Hermann Hesse gehört 50 Jahre nach seinem Tod zu den auflagenstärksten Schriftstellern der Welt – in seiner Heimat wird er bis heute verachtet oder verklärt und fast immer missverstanden. Eine Rechtfertigung.

Hermann Hesse steht auf der Nikolausbrücke über der lustig schäumenden Nagold in Calw, dort, wo er oft stand und angelte und träumte und den Flößern zuschaute, die mit derben Flüchen ihre Schwarzwaldstämme stromabwärts trieben.

Manchmal sprang er auf und trieb mit und sprang, Kilometer weiter, durchnässt wieder an Land. Freewheelin’ Hermann.

Heute allerdings kehrt er der Nagold den steifen Bronze-Rücken zu und schaut auf einen Spritzbetonklotz mit Spielhalle, den ein Hässlichkeitsbomber der siebziger Jahre in feindlicher Absicht abgeworfen haben muss. Grund genug, sofort von der Brücke zu springen.

Eine Alte in Kittelschürze schiebt ihren Rollator vorbei.

“Hesch emol zwei Euro vierzig?”

Kramen nach Münzen. Sie beharrt.

“‘s müsset zweivierzick sei, so viel koscht die Wurscht am Markt.”

Sie schaut den Hesse an.

“‘s isch dei Schuld.”

Hesses Schuld, natürlich. Seine Schuld, dass die Wurst am Markt heute so teuer ist, seine Schuld, dass der mittelalterliche Stadtkern an diesem Sommertag überlaufen ist von Jugendlichen in schwarzen T-Shirts und Haaren in Pink, alle mit diesem Ich-bin-ich-selbst-Blick im Gesicht.

Eigentlich ist es Udo Lindenbergs Schuld, der diesen Hesse-Reigen angerichtet hat und am Abend ein Konzert gibt, aber da Udo Hesse liebt und in dessen Geiste Nachwuchsbands prämieren will, ist es wieder Hesses Schuld, dass die alle hier sind und die Cafés in den Fachwerkhäusern bevölkern. Über einem hängt das Banner “Revolution now”.

So schön kann Selbstbestimmung sein.

Hesse-Fachmann Herbert Schnierle-Lutz, weißhaarig und klein, will im Museum oben am Markt gerade zu Bedeutung und Werk des Nobelpreisträgers ausholen, da ruft Udo 200 Meter weiter unten während des Soundchecks auf der Bühne: “Ja, ich mach mein Ding.”

So kann man es also auch sagen. Das trifft es sogar ziemlich gut.

Oben im Museum die Vita des unter Kitschverdacht stehenden Dichters, unten der lustige Lärm.

Oben die Andacht, unten das Lebensgefühl.

Unten wurde er schon immer mehr geliebt. Es gibt diesen Hesse also mindestens zweimal. Beide Male wurde er durchaus missverstanden.

Suchen wir nach Hesse. Und natürlich heißt das: bei sich selbst zu suchen. “Wir sind Menschen”, schreibt er schon 1917. “Und für den Menschen gibt es nur einen natürlichen Standpunkt, nur einen natürlichen Maßstab. Es ist der des Eigensinnigen.”

Noch einmal den “Demian” lesen, dieses unheimliche Glimmen aus Jugenddrangsal und Abraxas-Mystik, aus Traumdeutungen und Wiedergeburt, wünscht man sich die nicht, für sich und die Welt? Thomas Mann erinnerte sich an die “elektrisierende Wirkung”, als der Roman erschien, und sein “dankbares Entzücken”.

Dazu diese hämmernde expressive Klarheit, mit der die ganz große Mensch-

heitsfrage (Was ist unsere Bestimmung?) hervorgetrieben wird.

Noch einmal den “Siddhartha”, die indische Weisheitsgeschichte, die Henry Miller “eine wirksamere Medizin als das Neue Testament” nannte.

