinder, die fröhlich und hedonistisch war. Gewalttätigkeiten waren so gut wie unbekannt in dieser ewig jungen Boheme, die so experimentierfreudig und begeisterungsstark war wie kaum je wieder eine.

Diese neue Kultur der Empfindsamkeiten lief neben der der stalinistischen Kader und der Terror-Junkies her, verschiedene Indianerstämme. Man schwieg sehr lange und sehr einverständig, besonders, wenn gekifft worden war und Stevie Winwood dazu “Dear Mr. Fantasy” sang. Das Schweigen machte mir persönlich immer die allergrößten Schwierigkeiten, ich redete gerne und teilte mich gerne mit und hatte oft den Eindruck, als störte ich bei einer heiligen Handlung.

Eintritt in die Welt der Götter

Der Trip nach Indien gehörte zu den Dingen, die einfach so vorgeschrieben waren wie die Pilgerreise nach Mekka für den gläubigen Muslim. Und es war nicht Yoga oder Ayurveda, das uns locket, sondern Haschisch, der Eintritt in die Welt der Götter. Ein geglücktes Leben war nicht vorstellbar ohne diese Reise ins Licht. In Istanbul die schwarz ausgepinselte Wohnhöhle eines Junkies. In Erzurum minus 40 Grad, und in Teheran im VW-Bus eines Morgens aufgewacht und umspült von Tausenden schweigenden Schiiten, die sich Geißeln auf den Rücken klatschten.

Wir kamen zunächst bis Lahore/Pakistan und saßen erst einmal fest, denn wegen einer Islam-Konferenz war die Grenze im Norden dicht gemacht worden – Indien und Pakistan verstanden sich nicht gut zu der Zeit.

Es war nicht das Schlechteste, in Pakistan festzusitzen, denn das Haschisch, fetter, schwarzer, klebriger Stoff, gab es hier nahezu umsonst. Als es dann ganz plötzlich weiterging, nach ungefähr zwei Wochen, war noch längst nicht alles aufgequalmt. So steckte ich mir die beträchtlichen Reste in meine bereits ziemlich abgelatschten braunen Wildleder-Halbstiefel vom Stuttgarter Breuninger-Schlussverkauf, 38 Mark, und fuhr mit den anderen in einem öffentlichen Bus – unser VW hatte in Afghanistan schlappgemacht – auf die Grenze zu.

Der rote Punkt auf der Stirn

Mein Freund Peter hatte seine Reste in der Unterhose verstaut, Ralf im Gestänge seines Rucksacks, ich in den Schuhen, als Gesundheits-Einlage. Womit keiner von uns gerechnet hatte, war, dass von der pakistanischen Grenzbaracke zur indischen ein etwa 500 Meter langer Fußmarsch zu absolvieren war, über ein schattenloses Asphaltband, das in Mittagssonne förmlich kochte.

Ich spürte bereits nach hundert Metern, wie meine Füße in den Boots zu schwimmen begannen. Der schwarze Afghane verflüssigte sich, und so lief ich, wampf, wampf, wampf, Decke unterm Arm, auf den indischen Posten zu, hinauf ein großes indisches Wappen, das drei hungrige Löwen zeigte, die nur auf mich warteten.

In der Grenzbaracke saß eine Dame im Sari, mit einem roten Punkt auf der Stirn, dem dritten Auge. Ein strenger Sikh baute sich vor mir auf, Stock unter dem Arm. Sie trugen hier ihre Stöcke so routiniert, als seien sie dauernd im Einsatz. Ich schaute zu einem großen Plakat, auf dem alle möglichen Gegenstände abgebildet waren, die man besser nicht bei sich hatte. Gewehre und Handgranaten waren ganz weit oben. Haschisch sah ich nicht. Wer käme auch auf die Idee, Haschisch ausgerechnet nach Indien einzuführen.

In Ketten gelegt

Ich hatte weder Gewehre noch Handgranaten, allerdings roch ich sehr nach Haschisch. Plötzlich sprach die Dame mit dem dritten Auge und deutete auf mich. Ich wurde in ein Nebenzimmer gebracht und musste mich dort ausziehen. Ein bisschen wühlen und schütteln und schon fiel das Haschisch zu Boden. Peter erging es nicht anders. Ralf mit seinen Rucksackstangen kam durch. Wir wurden tatsächlich in Ketten gelegt und in einem Polizeitransporter in eine grenznahe Polizeiwache gebracht. Ich war so geistesgegenwärtig, mir den größeren Teil des Klumpens vor dem Abtransport wieder in die Hose zu schieben. Wer weiß, dachte ich mir, wann es wieder etwas geben würde. Mit uns waren Schnapsschmuggler gefasst worden, ein Vater mit seinen drei Söhnen. Die Beamten schlugen sie. Sie wollten irgendetwas von ihnen rauskriegen. Um sich und uns aufzuheitern, holten sie uns nachts aus der Zelle und ließen uns bei dieser Viecherei zuschauen.

