Das ist hier so üblich, falls Sie es noch nicht wissen sollten. Es ist der Urwald, der in uns hineinkriecht.

(LUIS SEPúLVEDA: “DER ALTE, DER LIEBESROMANE LAS”)

Als Pizarros Leute, auf der Suche nach dem legendären El Dorado, erschöpft und krank und halluzinierend diesen unbekannten Fluss hinuntertrieben, sollen sie, schon nahe der Mündung, auf ein beeindruckendes Beispiel ehelicher Gewalt gestoßen sein: auf eine brüllende Horde von indianischen Amazonen, die ihre Männer mit Stöcken in den Kampf gegen die weißen Eindringlinge prügelten. Ein prägendes Erlebnis: Seither heißt die Welt hier “Amazonas” – der Strom, der Kontinent der starken Frauen. Knapp 500 Jahre später ist El Dorado immer noch nicht gefunden, und der Amazonas ist eine grüne Fieberhölle geblieben. Und die Männer? Natürlich immer noch Opfer, ganz besonders auf dem Schlachtfeld der Liebe.

Joãozinho, der melancholische Liebhaber und Boxer, wartet mit den anderen Männern an der Mole im alten Hafen von Belém. Es ist windstill. Die Nacht ist wie ein Erstickungsanfall, und so reden sie nur über Wesentliches. Über die Frauen. “Sie presst mich aus wie frischen Maniok”, seufzt Joãozinho, “aber ich liebe sie.”

Im Neonlicht der Hafenkneipe kleben ein paar späte Tänzer betrunken aneinander, zwischen den hölzernen Lippen des Macumba-Götzen Preto Velho an der Straßenecke glimmt eine Zigarette, und die Fischhändler halten ihre Messer gepackt, denn diese Stunde vor Tagesanbruch gehört nicht nur den Liebenden, sondern auch den Bandidos, die Schutzgelder erpressen.

“Wir hatten gerade geheiratet, als ich herausfand, dass sie mich betrog.” Die Männer stöhnen mitfühlend. In seinem Schmerz, erzählt Joãozinho, hatte er sich einen 38er Revolver besorgt. Zustimmendes Gemurmel. “Selbst meine Mutter hat mir geraten, die Sache hinter mich zu bringen.” Also lauerte er seiner Frau auf, die sich mit ihrem Liebhaber zu einem Tanz am Fluss verabredet hatte.

“Ich hab’s dann doch nicht fertig gebracht”, bekennt er, “und es war gut so.” Kurz darauf traf er auf Pagé Itama, den indianischen Medizinmann. Der vermutete, dass im Haus lediglich ein böser Fluch verborgen sei, der seine Frau anderen Männern in die Arme treibe. Eine analytische Meisterleistung, denn tatsächlich grub Joãozinho bald nahe der Türschwelle ein vergammeltes Mayonnaise-Glas aus. “Ich hab nicht mehr erkennen können, was da drin war, weil ich’s mit dem Spaten kaputtgestoßen habe.”

Mittlerweile hat er ein halbes Dutzend Kinder mit seiner Frau und noch ein paar andere, von denen sie nichts weiß, und er hat seine Lehren aus all den Kämpfen gezogen. Eine davon lautet: “Bring nie deine Frau um, denn es könnte sein, dass du sie irgendwann wiederhaben willst.” Die Männer nicken gedankenverloren in die Nacht. João kennt sich aus, er weiß, wie die Dinge laufen.

“Natürlich muss das nicht sofort sein”, fährt Joãozinho fort, und auch er hat sich erst durchs Alphabet geliebt, bis aufs Z, eine Kette von Niederlagen, denn daraus besteht die wahre Liebe auf dem Kontinent der starken Frauen, und die größte hieß Zula, die “eine Haut ohne Narben hatte …”, und plötzlich bricht er ab, und alle heben sie gespannt die Köpfe.

Irgendwo ist da ein fernes Wimmern über dem schwarzen Wasser, ein sanftes Klatschen der Brühe an der Kaimauer. Dann ein Ruf. Die Träger stecken ihre Turbane fest. Papageien-Schreie. Und dann bricht eine Flotte kleiner Motorboote aus dem Dunkeln hervor.

Am Ver-o-Peso, dem alten Markt an der Amazonas-Mündung, beginnt der Tag wie eine gewaltige Geburt. Ladung um Ladung wird auf den Kai gewuchtet, was der Strom zwischen den üppigen grünen Schenkeln des Regenwaldes hervorpresst: Pyramiden von Paranüssen und Kakao-Früchten, schwarze Perlengebirge von Açaí-Beeren, Bastsiebe mit Garnelen, Säcke mit Maniok und Mangos, Rinderhälften, Kisten zuckender Fische. Joãozinho lässt die anderen Boote nicht aus den Augen, die weiter vom Ufer ihre Anker geworfen haben, außerhalb der Lichtzelte am Kai, mit all der Nachtware im Bauch, die gebraucht wird im Kampf gegen die bösen Geister.

Auch das nämlich wird hier angeschwemmt: der Waldzauber des Amazonas, die Unvernunft – die Boa constrictor, die Kunden anzieht, wenn man sie unter die Ladenkasse legt; ein Zitteraal, der die Münzen vermehrt, die man ihm in den Bottich wirft; das Auge des Delfins, das Frauen gefügig macht. “Es muss das linke Auge sein”, sagt Joãozinho.

Seit Jahrhunderten ist es jeden Morgen das gleiche robuste Kreißen aus Tierblut, Schweiß und Dreck – die Entbindung der Riesenfrau Amazonas, die sich mit den Armen gegen die Anden stemmt und sich hier, 6500 Kilometer stromabwärts, ins Meer ergießt.

Doch: Seit einigen Jahren gilt sie als krank und anämisch. Sie ist Gegenstand von Symposien in Fünf-Sterne-Hotels. Seit einigen Jahren gibt es Heere von internationalen Kavalieren, die ihr den Puls fühlen und über die Unvernunft ihrer Kinder, über Joãozinho, den Kopf schütteln.

Sie haben aus dem Amazonas mittlerweile eine Art Weltpark gemacht, jedermanns Vorgarten, schwer überwacht von Satelliten und Radarsystemen. Die Welt schaut Joãozinho auf die Finger. Auf einem alternativen Amazonas-Kongress in Kalifornien tauchte die Parole auf: “Schützt den Wald, tötet einen Brasilianer.” Mittlerweile, schäumte der alte General Rubens Bayma Denys in einer Zeitungskolumne, tun die Ausländer so, als gehörte der Wald ihnen.

Er hat nicht ganz Unrecht, aber auch das Ausland hat gute Gründe: Der Amazonas enthält ein Fünftel des globalen Süßwasservorrats, und er ist, das vor allem, die größte Sauerstoffmaschine auf Erden und damit für die Wohlstandsjunkies im Westen unentbehrlich. Eine Welt-Klima-Maschine, die gewartet werden muss, und da stören Typen wie Joãozinho nur.

GRÜNE SCIENCE-FICTION

Der Regenwald ist der produktivste Mythenproduzent der Welt, und zu denen der Caboclos und der Indianer hat sich in den letzten Jahrzehnten ein neuer gesellt: dass es ihn bald nicht mehr gibt.

Bereits 1978 hatten Wissenschaftler des INPA-Instituts in Belém eine komplette Vernichtung des brasilianischen Dschungels zum Jahre 2003 prognostiziert. Die Regenwaldmörder müssten allerdings enorm zulegen – noch immer stehen 87 Prozent der Bäume.