Natürlich fällt dir die eigene Indienreise ein in den frühen Siebzigern, die Suche nach Spiritualität und Tanz und Verwandlung, mit dem VW-Bus durch Länder, in die Jugendliche heute reisen, um zu lernen, wie man Bomben bastelt, um den Wohlstand ihrer Herkunftsländer in die Luft zu jagen. Kann es sein, dass der Wechsel von Flower- Power in unsere kantige Angstgesellschaft der größte beschissene Temperatursturz seit der letzten Klimakatastrophe ist?

Damals schon, in den Endjahren des Schahs, die stumm marschierenden schiitischen Flagellanten in den Straßen Teherans, wie halbnackte verrückte “Samanas” in ihrem Zorn. In Kabul noch keine Taliban, nur Drop-outs aus aller Welt in Sigis Restaurant, wo es Schnitzel gab und Schwarzen Afghanen und Steve Winwoods “Dear Mr. Fantasy”. Heilige Entgrenzung!

Orangen und Haschisch in Peschawar und schließlich, auf dem Dach des Goldenen Tempels in Amritsar, der Blick in die Sterne, Siddharthas Lächeln und die Ahnung: Den Weg zur Weisheit musst du für dich allein herausfinden. Immerhin eine wirksame Impfung gegen alle Ideologien.

Dann noch einmal den “Steppenwolf”, klar, das war John Kays Rockband und ihr Song “Born to Be Wild”, mit dem Hoppers “Easy Rider”-Helden losdonnerten, doch Hesses Buch hat jene Jahre auch auf andere Weise galvanisiert: Vielleicht ist die Hesse-Leserin Ulrike Meinhof gerade dieser hypnotischen Weltverachtungsprosa von Hesse erlegen, dort, wo Harry Haller träumt von der “rasenden Lust, irgend etwas kaputt zu schlagen, etwa ein Warenhaus oder eine Kathedrale oder mich selbst”.

Und plötzlich wird klar, dass dieser nie fertige Hesse eine schmerzliche Intensität zurückbringt, einen Zungenschlag, der verzaubert und verstört, weil er so wundervoll unzynisch und klar ist, weil er immer aufs Ganze geht und sich selbst nicht schont. Und überhaupt: Was soll verkehrt sein an diesem einzigen großen Schrei nach Sinn und Liebe und Erlösung?

Blümchensprache? Dann schon eher Blumenpracht: Hesse habe nach Goethe den reichsten Wortschatz der deutschen Literatur, heißt es, und wenn in den “Knulp”-Geschichten von Rauchfahnen in blassblauen Himmeln und Zugvogelwolken die Rede ist, spürt man den Herbst auf der Haut. Seine Naturbilder sind heute noch mehr als damals eine große Beschwörung des Verlusts.

Eintönig? Hesses Romane sind Parabeln, Legenden, Abenteuereien, Komödien, “Seelenbiografien” (Hans Küng). Sie sind radikal subjektiv. Hesse ist ein Vorgänger der Beatpoeten und Aufbruchskünstler, und das in dramatischen Zeiten, am Rande des Weltendes, damals wie heute, und nun geht es nicht mehr darum, Hesse zu rechtfertigen, sondern das eigene Leben.

Sicher liest er sich nicht auf der Höhe gegenwärtiger Literaturtheorie, die ihrerseits ziemlich ratlos in der Kuppel hängt. “Es lag mir nie daran, formal Neues zu bringen.” Das hat weder Thomas Mann und André Gide noch Romain Rolland und Stefan Zweig in ihrer Verehrung für Hesse irritiert. Gerade sein altmodisches Beharren auf Seele und Sinn ist es, was heute so provozierend frisch klingt.

Wie fruchtbar das ist, dokumentiert das Suhrkamp-Buch “Hermann Hesse antwortet … auf Facebook”: “Das ganze ‘Meta-Sein’ fehlt in dieser Welt”, schreibt da die Facebook-Nutzerin Katrin W., “ich hoffe, mich genauso befreien zu können wie Harry Haller in dem Buch.” Tatsächlich sind die Themen seit Hesses Tagen – erschreckenderweise – die gleichen geblieben: der Unernst des Feuilleton-Gewerbes, die Massenkultur, die Regie des Geldes, der Verlust an Geist.

