Ein Spiel auf der Klaviatur niedrigster Affekte oder einfach nur so bunt wie das Leben selbst? Am Dschungelcamp scheiden sich die Geister. Aber geht deswegen gleich das christliche Abendland unter?

Claudia Becker: Lieber Herr Matussek, finden Sie nicht auch, dass seit einigen Tagen zu fortgeschrittener Stunde regelmäßig das Abendland untergeht? Diese geistige Umweltverschmutzung, die das Dschungelcamp verbreitet, ist doch mit christlichen Werten nicht vereinbar!

Matthias Matussek: Nein, überhaupt nicht, wobei ich mir natürlich wünschen würde, dass der Tag im Dschungel mit einem Frühgottesdienst beginnt. Aber wahrscheinlich betet jeder für sich.

Becker: Das wäre ja richtig toll. Aber schön wäre, wenn sie wenigstens gemeinsam singen würden. Vielleicht den Choral “Wie schön leuchtet der Morgenstern” (aus dem evangelischen Gesangbuch). Vielleicht würde dann der einen oder dem anderen ein Licht aufgehen bei ihrer Suche nach den Sternen.

Matussek: Wunderbares Lied. Oder “Geh aus mein Herz und suche Freud”, mein Lieblingslied, ein Naturlied, überhaupt, das alles ist doch ein Riesendank an Gottes Schöpfung, die alle ernährt und sättigt, auch wenn die komischerweise immer Sachen essen, auf die man so nicht kommt.

Becker: Die sollen essen, was sie wollen. Viel schlimmer ist doch diese ganze Verlogenheit der Veranstaltung. Schadenfreude, Lästern. Das appelliert an niederste Instinkte. Und dazu das Grinsen der Moderatoren, die mit dem Vorführen von Menschen Geld verdienen. Da krieg ich einen Hals! Außerdem sollen die mal Psalm 148 lesen. Da würden sie erfahren, dass “Gewürm” auch Gottes Schöpfung ist und dass man Riesenmehlwürmer nicht einfach eimerweise in Riesencocktailshaker schüttet, um sie durch die Gegend zu wirbeln.

Matussek: Ach ja, zunächst mal ist es doch ein Gruppenerlebnis, das Fernsehen bietet so wenig davon. Da gibt es nicht nur Schadenfreude, sondern auch Momente von Solidarität und Nächstenliebe. Wenn die kleine Angelina weint, weil sie Heimweh nach ihrer Mutti hat, möchte ich sie trösten. Jetzt ist sie gegangen. Der Dschungel wird ärmer. Jetzt bleibt Walter, der ungefähr die gleiche Körbchengröße hat. Lästern, liebe Kollegin, gehört zur menschlichen Grundausstattung, deshalb gibt es den katholischen Karneval. Nee, nix gegen Dschungelcamp. Wenn ich fromm sein will, geh ich in die Kirche.

Becker: Was ist denn das für ein Glaube, den man auf den Gottesdienst beschränkt? Sie sind mir aber einer! Was ist mit dem biblischen Gebot vom allgemeinen Priestertum? Von der liberalen Vorstellung, dass jeder selbst für sein Verhältnis zu Gott verantwortlich ist? Aber Sie haben recht: Walter ist mit seiner Initiativbewerbung ein gutes Beispiel für Selbstverantwortung und Leistungsbereitschaft. Ein guter Protestant, würde ich sagen.

Matussek: Walter? Der würde für einen Job vor der Kamera jeden verraten, der ist ja nun auf so spektakuläre Weise würdelos, dass es wieder spannend ist. Und genau ins Konzept passt. Wir beobachten Menschen, denen Würde und Takt zunehmend egal sind, also ein genaues Abbild unserer Gesellschaft. Jawohl, wir sind das Dschungelcamp. Ich bin ja eigentlich anders, allerdings komm ich so selten dazu …

Erschienen am 25.01.15 www.welt.de