Tatsache ist, dass er, als eigener Staat, das siebtgrößte Land der Erde wäre. Man misst seine Katastrophengebiete nicht in Hektar, sondern in “Belgien”, wahrscheinlich weil “Deutschland” als Berechnungsgrundlage zu unzuverlässig ist, da es dauernd seine Größe ändert. In den schlimmsten Jahren ist jeweils ein Belgien verbrannt, letztes Jahr nur noch die Hälfte. Das sind gerade mal 0,4 Prozent des gigantischen Waldgebiets.

Dabei kommt es zu merkwürdigen Verzerrungen. Im letzten Jahr fraß sich eine Feuerwalze durch die Nationalparks und Steppen des amerikanischen Westens und ließ ein verkohltes Gebiet von der Größe Belgiens zurück.

Das “Time”-Magazin reagierte in seiner Lateinamerika-Ausgabe eher ungewöhnlich, denn es brachte eine Titelgeschichte über die verantwortungslosen Waldbrenner im Amazonas. Überraschend auch deshalb, weil hier ausgerechnet in diesem Jahr ein dramatischer, 40-prozentiger Rückgang der Feuer verzeichnet werden konnte. Da auch das “Time”-Magazin die “ermutigenden Zeichen” im Amazonas nicht ignorieren konnte, verlagerte es seinen Alarmruf in den Konjunktiv: Er könnte abbrennen, wenn der Boden austrocknet.

Für diese bahnbrechende Erkenntnis ließ der amerikanische Wissenschaftler Daniel Nepstadt ein beträchtliches Waldstück mit Plastikplanen abdecken. Und siehe: Was jeder Balkongärtner von seinem Geranienkasten weiß, bekam auch der Wissenschaftler nun im großen Maßstab serviert: Boden trocken, Pflanze stirbt, wird Zunder, kann brennen.

Interessant an diesem Versuch ist seine anale Symbolik: Ein amerikanischer Wissenschaftler verpackt ein Stück brasilianischen Urwald in luftdichte Folie wie ein Stück Seife und schützt ihn damit zu Tode. Rund 700 000 Dollar hat diese grüne Christo-Aktion gekostet.

“Das ist unter uns auch ziemlich kritisiert worden”, räumt Professor Thomas Hurtienne ein, der in Belém ein Amazonas-Projekt des Bundesforschungsministeriums betreut. Seine Freundin, Dr. Imme Scholz, spöttelt: “Die Nasa schmeißt hier mit Riesenbudgets um sich, und sie liebt nun mal spektakuläre Aktionen.”

Das von Imme Scholz ist auch nicht ohne: Rund 40 Millionen Mark, mit denen sie im Auftrag der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) grüne Kommunalverwaltungen im Bundesstaat Pará aufbaut. Die Gelder stammen aus einem G7-Projekt zum “Schutz der brasilianischen Tropenwälder”, das 1992 hauptsächlich auf Initiative von Helmut Kohl beschlossen wurde. Gesamtvolumen: 450 Millionen Mark.

Fest steht, dass der Amazonas Umsatz macht, und zwar nicht mit seinen Paranüssen oder Kautschuk-Ballen, sondern als Patient erster Klasse. Allmählich kann jeder Setzling mit internationaler Patenschaft rechnen – eine gigantisch alimentierte Baumschule ist so entstanden, die grüne Hölle ist am runden Tisch domestiziert zu einem grünen SOS-Kinderdorf. Verwissenschaftlichung, Verniedlichung, das sind die Antworten des Westens auf das letzte gewaltige Rätsel der Erde – eine Conquista der Gremien.

Zunächst gab es die allerbesten Gründe für die Intervention. Die brasilianischen Militärs hatten dem Wald die Harke gezeigt in den sechziger und siebziger Jahren, mit jener nachholenden Eroberungswut, mit der die entwickelten Nationen ihre grünen Grenzen bereits im letzten Jahrhundert platt gemacht hatten. Ein uraltes, ein biblisches Doppelmandat: zerstören, um aufzubauen, einreißen, um neu zu errichten, treu nach Genesis 9,2: “Furcht und Schrecken vor euch sei über allen Tieren auf Erden …”

Doch: Der Amazonas wehrte sich, wie er es schon mit Generationen von Eroberern und Eindringlingen gemacht hatte. Die Trasse der Transamazônica wurde nach wenigen Jahren vom grünen Meer wieder verschlungen, viele der dort gestrandeten Siedler verreckten, und grandiose Plantagen-Pläne wie die des Industriellen Daniel Ludwig versandeten buchstäblich.

Der Amazonas wehrte sich vor allem durch seine Armut. Der dünne Boden ist bereits nach zwei Ernten als Anbaufläche ausgelaugt und gibt nach Brandrodungen kaum etwas her – und das hat sich mittlerweile herumgesprochen. Erfolge konnten die Militärs bei der Ausbeutung der Bodenschätze verbuchen, etwa in Carajás, im Süden des Bundesstaates Pará, wo die größte Grube der Welt entstand: 50 Millionen Tonnen Eisen, 10 Tonnen Gold werden dort pro Jahr gefördert, 360 000 Tonnen Aluminium produziert. Das bringt bitter benötigte 10 000 Arbeitsplätze und 450 Millionen Dollar Steuern für Pará, wo das Durchschnittseinkommen bei 2000 Reais jährlich liegt – ein winziger Bruchteil des deutschen.

Hässlich, die Grube, ganz sicher. Doch nicht hässlicher als die Kraterlandschaften Osteuropas. Eine Chomutov-Initiative ist allerdings bisher nicht bekannt. Sie wäre auch nicht besonders sexy und würde in Berlin oder San Francisco keine 15 Leute auf die Straße trommeln, während gegen den “grünen Holocaust” im Amazonas schon Lichterketten gebildet wurden.

Dabei werden hier, anders als in den tschechischen oder russischen Katastrophengebieten, gigantische Wiederaufforstungen betrieben, der grüne Teppich wird über stillgelegten Gruben wieder glatt gezogen. Ja, der internationale Druck hat Wirkung gezeigt: Tatsächlich hat Brasilien in den letzten fünf Jahren eine dramatische Öko-Wende hingelegt.

Der unterentwickelte Gigant hatte 1996 sämtliche Entwaldungs- und Erschließungsanreize in der grünen Schatztruhe, die ein Drittel der Welttropenwälder umfasst, abgeschafft – und das in einem Land, in dem es immer noch neun Millionen Hungernde gibt. Riesengebiete wurden zu Reservaten erklärt. Weiterhin müssen auf jeder zugeteilten Neufläche 80 Prozent des Waldes stehen bleiben.

Eine parlamentarische Initiative, die Quote auf 50 Prozent zu senken, löste einen Empörungssturm im Land aus, die Initiative war nach wenigen Tagen wieder vom Tisch. Der grüne Bewusstseinssieg ist total.

Ressourcenschutz ist zur nationalen Aufgabe geworden. Deshalb auch wurde die jüngste Studie des INPA-Instituts, die erneut eine apokalyptische Vernichtung des Waldes bis zu 42 Prozent in den nächsten 20 Jahren prognostizierte, harsch kritisiert: Das amerikanische Wissenschaftlerteam habe die Verbesserungen des Umweltschutzes der letzten Jahre komplett ignoriert. Die Studie sei, so Staatssekretär José Paulo Silveira, “ökologische Science-Fiction”.

