Vor hundert Jahren veröffentlichte James Joyce mit seinem „Ulysses“ den einflussreichsten Roman der Moderne. Den darin beschriebenen Juni-Tag feiern Dubliner und Leser aus aller Welt jedes Jahr als „Bloomday“ in den Kneipen der Stadt. Ich feierte mit, schon 2004

(Abdruck aus meinem unlängst erschienenen Buch  „Außenseiter“, Exil-Verlag, 216 S., 19,00 Euro, bestellen hier unten auf meiner Seite)

 

Also von Werktreue kann hier nicht die Rede sein. Würstchen oder Niere, da fängt es schon mal an. »Denny’s« spendiert der Stadt Dublin ein so genanntes Bloomsday-Frühstück für 10 000 Leute. Es besteht aus Brötchen und Würstchen. Und Limonade. Bier gibt’s nicht.

Das heißt, es ist alles buchstäblich voll daneben: Was Leopold Bloom, Held des Joyceschen Jahrhundertwerks »Ulysses«, am Morgen dieses 16. Juni 1904 sich und seiner Frau Molly beim Metzger Dlugacz zum Frühstück kauft, sind Nierchen. Und es ist das Mädchen neben ihm, das sich Denny’s Würstchen ins Einwickelpapier klatschen lässt.

Aber so ist das mit den Dichter-Feiern. Man guckt nur so ungefähr hin.

Klar auch, dass Joyce auf den Fußgängerzonenbildern in der Grafton Street total verfehlt wird. Joyce als intellektuelles Wappentier fürs prosperierende Boom-Dublin, Zwicker und Stöckchen, der Charlie Chaplin der literarischen Rätselecken, zum Quietschen.

 

Dennoch und trotz allem: was für ein Tag, dieser Bloomsday. Und wie glücklich das Land, das seine dichterischen Erfindungen so ausgiebig feiert wie andere nur Schlachten. Wahrscheinlich kann nur in Irland, dieser grünen Luftspiegelung überm Meer, ein fiktiver Tag den wirklichen Kalender erobern. Nicht, dass es nicht auch hier Gemetzel gäbe, gerade hier. Aber hier wird alles Traumstoff, Legende, und besonders dieser 16. Juni.

»Wir haben sonst nichts in Irland«, sagt der Schriftsteller Hugo Hamilton, den ich am Vorabend kennengelernt habe. »Wir haben nur unsere Geschichten.«

Dabei ist James Joyce (1882 bis 1941), als er noch in Dublin lebte, so ziemlich allen auf die Nerven gegangen. Er hat sein Land von Herzen verachtet, eine »alte Sau« hat er es genannt und es bereits 1904 verlassen.

Der »Ulysses« war verboten, und die Joyce-Geschichten über seine »Dubliner« wurden vom Drucker verbrannt. Doch heute küsst die Stadt ihren Anarchisten. Das hat sie übrigens mit allen getan. Manchmal hat sie sie gehenkt. Verehrt hat sie sie immer.

James Joyce ist ganz heute. Er ist Meister des Hype. Weste, Spazierstock, gute Tenorstimme, immens gebildet, besoffen von der eigenen Größe. Er hatte noch keine Zeile veröffentlicht, da verlangte er kostenlosen Eintritt in die Theater Dublins mit den Worten: Lassen Sie mich durch, ich bin James Joyce.

So einer hätte die heutigen Talkshows im Sturm erobert, und er hätte sich nicht einmal davor geekelt, wenn er dafür bezahlt worden wäre, denn er war ein Schnorrer. »Man sollte mich auf Staatskosten erhalten, weil ich fähig bin, das Leben zu genießen.« Die einzige Widmung, die er je verfasste, schrieb er sich selbst, über das »erste, echte Werk meines Lebens« – Titel »Eine glänzende Karriere«.

Joyce ist kein guter Einfluss, wenn man von sich selbst ausnüchtern möchte. Er ist größenwahnsinnig. Die Frage ist natürlich die, ob man jemanden größenwahnsinnig nennen kann, der später dann den »Ulysses« zu Stande bringt.

Dieser ist bis heute das Meisterstück des Hype. Er glänzt in der Literaturlandschaft, gerade weil er ungelesen ist, ragt hoch und schwarz wie der Monolith, den die Urhorde anstaunt am Beginn der Kubrickschen Film-»Odyssee im Weltraum«.