Aber ist es nicht auch verrückt, dass Hesses Aufforderung zum Eigensinn so immens populär ist? Denn gleichzeitig bewegen wir uns durch Zeiten, in denen die Konformität überall gewonnen hat, in Institutionen, in Parlamenten, in Schulen, in den Medien. Angstdruck überall. Überall geht es nur noch darum, keine Fehler zu machen.

Hesses berühmtestes Gedicht “Stufen” wird bei jedem Umzug zitiert: “Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, / Der uns beschützt und der uns hilft zu leben.” Der Weg nach innen scheint, dank zahlreicher Hesse-Sonderbände über das Glück, über das Alter, über die Liebe, so gut ausgeschildert, dass man ihn mit einer Hand am Steuer bewältigen kann. Doch offenbar kann man ihn trotzdem verfehlen.

Wie kommen wir nur dem Hesse näher, der das Chaos kennt, Dostojewskis religiöses Fiebern und Nietzsches Bürgerverachtung teilt, in einer Zeit, in der die “Seele” nur noch ein psychologisches Problem ist und ansonsten ein Anlass zur Süffisanz? Wie diesem Jungen, der mit 15 einen Revolver erwarb, um sich umzubringen, und dem Alten, der im Garten ins Feuer starrt?

Und wie kann unsere trostlose Erfolgsgesellschaft den “Steppenwolf” verstehen, der halb Mensch und halb Tier ist, einsam auf alle Fälle, fertig mit dem Leben, depressiv, mörderisch, selbstmörderisch?

Hermann Hesse hätte die Idee der Occupy-Bewegung begrüßt, sicherlich, weil sie Sand ins Getriebe zu werfen versucht, aber doch keine Zeltstadt! Nie hätte er gemeinsam mit anderen Parolen gebrüllt! Programme, sagte er, seien für Dumme und Einladungen zum Missbrauch.

Das also wäre das Bild: auf gähnend leerem Platz ein einzelnes Störenfriedzelt vor der Deutschen Bank, ein Topf mit blauer Blume neben dem Klappstuhl, dort das asketische, das alemannische Ledergesicht, gleichermaßen alt und jung, ein Lächeln im schmalen Mund, nicht sympathisch auf den ersten Blick, Nickelbrille, halb Heiliger, halb Trotzmonster, die indischen Veden und einen Revolver in Griffweite.

Hesse geht über Literatur hinaus. Seiner Rezeption durch den Betrieb wurde genau das zum Verhängnis. Schon 1958, also vier Jahre vor seinem Tod, erledigte ihn der SPIEGEL (28/1958) in der Titelgeschichte “Im Gemüsegarten” als typisch deutsches Produkt unpolitischer Weltabgewandtheit und prophezeite, dass er sich im Ausland nie durchsetzen werde. Heute ist Hesse mit geschätzten 150 Millionen verkauften Büchern der weltweit erfolgreichste deutschsprachige Literat des 20. Jahrhunderts. Jährlich finden weitere 400 000 Hesse-Bände ihre Leser. Es gibt unschönere Exporte.

Auch Gottfried Benn hielt Hesse salopp für einen mittelmäßigen “Ehe- und Innerlichkeits-Romancier”, und Robert Musil spottete den Gesamttypus weg: “Das einzig Komische ist, dass er die Schwächen eines größeren Mannes hat, als ihm zukäme.”

Unpolitisch? Er, der Pamphletist, der für Kriegsgefangene Bücher sammelte – Bücher! – und von den Münchner Räte-Dichtern und -Schwärmern in die Barrikaden-Regierung eingeladen wurde, während Benn als Tripperarzt von dorischen Welten geträumt haben mag?

Wie wird man Hesse? Zurück ins Museum von Calw: Fotos zeigen den Tolstoi-bärtigen deutsch-russischen Vater, die ernst blickende Mutter mit strengem Mittelscheitel, Tochter einer Französisch-Schweizerin, beide missionarisch in Indien unterwegs. In den Vitrinen liegen Gebetbücher, sicher, aber da steht auch der tanzende, tötende Shiva des Großvaters in seinem Flammenkranz, andere Götter und Götzen, ein explosives Gemisch. Das ist das Gegen-Calw, die Welt von Kult und Mysterium.