Heute ist die größte Behörde des Bundesstaates Pará das Umweltministerium, und ihr einstiger Chefstratege, der in Erlangen promovierte Nelson Pinto, sitzt mittlerweile als Abgeordneter in Brasília. “Die Agrargrenze wandert nicht weiter”, sagt Pinto. “Wichtig ist nun, dass uns der nutzbare Teil ernährt.” Und der ist auch schon mehrere Belgien groß.

Auch in den meisten übrigen Amazonas-Bundesstaaten sitzen inzwischen Gouverneure oder Abgeordnete, die gelernt haben, dass es lukrativer ist, den Wald stehen zu lassen. Für die Bekehrten unter ihnen ist es Menschheitspflicht; für die Taktiker ist der Wald eine globale Geisel, für die die Weltbank und andere internationale Gremien Lösegelder in Form von “Projektförderungen” zahlen.

Dabei erspüren die Amazonas-Bewohner in der Regenwald-Schwärmerei besonders der Amerikaner nicht zu Unrecht das neokoloniale Motiv. Innerhalb von nur zehn Jahren hatten diese im vergangenen Jahrhundert ihre Ostküstenwälder zu Kleinholz verarbeitet. Und nun brauchen sie den Amazonas als ausgelagerte Sauerstoffmaschine – ohne überhaupt daran zu denken, ihre eigenen Emissionswerte (und damit den Lebensstandard) zu senken.

Der Naturschutzgedanke insgesamt ist ja ein Kind des imperialistischen Zeitalters: Er verdankt sich der Panik des Großwildjägers, der zu Hause nichts mehr vor die Büchse bekommt. Erst als die Prärie leer geschossen war, kümmerte sich Teddy Roosevelt um den Yellowstone-Nationalpark, wo sich die verbliebenen Bisons wieder auf Abschussstärke vermehren konnten; Prinz Bernhard der Niederlande kehrte immer frustrierter von seinen Afrika-Jagdexpeditionen zurück, bis er 1961 den World Wildlife Fund gründete: die Natur als Gehege.

Besitzen, um zu schützen – das ist der jüngste Trend bei Scheckbuch-Grünen wie dem exzentrischen Modezaren Douglas Tompkins, der große Teile des chilenischen Urwalds aufgekauft hat. Atolle, Wälder, arktische Landschaften, alles geht weg.

Während die Greenpeace-Aktivisten also auf dem Amazonas Patrouille fahren, wird jeder Holzfäller zum Feind, jeder Bauer, der sein Waldstück brandrodet, zur verachtenswerten Figur, und jeder armselige Garimpeiro, der nach Gold kratzt, zum moralischen Outlaw. Freunde des grünen Weltbürgers sind allenfalls halbnackte Indianer und schrullige Kautschuk-Zapfer, die dem Wald gerade so viel entnehmen, dass sie nicht an Hunger sterben.

Nur logisch, dass die “Rainbow Warrior”, das Schlachtschiff der grünen Aktivisten, in Belém mit faulen Eiern beschmissen wurde. Und logisch, dass Politiker in Amazonas bereits damit Wahlkampf machten, dass sie Sägeblätter verteilen ließen.

Eine rein symbolische Rebellionsgeste. Der intakte Waldbestand des Bundesstaates Amazonas heute: 98 Prozent.

DON JUAN AUS DEN WÄLDERN

Das Ideal fürs grünvernarrte Ausland: der Amazonas als menschenleerer Park. Nächtliche Satellitenaufnahmen des grünen Kontinents allerdings zeigen eine ganze Milchstraße von Lichtpunkten – der Amazonas ist bevölkert von rund 17 Millionen Siedlern, und die meisten davon sind Caboclos wie Joãozinho, möglicherweise ohne “grünes Bewusstsein”, aber mit jeder Menge Verständnis für Wunder.

Sie wohnen in entfernten Dschungelsiedlungen und Dörfern am Fluss und ziehen zunehmend in Millionenstädte wie Belém, dieser morbiden Tropenmetropole mit ihren Docks und Barockkirchen, den verfallenden Villen und Bars, die in diesen Nächten vibriert, weil die jährliche Círio-Prozession ansteht – die größte und farbenprächtigste Marienprozession der Welt.

Schon seit Tagen strömen sie auf Kanus und Passagierdampfern in die Stadt, und am nächsten Morgen wird es wieder einmal so weit sein – dann wird die kleine, goldgekrönte Madonna am Markt vorbeigeführt, am Wagen ein Tau, Hunderte von Metern lang, und knapp zwei Millionen Glaubensverzückte werden sich schwitzend bemühen, es zu ergreifen, als sei die “corda” die Nabelschnur zum Heil.

Das ist der Amazonas für Joãozinho. Kein Ökodorf, sondern ein wilder, wuchernder Karneval der Seele, ein Glaubenssystem. Er hat es tatsächlich einmal geschafft, nach einer durchfeierten Nacht, die Kordel zu berühren, und dann ist er der Heiligen Jungfrau auf Knien hinterhergerutscht bis in die Basilika. Was er ihr versprochen hat, weiß er nicht mehr, aber er weiß: “Wer nicht glaubt, ist verloren.”

Und das ist es, was er an diesen Ausländern nicht mag: Sie glauben nicht. Was wissen sie vom Wald, vom bösen Blick, von der Liebe, ja, der vor allem?

Joãozinho, der Caboclo. Eine breitgeboxte Nase, mächtige Schultern und schüchternes Lächeln. Seine Mutter ist Indianerin, und die Vorfahren seines Vaters kamen als afrikanische Sklaven nach Belém. Er wuchs mit seinen acht Geschwistern in einem Dorf im Delta auf, schnitt Palmenherzen und sammelte Kautschuk und lernte die Liebe kennen. Die, sagt er, ist wie ein Schlangenbiss, von dem man möchte, dass er nie verheilt.

In den achtziger Jahren hätte er eine Menge Geld machen können mit diesen Kräutern auf dem Ver-o-Peso – die Europäer kauften alles, was nach Naturkraft aus dem Wald aussah, doch Joãozinho hat seine Zeit lieber auf dem Fluss verbracht.

“Du liegst mit einer Frau im Boot, und über dir zieht ein Keil roter Störche zur Ilha Marajó, da verlierst du einfach den Verstand.” Das ganze Alphabet, bis auf Z, wie Zula. Heute ist er 51, und er wird diese Erde so mittellos verlassen, wie er sie betreten hat. Aber, so sagt er: “Ich habe eine Menge Spaß gehabt.” Seine Frau ist nach erneuten Zerwürfnissen längst wieder zu ihm zurückgekehrt, dank eines weiteren Zaubers des indianischen Medizinmannes. Diesmal verlangte der Pagé von Joãozinho zwei Flaschen Schnaps, die Bluse der Frau und ein Glas Honig. Den Honig strich der Indianer auf die Bluse, und den Schnaps trank er selbst.

“Vielleicht ist sie auch einfach nur alt geworden”, sagt Joãozinho. Warum auch immer – sie hat ihre Hängematte wieder neben seine gehängt, und er beschränkt sich auf wenige Affären, die er pflegt wie ein alternder Orchideenliebhaber seine nachtblühenden Helikonien.