Das wäre ungefähr der Bildungsabstand des Buches zur »Big Brother«-Meute.

Es ist obszön, blasphemisch, skandalös, und deshalb versucht man sich mit 17 an ihm, wo man genial ist und scharf aufs Armdrücken mit Genies. Man springt rein wie in eine Mutprobe, lacht sich an Stellen scheckig, ermüdet dann schnell, rettet sich dann bald ans seichte Ufer irgendwelcher gerade angesagten Pop-Literaten-Babys.

Später liest man das erneut und staunt in der Fülle der Motive und Anspielungen.

Die antireligiösen Schocks sind vielleicht verraucht, innere Monologe kennt man aus jedem zweiten Reporterstück, das Schema schimmert durch im zerebralen Geschiebe der Figuren, doch man verläuft sich immer noch lustvoll in der gewaltigsten Romanlandschaft der Moderne.

Mehrere Anläufe musste Joyces Großnichte Helen Monaghan machen, bis sie den »Ulysses« bewältigt hatte, und das war in einer Lesegruppe, also im schützenden Geleitzug.

Helen hat rote Haare, ein Gesicht aus Honig und runde Arme wie Blooms Molly. Sie ist Chefin des Joyce-Zentrums, und in einer Glasvitrine sammelt sie phantastische »Ulysses«-Objekte, wie jene Talisman-Kartoffel, die Bloom in der Tasche mit sich herumträgt, oder einen Bowler-Hut, eine Absinth-Flasche, lauter Fundstücke aus der Wirklichkeit, die an den Strand der Joyceschen Erfindung getrieben sind.

Helen wäre nicht bei der Stange geblieben, wenn nicht schließlich in Kapitel Nummer vier des »Ulysses«, dem »Kalypso«-Kapitel, der schwerbäuchige, melancholische Bloom aufgetaucht wäre. Stephen Dedalus, das Alter Ego des jungen Joyce, der Poet in seiner brillanten Geschwätzigkeit, ließ sie kalt. Es ist der gereifte Bloom, der Jude, der Außenseiter und gehörnte Ehemann, der sie gewann.

Der 16. Juni 1904. Blooms Tag. Ein Alltag, so umfassend und genau beschrieben, wie es nie vorher geleistet wurde. Als diese ungeheuerliche, vielschichtige Ehrenrettung des Gewöhnlichen 1922 schließlich erschien, diese Pflastertretereien, die durchflüstert sind von der »Odyssee«, der »Göttlichen Komödie« Dantes, der Bibel, Shakespeares »Hamlet«, da verneigten sich hellsichtige Zeitgenossen wie Hemingway und Ezra Pound. Mit dem »Ulysses«, meinte T. S. Eliot, habe Joyce das 19. Jahrhundert umgebracht.

Und seither ist Dublin ein offenes Buch. Jeder Pflasterstein ist beschrieben. Jede Gasse, jeder Pub, jedes Denkmal ein Lesezeichen.

Zwischen acht Uhr morgens und zwei Uhr nachts legt Leopold Bloom eine Strecke von 29 Kilometern zurück, 13 davon zu Fuß. In Wahrheit aber reist er durch All und Zeit, zwischen Antike, Helsingör und Bettlaken. Eine Weltreise im Kopf.

Er weiß, dass seine Sirene Molly, die Konzertsängerin, ihm untreu werden wird an diesem Tag. Er selbst hat eine Freundin. Er kaut an seiner Eifersucht und geht seinen Anzeigengeschäften nach, er denkt wie wir alle entweder voraus oder zurück. Nur selten ist er, wo er ist, so wie wir alle. Die Leistung von Joyce: das Denken als Abenteuer zu entdecken.

Warum nicht zum Glasnevin-Friedhof? Bloom bricht nach seinem Nierchen-Frühstück dahin auf, um Paddy Dignam die letzte Ehre zu erweisen, im »Hades«-Kapitel – alle Kapitel waren ursprünglich nach Episoden aus der »Odyssee« benannt, verlaufen parallel zu ihnen, um ihnen über die Zeiten hinweg zuzurufen.

Der Kutscher bringt den schaukelnden Bloom quer durch die Stadt, und hundert Jahre später erklärt mir der Taxifahrer, der an versteinerten Helden vorbeifährt und an der ganz neuen Riesennadel, die nichts darstellt als, na, eine Nadel, dass er von den Pubs und den Weibern und Dublin auch so einiges versteht, da könnte er leicht so ein Buch schreiben.