Hermann ist zunächst fest gefügt im pietistischen Gottvertrauen. Als die jüngste Schwester, eines seiner fünf Geschwister, gestorben ist, rennt er an ihr leeres Bett und ruft: “So Gertrudle, bischt jetzt vollends zum lieben Heiland gange?”

Mit 10 verfasst er ein erstes Märchen, mit 13 will er “Dichter werden oder gar nichts”, mit 15 reimt er mit rührender Altmeisterei von verzückten Frauenblicken.

Später, in einer Skizze zu “Kindheit des Zauberers”, bastelt er sich einen eigenen Gründungsmythos: “Ich bin geboren gegen Ende des Mittelalters, am Abend eines warmen Tages im Juli.” Das heißt auch: Zum Teufel mit der Wirklichkeit, es lebe der Traum.

Bildungshunger, Flößerabenteuer, Fernweh, Frömmigkeit, Märchenwunder, aber auch Prügel und schwarze Pädagogik, die seinen Eigensinn brechen soll, das ist die Kindheit. Schließlich schafft er das Landexamen, das ihn zum Eintritt in die Klosterschule Maulbronn berechtigt.

Da liegen sie, die Zeugnisse, dort unter dem Glassturz, sie sind eher durchschnittlich, es wimmelt vor “ggg”, also: “genügend bis gut”, darin dem Schlendrian des Sitzenbleibers Thomas Mann ähnlich, der später Hesse seinen “engsten und liebsten” Kollegen nennt.

Auf nach Maulbronn, etwas mehr als 40 Kilometer weiter durch Tannenschluchten, im Radio Syrien-Meldungen, im Nahen Osten brennt die Welt.

Hier in Maulbronn kommt sie zu sich. Eine weltabgewandtere Konzentrationsübung kann es nicht geben als dieses Zisterzienserkloster aus dem zwölften Jahrhundert. Der Blick fällt auf die Linde aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, auf die gotischen Kreuzgänge, Brunnenkapelle drinnen mit ihren drei Schalen. Schon Kepler ging hier durchs Tor, nach ihm Hölderlin und andere.

Hermann ist in der Stube Hellas untergebracht. Die Teenager lesen Schiller-Dramen mit verteilten Rollen. Seinem Großvater schreibt er imponierend auf Latein. Doch eines Vormittags nimmt er seine Französisch-Bücher und geht nicht zur nächsten Unterrichtsstunde, sondern hinaus, immer weiter, er irrt in Wald und Flur umher, bis er 23 Stunden später von einem Gendarmen aufgegriffen wird.

Für Heimo Schwilk, selbst ehemaliger Maulbronn-Schüler, Autor eine wunderbar nachdichtenden Hesse-Biografie, ist dieser Marsch ins Freie der Schlüssel zu Hesses Werk(*1).

Schwilk referiert, wie schon in den Tagen vor der Flucht Mitschüler von eifernden antibiblischen Reden berichten, von Raufereien, Selbstmordphantasien.

Das Kollegium bittet die Eltern, ihn von der Schule zu nehmen. Zur Linde-

rung seiner rasenden Kopfschmerzen wird er in ein christliches Kurhaus nach Bad Boll geschickt.

Dort läuft er wieder davon, nicht ohne sich zuvor Geld von einem Wirt zu leihen, mit dem er sich einen Revolver kauft. Er will sich umbringen, aus Liebeskummer. Er wird in die Irrenanstalt von Stetten eingeliefert, von wo er eisige Briefe an seinen Vater schickt.