Es tut sich nicht viel an diesem Vormittag – Joãozinho macht die Bude dicht. In einer Straßenküche am Bootsanleger kippt er eine Schale Tacapá, diese Höllensuppe aus Maniok und gesalzenen Krabben, die die Schädeldecke fliegen lässt und den Schweiß in Bächen aus der Haut treibt. Und dann zeigt er seine Jagdreviere.

Überschattete schmale Wasserstraßen im Delta. Wilde Bananenstauden am Ufer halten ihre grünen Schilde in die Höhe wie Palastwachen, Bambusrohre zerlegen das Sonnenlicht in zarte Serail-Gitter, und jeder zweite Pfahlbau ist eine sentimentale Erinnerung. Ein Bootstrip als Liebesroman: Frauen lächeln, als Joãozinho ihnen zuruft.

Da ist Teresa. Ihr hatte er einen Papagei geschenkt, dem er die Nationalhymne beigebracht hatte, und der kann sie immer noch flöten, und Teresa ist alt geworden. “Männer sind dumm”, lacht sie. “Sie verausgaben sich zu sehr, deshalb leben sie nicht lang.” Dann schauen sie gedankenverloren Teresas Sohn zu, der mit einer handtellergroßen, haarigen Spinne spielt, und Joãozinho schüttelt den Kopf: nein, der ist nicht von ihm. Wahrscheinlich nicht. Aber was weiß man schon?

Abends macht er sich auf zur 84-jährigen Santa Celeste, der Macumba-Priesterin, die in ihrem Hinterhof eine Zeremonie zu Ehren des Caboclo-Heiligen São João aus den Wäldern abhält. Gegenüber jubeln Baptisten aus einer offenen Baracke ihre Kirchenlieder, und in den offenen Betonrinnen schnüffeln Köter im Abwasser, und Santa Celeste segnet ihren Altar. Mädchen lassen koloniale weiße Reifröcke kreisen, und die Alte dreht sich mit, und die Männer stampfen mit ihren Füssen den Rhythmus in die Erde, immer schneller, bis die Santa mit einem Schrei zusammenbricht.

Dann spricht sie mit dunkler verstellter Stimme. Ihre Augen sind ins Weiße gedreht, denn nun ist sie São João. “Ich bin der Champion Brasiliens”, knurrt sie, “der König des Waldes, Don João, der heilige Juan.” Sie segnet die Gläubigen, und sie verspricht ihnen Erfolg und Glück.

Auch Joãozinho kniet nieder, doch er ist zerstreut. Die Geschäfte könnten besser laufen, sicher, aber das ist es nicht. Jedes Mal, am Vorabend von Círio, muss er an sie denken, die in dieser Nacht in seinen Armen lag – an Zula, den Schmerz seines Lebens. Damals hätte er Don Juans Beistand gebrauchen können.

Der Puff, in dem sie arbeitete, heißt “Lapinha”, eine offene Discothek unter Palmendächern, nur ein paar hundert Meter weiter die Straße hinunter. Sie ist immer noch Treffpunkt der schönsten Mädchen Beléms, und Joãozinho wird mit Küssen und Umarmungen begrüßt wie ein alter Freund. Er war hier mal Rausschmeißer.

“Zula”, sagt er, während er auf die Lichtreflexe der kreisenden Discokugel starrt, “war selbst gegen das Delfinauge immun.” Sie war eine Nubierin, und sie trieb es nur mit reichen Weißen. “Ein ganzes Jahr lang habe ich sie belagert”, sagt Joãozinho. “Ohne Erfolg.”

Dann kam der Tag, als er diesen Geldkoffer für seinen Boss durch die Stadt transportierte. Und weil er den Job gut erledigte, hatte er einen Wunsch frei. Er hätte sich eine Gehaltserhöhung aushandeln können, doch er wünschte sich Zula.

Als er ihr Zimmer betrat, stand sie am Fenster, nackt, eine Haut ohne Narben. “Sie war das Schönste, was ich je gesehen habe”, sagt Joãozinho. “Ich war überwältigt, so sehr, dass es …”, er lächelt verlegen. “Nun ja, es hat nicht geklappt, zum ersten Mal in meinem Leben.”

Er begriff einige Sachen in dieser Nacht. Erstens, dass Liebe so groß sein kann, dass sie jede Eroberung unmöglich macht. Zweitens, dass den Weißen die Welt samt allen Zulas gehört, eben weil sie von der Liebe keine Ahnung haben. Und drittens, dass sich Zula, das Luder, von einem äußerst wirksamen Zauber schützen ließ, nur um ihn zu verhöhnen. Seitdem macht er einen Bogen um Nubierinnen.

Warum er nichts von diesem Natur-Viagra genommen hat, das sie in jeder zweiten Bude auf dem Ver-o-Peso verkaufen? “Bist du verrückt? Ich will mich doch nicht vergiften! Das ist nur für Touristen.”

WALDFLUCHT

“Dieser Dschungel”, sagt ein Gringo in Peter Matthiesens Roman “At Play in the Fields of the Lord”, “wie hältst du das aus? – Bist du verrückt geworden? Das ist die Gegend, wo Gott gefurzt hat.”

Er lässt sich nicht aushalten, nicht, wenn du nicht hineingeboren wurdest in diese Urwelt, in diesen ständig summenden grünen Brutofen mit seinen Myriaden von Moskitos, in den Regen, der in stundenlanger Eintönigkeit prasselt, in die braune Endlosigkeit des Flusses, der rote Delfine und andere mutierte Meerestiere mit sich trägt.

Du musst gelernt haben, die Pflanzen und die Wolken mit den Augen Joãozinhos, des Caboclos, zu lesen und wie er das dunkle Grollen zu erkennen, mit dem sich die Pororoca ankündigt, diese gigantische Flutwelle, die einmal im Jahr nach der Regenzeit vom Meer her den Fluss hinaufrast und Boote zerlegt und Pfahlbauten zertrümmert.

Du musst hier geboren sein, denn wer von außen kommt, hat diese Natur zum Gegner und ist verloren. Auf einem Bananendampfer sind die tausend Kilometer vor der Mündung im besten Falle mörderischer Stumpfsinn in ewig klammer Kleidung, und die Lebensgeschichten, die nachts in den Hängematten auf dem Zwischendeck ausgetauscht werden, erzählen vom Scheitern.

Da ist Nilton Dando, den sie noch heute Crocodile Dundee nennen, ein asketischer blonder Typ mit Buschmesser, der in einem früheren Leben Bankangestellter war und sich in den siebziger Jahren von den Versprechen der Militärs in den Dschungel locken ließ, frisch verheiratet und ausgerüstet mit nichts als einem Spaten, ein paar Säcken Saatgut und dem Traum vom ganz anderen Leben.

“Es war der härteste Kampf meines Lebens”, sagt er. “Nach einem halben Jahr hatten wir beide Malaria. Dann wusch uns der Regen die Saat aus dem Boden, und auch die nächste Ernte ging ein. Meine Frau flüchtete zurück zu ihren Eltern.”

Nachdem ihn ein Schlangenbiss fast das Leben gekostet hatte, brannte er seine Hütte nieder und zog weiter, weil in Roraima Gold gefunden worden war, und schließlich ließ sich alles nur noch im Drogenrausch ertragen, “was ich fand, ging dafür drauf”. Irgendwann hatte er sich nach Santarém gerettet, in die Stadt. “Was der Dschungel dir beibringt”, sagt er, “ist Demut.”