Jeder ist Bloom in Dublin, Bloom ist Jedermann.

Bloom also fährt Taxi durch die Stadt, und ich denke an die Geschichte, die ich zu schreiben habe, und an das Geblase, an die Aiolos-Episode vom Abend zuvor, den Empfang, Schriftsteller und Ex-Journalisten, blabla, die über die Verluderung der Branche blabla gemacht haben, und dann Toast auf den Untergang der Welt, Gratisverachtung.

Wie sympathisch Bloom dagegen, durchgewetzte Rockärmel, Eifersucht und Ehebruch im Kopf, gutmütiges Handwerk in der Redaktion, es ist nicht die Bibel, um die es da geht, sondern es geht um Zeitung, wo nun mal heiße Luft produziert wird, mal niveauvoll, mal weniger, alles zusammen bisweilen jene günstigen Winde erzeugend, die Regime stürzen können und, eventuell, den Helden Odysseus in die Arme seiner Frau heimsegeln lassen.

So verläuft der »Ulysses«, wenn man ihn liest, indiskret und sprunghaft, wie die Tagträumereien während einer U-Bahn-Fahrt, jeder kennt das.

Bloom also auf dem Friedhof, er meditiert über die verblichenen Patrioten der irischen Geschichte, der Friedhof ein Schlachtfeld, und hundert Jahre später ist es John Woods, der pensionierte Rasenpfleger (Fußballfelder, Golfplätze, Cricketwiesen), der sich mit seiner Frau Donna vom Friedhofhistoriker Shane durch die Zypressenalleen führen lässt.

Nekropolis. 1,5 Millionen Tote. Für einen Erzähler sind das 1,5 Millionen Geschichten, und jeder Ire ist Erzähler. Vorn die Bischöfe und andere marmorne Kirchenfürsten, die Joyce verboten, weiter hinten die Linken, denen er es auch nie recht machen konnte, da hinten die Faschisten, Katholiken alle, und natürlich Freiheitsheld Michael Collins, der mit Liam Neeson  zum Filmheld geworden ist.

Dahinten ein ausgeschaufeltes Filmgrab, da wird gedreht. Frische Rosen auf Collins’ Grab und Liebesbriefe. »Wo ist das Grab von Julia Roberts«, wird der Historiker immer mal wieder gefragt. Sie war Michael Collins” Freundin. Im Film.

Schließlich, vorbei an all den keltischen Kreuzen aus grauem verwittertem Stein, eine kleine geputzte Tafel. Hier hinten liegt John Stanislaus Joyce, der Vater des Dichters, ein Trinker und ironischer Witzbold und jähzorniger Scheißkerl, der ein beträchtliches Vermögen durchgebracht hatte.

Ein paar Gräber sind hier noch frei auf dem Glasnevin-Friedhof.

Un was kostn das so, will das Ehepaar Woods wissen. Wie überall, sagt der Historiker, Lokäischn ist alles. »Location, location, location.« Bei den Bischöfen vorn am Eingang runde 20 000 Euro. Bei Michael Collins 40 000. Na und hier, bei Joyce, da ist schon für 3000 was zu haben. Das ist der Lauf der Dinge.

Das Leben hat Bloom wieder, als der den Friedhof verlässt, und auch hundert Jahre später werden im weiteren Tagesverlauf Kaschemmen abgeklappert, so wie es diese Referendarinnen aus Tübingen machen, die sich den »Pub Crawl«, die Kneipentour, antun. Das heißt: Sie nehmen mit zwei Schauspielern den Rundgang durch die Pinten, um sich mit Guinness und Beckett und Brendan Behan voll laufen zu lassen.

In welcher Stadt gibt es das schon, dass ein ganzer Pulk von fröhlichen Trinkern über tückisches Pflaster Dichtern nachstolpert, etwa zum Trinity College, um sich dort Anekdoten über Oscar Wilde anzuhören, diesen Vorgängerskandal zu Joyce. Natürlich auch hier: Trinkeranekdoten. Mit von der Partie sind Baseballkappen-Besucher aus den USA, die den D-Day gefeiert haben und sich jetzt begeistern für die siegreiche Invasion erdichteter Figuren.