Großartige Rollenprosa, an Schiller und Hölderlin geschult. “Ich gehorche nicht und werde nicht gehorchen.” Oder: “Ich möchte mir den Schädel an diesen Mauern einrennen, die mich von mir selber trennen.” Dann der finale Bruch. Unbeugsame Rebellen schreiben so, in der Nacht vor ihrer Hinrichtung: “Sehr geehrter Herr! Da Sie sich so auffällig opferwillig zeigen, darf ich Sie vielleicht um 7 M oder gleich um den Revolver bitten.” Er sagt sich los von Gott und Elternhaus und schließt: “Ich hoffe, daß die Katastrophe nimmer lang auf sich warten läßt. Wären nur Anarchisten da!”

Rums. Das ist der Urknall zur Autonomie, wie Gunnar Decker in seiner üppigen Hesse-Biografie schreibt(*2).

Das ist so frühgenial auf der Kippe, dass Helene Hegemanns umduselte Berghain-Abenteuer in “Axolotl Roadkill” geradezu nett wirken.

Die Kindheit ist zu Ende. Doch aus diesem Steinbruch aus Wildheit und Drama und Zauber schlägt er ein Leben lang Funken, nicht nur im Schülerroman “Unterm Rad”. Aber der bewegt noch heute weltweit – in Japan, einem Land mit vielen Schülerselbstmorden, ist dies sein erfolgreichstes Buch.

Immerhin ist Hermann klug genug, seine Rasereien einzustellen, er ahnt das Risiko, auf Dauer festgehalten zu werden. Er hilft als Praktikant in einer Turmuhrenfabrik, landet bei einem Buchhändler in Tübingen und verbringt die Zeit lesend im Laden.

Das ist ein neues Abenteuer: Hesse wird zum Leser, mäandert durch die Klassiker, schreibt, liest sich durch die griechische Mythologie, dichtet, beginnt eine neue Stellung in Basel, ist beeindruckt von Nietzsche, von den Romantikern, verfasst nun Rezensionen, eine der ersten gilt Novalis, der einst das romantische Programm mitformulierte: “Dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen” geben.

Rührende Ehrfurcht des Autodidakten vor Geist und Buch, er wird zeit seines Lebens rezensie-

ren, rund 3000 Literaturkritiken liegen vor, lauter begeisterte Ja-Sagereien – mit Büchern, die ihn nicht anrühren, hält er sich nicht auf. Er ist einer der Ersten, die Kafkas Genie entdecken, er empfiehlt Arno Schmidts “Leviathan” zur Veröffentlichung.

Seine Gedichte werden veröffentlicht, erste Prosa-Sachen gefallen dem jungen Rilke, der schreibt bewundernd, aber zweideutig: “Er steht am Rande der Kunst.”

Rilke war der Erste, der das erkannte. Am Rande der Kunst. Mit Überschüssen in die Klarheit und die Wahrheit, in das, was man mit 13 und dann erst wieder ab 60 als Weisheit bezeichnet. Dort am Rande wird er sich einrichten, weil ihn Literatur, wie die Seminare sie verstehen, kaltlässt. Mit einem wahrhaft chinesischen Kampfgriff verwandelt er die vermeintliche Schwäche in eine Stärke. Genau das ist der Hesse, der heute noch interessiert: der Eigensinnige.

Schließlich, 1903, nach dem Sinnenabenteuer zweier Italien-Reisen, die auch den Spuren des bewunderten heiligen Franziskus folgen, veröffentlicht er den autobiografisch grundierten “Peter Camenzind”: die mitreißende Geschichte vom Bergdörflerjungen, einem Kletterer und Wolkenbewunderer, der vom Dichterruhm träumt, den es in der großen Stadt in den Feuilletonbetrieb verschlägt, den er in seinen Eitelkeiten und Posen aus tiefstem Herzen verachtet, der die Sprache der Natur hört (und Gott in ihr) und zurückfindet zu seinem Vater ins Dorf. Ein Seelenroman, alle seine Romane werden so sein.

Auftakt zum Ruhm. Er ist angekommen. Er heiratet die neun Jahre ältere Fotografin Maria Bernoullie, die ihm seine drei Söhne gebiert, baut ein Haus am Bodensee. Ein Haus im Reformstil mit großem Garten. Hesse predigt die Selbstversorgung, er ist der erste Grüne.