Im Ächzen der Barke und dem nächtlichen Klatschen der Wellen ist Dundees Geschichte nur ein gemurmeltes Echo aller

Eroberergeschichten vor ihm. Sie begann nicht erst in den siebziger Jahren, sondern bereits vor Jahrhunderten – mit jener abgerissenen Abenteurertruppe, die auf der Brigantine des Francisco de Orellana 1542 flussabwärts trieb, und deren Logbuch sich liest wie die Schlussphase eines Alptraums.

Ihre Haut unter den Rüstungen eiterte, und sie waren gespickt von Pfeilen “wie Stachelschweine”, wie Chronist Gaspar de Carvajal notierte. Sie trugen die entzündeten Phantasien der Alten Welt mit sich, sie waren auf Kannibalen gestoßen und hatten hier, auf der Höhe des heutigen Santarém, mit den Amazonen zu kämpfen, eine abgerissene, verwilderte Meute, die von Indio-Häuptlingen mit Versprechen auf Gold immer wieder in Hinterhalte geführt worden war.

Sie waren leichte Beute, denn es war die Gier, die sie in diesen endlosen Wasserschlund und seine Wälder lockte, sie und alle, die nach ihnen kamen, die Portugiesen und später Sir Walter Raleigh – sie haben den Amazonas nicht gemocht, sondern erduldet.

Du musst einen sehr guten Grund haben, in diese Hölle vorzustoßen. Neugier etwa, wie sie die Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts in sich trugen, die sich des grünen Reichtums mit ihrer quantifizierenden Besessenheit annahmen. Über den Münchner Gelehrten Karl Friedrich Philipp von Martius, der eine 40-bändige Monografie über die brasilianische Flora herausgab – in der 22 767 Pflanzenarten bezeichnet wurden, davon 5689 neue -, schrieb Alexander von Humboldt das schöne Epigramm: “Solange man Palmen nennt und Palmen kennt, wird auch der Name Martius mit Ruhm genannt werden.”

Was aber, wenn man sich überhaupt nichts aus Palmen macht? Für Teddy Roosevelt, den amerikanischen Abenteurer-Präsidenten, war der grüne Kontinent eine in der Ferne phantastisch ausgepinselte Geliebte, die die erste Begegnung nicht überlebt.

Das “Scribner”s Magazine” zahlte ihm das sensationelle Honorar von einem Dollar pro Wort für eine achtteilige Abenteuerserie, doch seine Notate wurden immer grimmiger und waren schließlich kaum noch zu gebrauchen.

“Der erbärmlich alberne Mythos einer gütigen Natur”, schrieb er, “könnte selbst den Dümmsten nicht mehr täuschen, wenn er nur einmal der grausamen Lebensbedingungen in den Tropen ansichtig würde.” Nach einer Fußverletzung fiel er ins Fieber und wimmerte nur noch, dass man ihn sterben ließe – nein, man muss hier geboren sein, um in diesem jahreszeitenlosen dumpfen Wuchern und Verschlingen nicht den Verstand zu verlieren.

Nur einmal im Jahr kommt Leben auf die eintönige Wasserstraße zwischen Belém und Manaus: Wenn sich die Boote auf nach Parintins machen, zum Indianerkarneval im Dschungel, dem irrsinnigen “Boi Bumbá”, wo zwei riesige Papp-Stiere aufeinander treffen, begleitet von Tänzerheeren in der Federpracht des Waldes und illuminiert in aberwitzigem Feuerzauber, die den Streit um ein Mädchen gewinnen wollen, denn natürlich ist das alles – wie kann es anders sein im Amazonas – nichts als ein hitziges Liebesdrama.

Für drei Nächte regnet es dann Dollar, ein folgenloser Wolkenbruch. Den Rest des Jahres verdämmert Parintins als Caboclo-Nest im Wald, denn der Dschungel kennt nur grüne Gleichgültigkeit und den raschen Boom, kurz wie ein Raubüberfall.

Manaus, im Herzen der grünen Hölle und 1500 Kilometer von der Mündung, hatte während des Kautschuk-Fiebers um die Jahrhundertwende ganze zehn wirklich gute Jahre. Seither rotten die gekachelten Belle-Epoque-Fassaden der Gummibarone im Gewirr feuchter Betonsilos, und die berühmte Oper, ein Bastard aus Moschee und Scala, steht so fremd dazwischen, als sei sie hier irgendwann aus dem Flugzeug abgeworfen worden.

Dennoch ist die Stadt ein riesiger Saugapparat – in den letzten 25 Jahren hat sich die Einwohnerzahl auf 1,5 Millionen vervierfacht, und das sind nicht nur gestrandete Goldsucher oder Kleinbauern.

In der Bretterbaracke von Senhor Clovis, dem Prediger, sind zwölf Ticuna-Indianer angelaufen, die nun schweigend vor dem Fernseher des Hausherrn dösen und ihre Kinder säugen. Eine Woche lang waren sie im Kanu hierher unterwegs. Die Fische im Reservat sind knapp geworden, sagen sie. Sie wollen Fleisch und Trockenmilch, und der Kazike muss zum Arzt, weil er sich die Hüfte verrenkt hat. Aber eigentlich wollen sie ganz dableiben, denn das Leben da draußen im Wald ist hart.

“Einfach abgehauen”, meint der örtliche Chef der Indianerbehörde Funai empört. “Sie hatten sich aus der Casa de Indios verdrückt, ohne Bescheid zu sagen.” Ein klassischer Fall von Waldflucht!

Die Lage ist in der Tat verwirrend. Da hat man all die schönen Indianergebiete geschaffen in den letzten Jahren, eine Gesamtfläche von 60 Belgien. Und nun ist der Amazonas selbst für die, die hier geboren wurden, für die Hausherren des Waldes, nichts als die DDR in ihren letzten Tagen: Entweder die Trockenmilch kommt zu uns, oder wir gehen zur Trockenmilch!

Doch es gibt einen neuen Stamm von Kriegern, die den Amazonas wirklich lieben: die Touristen.

SURVIVAL OF THE FITTEST

Ein bizarrer Populationsaustausch findet da statt. Während republikflüchtige Indianer ihre Hütten aufgeben und über die grüne Grenze in die Stadt machen, wird der Amazonas von Erlebnisurlaubern als letzter Kick entdeckt. Rund 80 legale und noch einmal so viele illegale Reiseveranstalter allein in Manaus bieten den Kunden der Regenwald-Boutiquen in Paris und Berlin das echte Fitzcarraldo-Feeling – den Überlebenstrip in die grüne Hölle.

Meistens heißt dein Führer Joe und hat fünf Jahre in der Armee gedient. Sein Blick sagt dir, dass er dich verachtet, aber dass er trotzdem versuchen wird, einen Kerl aus dir zu machen. Und dann stolperst du im Halbdunkel hinter ihm her, und fragst dich, warum die Moskitos die Einzigen sind, die sich weigern, zu den vom Aussterben bedrohten Gattungen zu gehören.

Der Dschungel, sagst du dir, ist sterbenslangweilig und ganz und gar nicht schön, aber für Liebhaber schmutziger Saunas muss er der Himmel sein. Du stiefelst durch knöcheltiefe braune Blätterpampe, die im Fachjargon mit Recht nur schnöde als “Biomasse” bezeichnet wird. Und am besten ist, du fasst nichts an, ganz besonders diese hellgrüne zarte Liane nicht, denn die ist eine Schlange.