Am nächsten Tag wurden wir nach Amritsar gebracht, ins Zentralgefängnis, in die Untersuchungshaft. Mein Trip nach innen, er begann tatsächlich in einer Zelle. Was nicht weiter schlimm war, denn ich hatte Marcuses “Der eindimensionale Mensch” bei mir, in dem formuliert war, was ich bereits ahnte, nämlich, dass wir längst alle inhaftiert seien in einem entfremdeten Leben, isoliert vom anderen, besonders dem, der nie seine Platten rausrücken wollte, und dass nur die Revolution diese Entfremdung aufheben könne.

Das mit den Ketten fand ich eher komisch. So rückschrittlich. Zunächst waren wir Ausänder alle in einer Einzelzelle untergebracht. Drei Franzosen, ein Italiener, ein Ami von der Westcoast, ein Schwede, der 3000 Nähnadeln geschmuggelt hatte, und Peter, ein blonder großer Bassist aus Niedersachsen, den wir unterwegs aufgegabelt hatten. Und ich. Irgendwann wurden wir in eine große geräumige Gemeinschaftszelle verlegt, weil sich herausgestellt hatte, dass Turbjorn, der Schwede, ein Lehrerstudium absolviert hatte. Und welchen Zusammenhang gab es da zur Straferleichterung? Der Sikh-Wächter klärte uns auf: “Educated people have a better character.” Viel Kopfwackeln. Ich hatte zwei Bücher dabei.

Jeden Tag das gleiche Zeug zu essen

Neben dem Marcuse noch Simmels “Es muss nicht immer Kaviar sein”. Darin die spannende Geschichte um den Agenten Thomas Lieven – sowie sämtliche Rezepte, mit denen der Haudegen die Frauen verführt. Ab und zu las ich sie vor, die Rezepte, und da ich den Haschisch-Klumpen in die Zelle retten konnte, fanden die Lesungen großen Anklang, denn bei uns gab es jeden Tag das gleiche Zeug: Scharfe Wassersuppe mit Gemüseteilen (Chapsi), Linsen (dall), Chapati (Fladen-Brot). Und hier die Fantasie: Kaviar im Schlafrock. Schweineschinken in Rotwein mit Sellerie-Salat, warme Lachsbrötchen, Bœuf Stroganoff …

Unsere Zelle lag bei den Lebenslänglichen. Tagsüber durften wir in unserem Trakt herumlaufen. Ein sanfter, großer, bärtiger Sikh, der seinen Schwager umgebracht hatte – irgendeine Ehrensache –, brühte einen wunderbar cremigen süßen Tee. Neben unserem Trakt verlief eine große Mauer. Eines Tages saß ich im Schatten der Mauer und hörte von der anderen Seite einen Ruf. Ich sah nach oben: eine halbe Hand. Da wollte sich einer unterhalten. Ich erzählte ihm von meinem Pech und woher ich kam und dass das Leben ja sowieso eine Zelle sei, eine Einzelzelle, und dass nur die Bewusstseins-Revolution helfe. Von da an unterhielten wir uns öfter, und soweit ich ihn verstand, meinte er, dass das Leben zwar eine Illusion sei, aber eine schöne. Eines Tages blieb er weg. Ich fragte meinen bärtigen Tee-Kocher. Der wackelte mit seinem Kopf und erklärte, dass der anliegende der Todestrakt sei. Vermutlich war der Mann ein verurteilter Terrorist, Genaueres wisse er auch nicht, und in der Nacht sei er gehenkt worden.

Bis auf den Vergewaltigungsversuch von zwei Burschen war die Gefängniszeit okay. In Malaysia wäre ich geköpft worden, die Inder waren relaxter, hier kamen wir nach zwei Monaten raus, und da wir zunächst mittellos waren – Überweisungen waren anvisiert –, schliefen wir auf dem Dach des Golden Tempel in Amritsar. Es war, als ob man in dunkler Nacht in Sternen schwimmt, und dann zog der Morgen auf, seidig und currygelb und safranrot. Der Tempel wurde zehn Jahre später nach einem Aufstand radikaler Sikhs zerstört. Um jedoch zu beweisen, dass Indien (ausgerechnet Indien) ein säkularer Staat sei, lehnte Indira Gandhi es ab, ihre Sikh-Leibwächter zu entlassen. Nicht lange darauf wurde sie von ihren Wächtern niedergeschossen, in ihrem Garten, auf dem Weg zu einem Interview mit Peter Ustinov. In den darauf folgenden hinduistischen Vergeltungsaktionen wurde der Tempel fast vollständig zerstört. Und nun sah ich ihn wieder, mit den Augen von Severin Winzenburg und meinen eigenen, in diesem Film “Good luck finding yourself”, und es war schön, ihn wiedererrichtet zu sehen an gleicher Stelle, im gleichen strahlenden Gold.

Selbsterfinder mit 65

Vielleicht war das ja die Aufgabe dieser, wie Jutta sie später nannte, “zerbröselnden Altengruppe”, uns allen noch einmal vor Augen zu führen, wie lange vorbei diese Hippiewelt ist, und wie sie doch möglich ist, diese poetische, ja kindliche Weigerung, ein Leben als eindimensionaler Mensch zu führen.