In einem der späteren Pubs kommt die Rede auf Nora Barnacle, auf Molly. Es ist im »Davy Byrnes«, wo in den fünfziger Jahren unter der Ägide Flann O’Briens der Bloomsday wiederbelebt wurde. Man ging damals übrigens nicht viel rum. Man verzichtete auf den Friedhof. Man trank.

Und stieß auf Nora Barnacle an, nicht zu knapp, denn der Bloomsday fällt nur deshalb auf den 16. Juni 1904, weil Joyce an diesem Tag von Nora Barnacle erhört worden ist.

Das klingt lyrisch und ist noch viel mehr als das. Es war himmlisch. Es war nämlich so: An diesem Tag hat sie ihre Hand in seine Hose geschoben und, wie er sich später schwärmend erinnert, »mein Ding in deine tastenden Finger genommen, dick und stark, wie er war, und mich sanft gerieben, bis ich durch deine Finger hindurch kam«.

Nicht also der Krieg zwischen Russland und Japan oder irgendein anderes dröhnendes welthistorisches Ereignis jenes Tages war es, das der »Ulysses« verewigte, sondern eine ganz private, wenn auch durchaus sensationelle Ejakulation.

Womit wir beim »Nausikaa«-Kapitel wären, dem berüchtigsten, weil verbotensten, das jene Onanieszene der Weltliteratur enthält, von der noch Legionen von Schriftstellern später leben, Roth und Amis und Franzen und Bukowski sowieso, und das die katholische Kirche zum Anlass genommen hatte, den ganzen Schmöker aus dem, na ja, Kalauern ist hier wohl erlaubt, Verkehr zu ziehen.

Die Szene also, in der Bloom, die begehrlichen Augen auf Gerty gerichtet, onaniert. Es ist halb neun Uhr abends an diesem warmen 16. Juni. Gerty steht am Strand, über einen Felsbrocken gelehnt, jeder Schritt, jeder Geruch, jede Stimmung dieses Tages ist kartografiert. Sie weiß, dass Bloom sie anschaut. Und sie gibt sich Mühe, dem schwarzen Troll in der Ferne alles zu zeigen, was sie hat, durch ihre Höschen, und dann illuminieren und zerfetzen hochgefeuerte Raketen den irischen Himmel.

Mit dem Dubliner Schriftsteller Hugo Hamilton, seinerseits zur Hälfte deutsch, geht es hinüber zum Martello-Turm über den Klippen, an den Forty Foot, wo die ganze Geschichte beginnt an diesem 16. Juni morgens. Und hinauf die Treppe, an Joyces Weste und Stöcken und den Vitrinen vorbei, ins Turmzimmer. Ein eisernes Bett steht da mit durchgelegener Strohmatratze, vor dem gusseisernen Ofen ein großer schwarzer Porzellan-Panther.

»Eigentlich stammt das Tier aus einer Plauderei von Stephen Dedalus«, sagt Hamilton. Irgendwann ist es der Museumswirklichkeit zugelaufen.

»Komm, leg dich ins Bett«, sagt er. »Joyce hat da geschlafen.«

Der Wärter verkauft unten Postkarten, und der Sog dieses Bettes ist unwiderstehlich. Draußen die rotzgrüne See, hier das Bett des Genies. Hugo macht das Foto, schnellschnellschnell. Dann will er selbst fotografiert werden.

Unten gibt es »Ulysses«-Kaffeetassen. Sie zu kaufen ist das Mindeste, was wir tun können, um den Frevel zu tilgen und den Sonnengott zu besänftigen.

Auf den Tassen sind die berühmten letzten Worte Mollys verewigt, der Schluss des »Ulysses«, dieses umwerfende Bekenntnis zum Leben und zur Liebe, von Molly, der untreuen, unwiderstehlichen Nudel: »… das Herz ging ihm wie verrückt und ich hab ja gesagt ja ich will Ja.«

So ist Bloom, der müde abendländische Held, der Aufklärer, der Dubliner, am Ende dieses langen Weltalltags am 16. Juni nach all seinen Reisen und Abenteuern endlich heimgekehrt nach Ithaka, ins Bett, in die Arme seiner Penelope. Er hat ihr verziehen und sie ihm. Kann es ein schöneres Glück geben in diesen zerrissenen Zeiten?

 



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