Der Ernstfall “Überleben” also. Nehmen wir ein ganz alltägliches Szenario: Du bist mit deinem Lear-Jet auf dem Weg von Stuttgart nach Düsseldorf vom Kurs abgekommen und mitten über dem Regenwald abgestürzt. Was tun? Das Handy? Falsch, das funktioniert hier nicht. Du suchst dir den nächsten Sumauma-Baum mit mächtiger Bretterwurzel und klopfst um Hilfe. Man nennt es Dschungeltelefon. Es hat eine Reichweite von sechs Kilometern und ist selten besetzt. Dann zerkaust du ein paar Bengue-Blätter, um deine Hämatome zu versorgen, und schmierst dich mit dem Öl von Strohblättern ein, weil Jaguare den Geruch nicht ausstehen können. Dann besorgst du dir einen grünen Ast und drehst dir aus der Rinde des Envira-Baums eine Bogensehne, worauf du dich auf die Lauer legst, geschützt zwischen den Riesenwurzeln des Jimbu, um zu jagen. Und um jene perversen Jaguare auf Distanz zu halten, die zufällig auf Strohblätteröl abfahren.

Da sich Ameisenbären, Wollbeutelratten oder Faultiere nur nachts z eigen, wirst du wahrscheinlich nichts erbeuten. Also wirst du dich an Palmenherzen halten und an Wasserlianen, und, um deinen Protein-Vorrat zu decken, an Tatu-Maden.

“Sie schmecken nach Kokos”, sagt Joe, und popelt mit einem winzigen Stöckchen die weiße fette Larve aus einer grünen Nuss. Und da du Joe nicht zum Feind haben willst, nicht hier, kaust du auch eine. Rüdiger Nehberg ist durch nichts anderes berühmt geworden. “Stimmt, schmeckt nach Kokos”, sagst du.

Du lernst, dass der Wald gar keiner ist, sondern eine Apotheke. Tirici-Gras zum Beispiel hilft gegen Zahnschmerzen. Doch da ist auch erstaunlich viel gegen Manager-Krankheiten – der Toilettenschrank eines Börsenmaklers ist nichts dagegen: Blätter und Rinden gegen Bluthochdruck und Rückenschmerzen und Herzinfarkt, Rheuma und Gehirnschlag.

Das Leben im Wald scheint einen hohen Stress-Faktor zu haben, denkst du dir. Und einer davon ist, die Blätter und Rinden der rund 200 Arten auseinander zu halten, die hier pro Hektar treiben, denn sie sehen alle gleich aus. Es kann also durchaus passieren, dass du nicht die Blätter der Quina do campo kaust, die gegen Malaria helfen sollen, sondern die anderen, die das Rheuma lindern. Irgendwann wird dich dann ein Tropenmediziner untersuchen und nur noch feststellen können, dass du nicht an Rheuma gestorben bist.

Nach ein paar Stunden bist du dschungeltauglich und fertig. Du sitzt mit Joe am Fuße von Baumsäulen, die so hoch sind wie Nôtre-Dames und ebenso wenig Sonnenlicht hereinlassen, und dann ergeht ihr euch in einer kleinen Indiana-Jones-Fachsimpelei über die Touristen, die sich kürzlich im Wald verlaufen hatten und erst nach fünftägiger Suche wieder aufgegriffen werden konnten. Da ist einiges schief gegangen. Die Agentur, die sich “Alternatur Amazônia” nennt und in Paris offenbar als ganz heiße Regenwald-Internet-Adresse gilt, hatte den beiden Amazonas-Abenteurern einen eher zartgliedrigen, aber Französisch parlierenden Führer mitgegeben, einen Surinamesen namens Roy. Gleich mit dem ersten Wolkenbruch hatte Roy die Orientierung verloren. Nach ihrer Rettung stellte sich heraus, dass die drei weder getrommelt noch Pfeil und Bogen gebastelt hatten. Auch vor den Maden hatten sie sich gedrückt, und sich ausschließlich von Palmenherzen ernährt. Die beiden Männer hätten weitermarschieren können, aber die junge Amande de Montal war trotz ihrer Designer-Ausrüstung sehr geschwächt und krank und litt unter Asthma-Anfällen – die wiederum nicht mit Jambú-Blättern behandelt wurden. “Wahrscheinlich wussten sie gar nichts davon”, sagst du höhnisch.

Amande also saß zitternd und krank im Wald und hatte besonders nachts, wie Roy später unter Freunden verriet, “eine Scheißangst vor den unheimlichen Geräuschen”. Das hätte wohl jeder. Allerdings: Kaum war sie von einem Armeehelikopter nach Manaus transportiert worden, bedankte sich Mademoiselle Amande, eine Wirtschaftsstudentin aus dem 16. Arrondissement, überhaupt nicht bei ihren uniformierten Rettern, sondern spuckte, ganz im Gegenteil, die allergrößten, alternativen Töne.

Sie beschwerte sich über die rücksichtslose Armee. Der Wald sei ihr Freund, sagte sie. Die Indianer hätten ihr sicher geholfen. Und dann telefonierte sie, unter dem Blitzlichtgewitter der Fotografen, mit Paris. “Es war so wahnsinnig authentisch”, rief sie, nachdem der Butler zu Frau Mama durchgestellt hatte. “Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mich gespürt, meine Ängste und meine Stärken.” Fünf Tage lang hatte dieser Selbsterfahrungstrip Presse und Polizei und Armee in Atem gehalten. Der Amazonas als Urschrei-Therapie für zivilisationsmüde Snobs – perverser kann er nicht enteignet werden.

DAS HIGH IM REGENWALD

Die Liebe zur Natur ist eine Sache der Dosierung: Selbst für die internationalen Helferkongresse scheint der Amazonas allenfalls im mondänen Tropical Inn von Manaus erträglich zu sein – es ist mit Umwelttagungen nahezu ständig ausgebucht. Hinter dem silberkühlen Wasservorhang am Pool zerfließt der Wald zur angenehmen Ahnung, der gefleckte Jaguar im Hotel-Zoo ist allzeit fotografierbar, und abends werden den Tagungsteilnehmern die aus Parintins herbeigeschipperten Boi-Bumbá-Tänzerinnen zum Nachtisch serviert.

Von hier aus brach der Amazonas-begeisterte Helmut Kohl 1992 zur Dschungellodge Ariau auf, einem Bungalowdorf auf Planken drei Stunden stromaufwärts. Stolz zeigt der Inhaber Dr. Francisco Ritta Bernardino den Kugelschreiber vor, der ihm vom Einheitskanzler verehrt wurde, und seither heißt eine der Suiten “Helmut Kohl”. Sie unterscheidet sich von der Suite “Bill Gates” dadurch, dass sie weder über Hometrainer noch Computer verfügt.

Ritta, der Ex-Militär mit dem kurz geschorenen Schädel, hatte bereits vor Jahren die Zeichen der Zeit erkannt: Öko-Tourismus für Betuchte. Und er begriff, dass der Wald als solcher eher langweilig ist und daher inszeniert werden muss.

Seine bizarre Amazonas-Fiktion hat Erfolg. Susan Sarandon und Mel Gibson sind hier bereits abgestiegen, Bill Gates und Ex-Bundespräsident Herzog, und Königin Silvia von Schweden wurde nach ihrem Besuch mit einer Holzplastik verewigt – als irre in den Dschungel starrende Edelsquaw.