Dabei geht es doch genau darum: die Pubertät wachzuhalten, immer im Bewusstsein, dass es noch eine andere Wirklichkeit gibt, eine Gegenwelt. Ein anderes Leben: als neugierige Selbst- und Welterfinder, auch noch mit 65, und wenn die Reise zu einer Bude lustiger Scharlatane nach Indien führt. Nichts gegen eine ewige Pubertät, Goethe hat um ihren Wert gewusst. In seinen Gesprächen mit Eckermann erkennt er, dass Genies eine besondere Begabung brauchen. Sie wagen es, so Goethe, “in eine temporäre Verjüngung einzutreten, und das ist es, was ich eine wiederholte Pubertät nennen möchte”.

Und nun also sind sie 65, die Hippies, und die Pubertät geht für manche weiter, Jutta betet viel, sagt sie am Telefon, sie knüpft derzeit an die Kindheit an, in der sie ständig mit Gisela gebetet habe. “Wir waren viel frömmer als unsere Eltern”, sagt Jutta lachend am Telefon. “Wir haben nächtelang gebetet, für praktisch jeden auf der Welt.” Irgendwann, in frühen Jahren, dämmerte Jutta die Erkenntnis, dass das Kiffen “nicht ihr Weg war”. Immerhin hatte es den Rang einer Lebensoption, und es ist wahrscheinlich nicht die schlechteste. Deshalb ein paar Worte zur Verteidigung des Haschisch-Konsums.

Alle brauchen Haschisch

Ach, mit Haschisch haben sich die Assassinen befeuert? Also nicht mit dem Zeug, das wir geraucht haben, ganz sicher nicht. Mit dem Zeug würden sie einschlafen, bevor sie ihren Sprengstoffgürtel anlegen. Andere würden vielleicht kurz danach einschlafen, was wahrscheinlich Punktabzug ergäbe, wenn es dann um die 72 Jungfrauen geht. Gut, ich spreche vom schwarzen Afghanen und nicht von dem Turbogras, das heutzutage vertickt wird.

Es war eine indische Sonne, die den Hippie-Kosmos Ende der Sechzigerjahre bestrahlte und die wohl freundlichste und neugierigste Jugendwelle der Geschichte um die Welt geblasen hat. “Als ich die Menge in Woodstock sah”, erinnerte sich Arlo Guthrie später, “wusste ich, wir sind mehr als die, zum ersten Mal in der Geschichte.” Die waren jene Leute, die sich weder auf Spaß noch auf Liebe verstanden, im Gegensatz zu Arlo und der Counterculture. Und heute? Wäre nichts so sehr nötig wie Haschisch für alle, das weiß doch jeder.

Der Krieg gegen die Drogen ist nicht zu gewinnen, er verursacht nur Kosten, finanzielle und soziale. Einen letzten Beleg dafür liefert Rainer Schmidt mit seinem Sachbuch-Thriller “Die Cannabis GmbH”. Weil sie verboten sind, machen Drogenhändler Milliarden, die Waffen kaufen, die Politiker kaufen, die Massenmorde kaufen, ja ganze Staaten wie früher Panama oder Kolumbien oder jetzt Mexiko. Für Cannabis ist die Zeit gekommen, denn die Verfolgung der Kleindealer kostet Unsummen, und der Konsum nimmt dennoch zu. Es geht auch anders, Oregon und Kalifornien machen es bereis vor, Holland sowieso, Spanien folgt, mit wenigen Auflagen. Staatsmänner übrigens wissen, dass der Kampf gegen Drogen nicht zu gewinnen ist. Brasiliens Präsident Cardoso sagte mir, die Legalisierung sei der einzige Weg aus der tödlichen Bedrohung durch die Mafia. Wie also wäre es, dem Kiffen das Stigma zu nehmen?

Kiffen macht so friedlich

Wäre alles entspannter. Man würde zum Beispiel die Demonstranten in Dresden nicht hysterisch zu einer Art SS hochschreiben, sondern sagen, nee, lass ma demonstrieren, die ham Druck, vielleicht unerleuchtet, aber is doch ihr gutes Recht … gib ma rübber das Ding … Peace.

Die Kiffer haben das Rentenalter erreicht. Will man ihnen zumuten, mit ihren Rollis nach Einbruch der Dunkelheit zum Dealer am Hauptbahnhof zu schlurfen? Bei der Straßenglätte?

Ich hatte mal Reinhold Beckmann vorgeschlagen, dass wir uns zu seiner letzten Sendung zukiffen, wäre sicher lustig geworden. Fand er auch, hat sich aber nicht getraut. Jutta Winkelmann nimmt gegen ihre Schmerzen Haschisch-Öl. Und sie sagt, die sollten sich mal zur Legalisierung durchringen, für alle, denn Kiffen macht friedlich.

Erschienen am 05.01.15 www.welt.de