In den Wald hat Ritta einen Ufo-Landeplatz sägen lassen und darauf eine Grußadresse in den bei Marsmännchen äußerst beliebten Weltsprachen Englisch, Französisch, Hindi und Hebräisch pinseln lassen: “Willkommen Brüder, dies ist das Land des Friedens und der Liebe.” Gleich daneben erhebt sich die gläserne, vollklimatisierte “Pyramide der Glückseligkeit”, mit Meditationskissen, New-Age-Klängen und Altären für die Liebe. Das schattige Türkisgrün, das außen über die Glaswände wuchert, stammt von einer wetterbeständigen Kletterpflanzenimitation aus Plastik.

Man sieht auf den ersten Blick, mit welchen Besuchern Ritta rechnet: mit Außerirdischen sowie schwer durchgeknallten Romantikern aus Hollywood, was ja in etwa aufs Gleiche hinausläuft. Daneben, sicher, Honoratioren und allerlei Familientourismus – mit 24 000 Gästen pro Jahr ist das Ariau die erfolgreichste Bettenmaschine mit dem Öko-Siegel.

Auf den langen Bootsfahrten durch die mäandernden Seitenarme des Rio Negro erzählen die Führer die alten Legenden, und dabei kommt es zu den allerschönsten mythologischen Verschränkungen von New Age und Old Age. Für jeden Berliner Esoteriker zum Beispiel ist ausgemacht, dass Delfine unglaublich intelligente Wesen sind. Das glauben die Caboclos am Fluss auch. Hier jedoch ist der rosa Flussdelfin auch noch ein Gigolo, der nachts an Land steigt, Menschengestalt annimmt, unschuldige Mädchen schwängert und wieder abtaucht. Kurz: Der Delfin ist ein Schwein.

Allerdings, wer dann in der Abenddämmerung hinausgleitet auf den Rio Negro, der glaubt an alles. Die Sonne verblutet über einem dunklen Spiegel, überflutete Bäume strecken ihre Äste heraus wie schwarze Arme, um die das Wasser silberne Ringe legt, und darüber schweben Wolkengebirge, unglaublich rosa und hoch, die sich tief im Fluss verdoppeln. Wie war das noch mal mit den Delfinen?

Der sanfte Öko-Tourismus des Ariau verkitscht den Amazonas zum Schmuse-Zoo. Seine Plankenwege sind wie Laufställe für Erwachsene in den Wald gebaut, Klammeraffen turnen darauf herum und Papageien, und in den eher kargen Zimmern ist an die Wand gepinselt, wie schön der Wald sein könnte, wenn er sich ein bisschen am Riemen risse: nackte Indianerinnen im Vollmond, Kraniche im Schilf, und immer wieder rosa Delfine, die hier das Pendant zum brüllenden Elch darstellen.

Die Natur wird als Adventure-Movie inszeniert, etwa wenn es mit einem blutigen Stück Rinderherz zum Piranha-Angeln geht. Kaum senkt sich der Köder ins Wasser, schäumt die schwarze Brühe wie Coca-Cola. Du reißt eines dieser rotsilbernen Biester aus dem blutgierigen Gewimmel, löst es mit einem Griff hinter die Kiemen vom Haken – und dann kannst du wählen, ob du es als Suppe willst oder doch lieber gegrillt. Nachts legen Scheinwerfer bestückte Langboote ab – eines heißt “Helmut Kohl” -, um kleinere Krokodile zu fangen. Wenn es in Ufernähe rot aufleuchtet, ist es das Augenpaar eines geblendeten Kaiman. Dann stürzt sich der Caboclo ins Schilf, um kurz darauf mit dem Reptil wieder aufzutauchen, das starr ist vor Schreck. Dem hält er den Kiefer zu, damit ihn jeder streicheln kann – kann man der Natur näher, kann man ihr entrückter sein?

Alle, die auf diesen Booten in die Amazonas-Seitenarme vorstoßen, sind auf der Suche nach einem Geheimnis, das ihnen zerfällt, je näher sie ihm kommen. Kein Waldbewohner würde je auf die Idee verfallen, Krokodile zu fangen – er tötet sie, und er betet sie an. Neal Ames aus Los Angeles dagegen tätschelt dem Kaiman den Panzer mit rührender Liebe. Er hat zu seligen Woodstock-Zeiten “Sly and the Family Stone” promoted und ist später mit Fensterblenden reich geworden. Und nun sagt er, mit melancholischer Zivilisationsverachtung: “Das Tier ist gut, und der Mensch ist böse.” Um dann, nach einem jähen Gefühlssturz, hinzuzusetzen: “Und die Verkörperung des abgrundtief Bösen ist Bill Gates.”

Wieso? Hat ihn der Kaiman an Gates erinnert? Hat er Microsoft-Aktien? Überhaupt: Will Gates nicht auch den Regenwald retten? “Der tut nur so”, sagt Ames. “In Wahrheit will er die Weltherrschaft.”

Eberhard Nike vom Forschungsinstitut Karlsruhe knipst das Krokodil geistesabwesend. Er ist damit beschäftigt, die Kosten für eine Solarversorgung des Hotels im Kopf zu überschlagen. “Zirka fünf Millionen”, sagt er, “wäre direkt ein Kunde.” Er lächelt entschuldigend: “Man nimmt seine Arbeit ja ständig mit.”

Seit neuestem hat das Ariau seinen Streichelzoo ausgedehnt. Er hat echte Indianer ins Programm genommen, und in dieser Nacht tanzen sie, um die Geister zu beschwören. Und das Schönste: Sie sind nackt. Als Faustregel für den AmazonasUrlauber gilt: je nackter, desto echter.

“Heutzutage laufen die meisten Stämme ja in T-Shirt und Shorts herum”, meint Carol, die Texanerin. Doch hier, im Fackellicht am Anlegesteg in einem schmalen Seitenarm des Flusses, huschen Nackte herum, ganz so wie auf dem Film-Set von “Apocalypse Now”, und Carol drückt die “Night Vision”-Taste ihrer digitalen Videokamera. Nach einem kehligen Singsang, der vom Ariau-Führer als Hymne an die Sonne vorgestellt wird, tanzen vier kleine tätowierte Indianerpärchen mit den umfangreichen Bäuchen größerer Touristen im Kreis herum. Neal ist ganz außer sich, denn so ähnlich war es auch in Woodstock, und später gibt es Kaiman von der Feuerstelle, und die ganz Mutigen ziehen an der zerkauten Indianer-Zigarre.

Tatsächlich ist der Kazike Kali Ne Seri mit seinen Leuten erst vor einem Jahr hierher engagiert worden. Die zwölf Terianu stammen aus dem Norden, und normalerweise laufen sie nicht so herum. Ne Seri ist in einer Jesuitenschule groß geworden, und die angebliche Sonnen-Hymne zu Beginn der “Zeremonie” bestand aus ein paar Dankesworten an die Ariau-Company. Die Maloca, das Langhaus, ist ihnen gestellt worden. Ritta zahlt pro Auftritt und Nase fünf Mark, ein Bruchteil von dem, was er den Touristen für diesen Trip abnimmt. “Wir müssen auch am Wochenende arbeiten”, klagt Ne Seri. “Wir sind absolut urlaubsreif.”

Es ist anstrengend, den Amazonas so zu erfinden, dass er in einen westlichen Urlauberschädel passt.

DIE HOLZMÜHLE

Der Tote liegt auf dem glühenden Asphalt vor dem Hangar in Manaus, wie eine Puppe mit bleichem, aufgedunsenem Gesicht, Khakis, schwarzen abgetretenen Schuhen. Vier Männer stehen ratlos um ihn herum. Einer von ihnen zuckt die Achseln, als Salem, der Pilot, fragend hinüberwinkt. “Die warten immer bis zum letzten Moment, bis sie sich herausholen lassen”, meint Salem. “Und dann ist es zu spät.” Man wird die Leiche wegschaffen, und in ein paar Tagen liegt die nächste da.

Malaria und tote Garimpeiros, immer die gleiche Geschichte. Jahrelang hat er sie aus der Luft beliefert, während des Goldrausches der achtziger Jahre. Er hat sie mit Konserven und Gerät versorgt und manchmal mit einer Frau, und viele seiner Pilotenfreunde sind bei diesen Einsätzen vom Himmel gefallen, die meisten auf immer verschollen im grünen Meer.

Salem hat beunruhigend viel Wut für einen, dem du dein Leben anvertraust. “Ich könnte zum Terroristen werden”, sagt er, als er sich hinter das Steuerruder der Cessna klemmt. “Das Land ist im Eimer, der Wald ist im Eimer, die Politik ist im Eimer.” Er rückt die Brille zurecht. “Die Einzigen, die was taugen, sind die Frauen.”

Er geht die Checks durch, startet, und kaum hat er die Maschine oben, setzt er seine Kriegserklärung fort. Wogegen sie sich genau richtet, bleibt unklar. Klar ist nur die Wut: auf den Wald und diejenigen, die ihn zerstören. Auf die Politiker. Die Männer. Auf Fazendeiros und Goldgräber und ausländische Spezialisten. Er zieht eine Schleife über dem Palast, den sich der Gouverneur ans Amazonas-Ufer gesetzt hat. “Glaubst du etwa, so was kann der sich von seinem Gehalt leisten?”, brüllt er in den Lärm.

Dann schwebt er über dem Strom, der hier den Rio Negro in sich aufnimmt wie einen breiten schwarzen Pinselstrich auf gelber Leinwand. Salem gewinnt an Höhe, und dann ist da nur noch Grün bis zum Horizont, durchzogen von den Silber-Kalligrafien des mäandernden Flusses. Salem schaut herüber und nickt. In der Tat, es ist schön. Seiner Frau zuliebe hat Salem die Garimpeiro-Fliegerei aufgegeben. Aber er weiß: Auf Dauer hätte er gegen den Wald sowieso verloren. Man kann nicht gegen ihn gewinnen, und womöglich ist das der heimliche Grund für seine Wut. Man kann ihn abfackeln, klar, aber das wäre kein Sieg. Salem ist grüner Konvertit, aber nur, weil der Wald stärker ist.

Nach einer halben Stunde westwärts tauchen die Holzschlaggebiete um Itacoatiara auf, als Glatzenflecken im Wald, bereits wieder mit hellgrünem Flaum überwuchert, und dann größere Stücke, die aussehen wie gekämmt – aufgeforstete Gebiete mit Palmen, die in endlosen Spalieren strammstehen. Dann ein paar größere Baracken und eine schmale, rote Sandzunge. Salem bringt die Maschine nach unten. Sie springt wie eine Murmel auf Wellblech, plötzlich ein Schlag, sie stellt sich schräg und kommt schließlich rutschend zum Stillstand – ein kantiger Brocken hat den rechten Reifen zerfetzt. Salem ist Schlimmeres gewöhnt. “In ein paar Stunden hab ich”s repariert.”

Das Gelände von Precious Woods ist keine herkömmliche Sägemühle – es ist ein grüner Wallfahrtsort geworden, mit rund tausend Besuchern pro Jahr. Das Schweizer Unternehmen demonstriert, Gewinn bringend, die komplette Enträtselung des Waldes. Die bisherige Geschichte des Amazonas ist die wilder Plünderung – Precious Woods zeigt, wie man systematisch ausbeutet, ohne totzuschlagen. Mit einem Wort: Hightech. Es ist die auf die absurde Spitze getriebene Quantifizierung des Dschungels durch Satellitenüberwachung und Computerauswertung. Auf den 80 000 Hektar der Firma ist jeder Baum durchnummeriert und auf dem Monitor abrufbar, in einer lückenlosen Steckbriefkartei mit Angaben zu Größe und Alter und Art. Die Gebiete sind in Sektoren und Trassen unterteilt. Gefällte Stämme werden mit einem Stahlseilsystem aus dem Dschungel gezogen, ohne, wie in der herkömmlichen Art, die ganze Umgebung platt zu walzen und damit die Böden korrodieren zu lassen. Ausgeweidete Flächen werden aufgeforstet und 50 Jahre lang nicht angerührt.

Die Baum-Kandidaten werden sorgfältig ausgewählt, und in Sektor C will Betriebsleiter João Cruz demonstrieren, wie es gemacht wird. Er rast in seinem uralten Fiat über die rote Piste in den Dschungel und schwärmt dabei von deutschen Autobahnen. Vorletztes Jahr war er in Rostock – Precious Woods hatte die knotigen, betonharten Acaricuara-Stämme für den Buhnenbau in Mecklenburg geliefert. Sektor C ist ein Brutofen unter Baumriesen. Das brusthohe Unterholz peitscht die Haut blutig, die Moskitos feiern Orgien, der Atem geht flach und irgendwann ist Baum 336 LOPR erreicht, ein Riese der Gattung Louro preto. Der Vorarbeiter, schwarz unter einer Pampe aus Schweiß und Holzstaub, legt den Probeschnitt an und führt den Stahlhaken ein, um die Größe des Hohlraums zu überprüfen. 336 LOPR hat den Test bestanden – der Hohlraum ist so klein, dass ein Abschlag lohnt.

Und dann ist er dran. Nachdem die Fallrichtung festgelegt ist, heulen die Sägen auf und fräsen ein Filet von der Größe eines Wirtshaustisches heraus. Der Mammut ächzt, und dann stürzt er wie ein Turm, rauschend und brüllend, der Himmel reißt auf, der Boden zittert unter dem dumpfen Knall. Dann beginnt das Zerlegen. Selbst die größeren Äste werden geborgen und zu Hammerstielen verarbeitet.

Die chirurgische Präzision von Precious Woods hat selbst Greenpeace beeindruckt: Seit Juni verkauft die Firma mit deren Öko-Siegel an die Konsumenten in Übersee, und die zahlen dafür gern Aufpreise. Den traditionellen Holzschlägern indes machen die zunehmend strengen Auflagen zu schaffen. Die Umweltbehörde Ibama verhängt mittlerweile Strafen bis zu 500 000 Mark – und treibt sie auch ein. Ein malaysischer Schnellsäger hat bereits die Koffer gepackt. Der benachbarte Großproduzent Getal dagegen will nun die Methoden von Precious Woods übernehmen.

“Der Amazonas wird überleben”, sagt João. “Überall geht es in die richtige Richtung.” Die Zukunft des Waldes, wie er sie sieht – eine durchnummerierte Plantage aus Ökoholz.

Fortsetzung im nächsten Heft: Die Drogenséance der grünen Helfer – Die Amazone – Chico Mendes als Kondom – Die Indianergötter am schwarzen Fluss.

DER SPIEGEL 11/2001

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