Und zieht wieder los. In der Künstlerkolonie auf dem Monte Verità probiert er, der ständige Sucher, die nächste Lebensmaske. Zunächst ist er fasziniert, er klettert nackt in den Bergen der Sonne entgegen. Doch bald macht er aus dem Kampf zwischen Vegetariern und Frugivoren die unglaublich komische Satire “Doktor Knölges Ende”.

Heute ist der Monte Verità ein Tagungshotel, und in einer der Hütten flackern vor einem leeren Stuhl in Endlosschleife schwarzweiße Bilder von muskulösen bärtigen Anarchisten und umflorten Frauenblicken, eine poetische Schädelstätte der Avantgarde, das melancholisch-verwehte Gedicht vom Neuen Menschen.

Hesse bricht auf nach Hinterindien und kehrt mit der Erkenntnis zurück, dass Sonne und Meer für den Europäer nicht die Erlösung bringen können – das Foto von der Schiffspassage mit dem Maler Hans Sturzenegger, beide in weißem Anzug im Liegestuhl an Deck, muss den Anfang zu Christian Krachts Südsee-Phantasie “Imperium” enorm beflügelt haben.

Die Hesses ziehen in die Schweiz. Dann bricht der Erste Weltkrieg aus. Zunächst ist Hesse mitgerissen wie alle, wie Thomas Mann und Hugo Ball, die ihrerseits unterschiedlicher nicht sein können. Alle erwarten von diesem Vernichtungssturm, “aus dem blöden Kapitalistenfrieden herausgerissen zu werden”. Weg mit der “Freude am Läppischen”!

Allerdings müsse man, so Hesse im Aufruf “O Freunde, nicht diese Töne!”, auch ein gutes französisches Buch gegen ein schlechtes deutsches verteidigen dürfen. Ungeheuerlich, was daraufhin an ihn anbrandet, er ist der “Gesinnungslump”.

Die Ehe zerbricht. Krisenbilder aus der Zeit der Psychoanalyse. In einem wilden Selbstporträt zeigt er sich verletzt, zerrissen, zerstört. Er wird von Josef Bernhard Lang, später von C. G. Jung behandelt. Schließlich die erneute Häutung: Der Umzug ins Tessin bringt einen Schaffens- und Farbrausch, das Tessin-Zimmer ist das hellste im Hesse-Museum in Calw, ein Strohhut, ein Spazierstock in der großen Schauvitrine, Hesse ist angekommen, vorerst, hier werden die Hauptwerke entstehen, “Siddhartha”, “Der Steppenwolf”, “Narziß und Goldmund”, “Das Glasperlenspiel”.

Das Geburtshaus Hesses, heute ein Modehaus, gleich neben der Bühne, ist zum Feldlager für Lindenbergs Tross geworden. Inhaber Hermann Schaber ist 75, ein milde lächelnder Papst-Verehrer, der schon siebenmal den Jakobsweg gelaufen ist. Wie respektvoll der wetterfeste Rocker Udo Lindenberg mit ihm umgeht, vielleicht ahnt er, dass der alte fromme Schaber der Einzige hier ist, der tatsächlich auf verlorenem Posten kämpft.

Hier mischen sich nun oben und unten, Hesse-Enkel Silver mit weißem Schnauzer erinnert an den Großvater, der ein guter Boccia-Spieler war und Humor hatte und sich am liebsten mit Jungen oder Alten unterhielt. Tatsächlich lesen die ihn auch heute noch, die vor oder nach dem Leben stehen; jene, die mittendrin sind, die Geldverdiener, können weniger mit ihm anfangen. Allerdings ist Hesse begehrter Plot-Lieferant, Silver erzählt, dass die ARD Interesse an sechs Stoffen angemeldet habe.

Auf der Dachterrasse gibt Udo Lindenberg Interviews zwischen Primeln und Softdrinks. Unter Hut und Sonnenbrille qualmt eine Zigarre, die er zum Hesse-Nuscheln aus dem Mund nimmt. Lindenberg hat, wie jeder Rockstar, das Außenseitertum zum Beruf gemacht.

Er ist ja schon längst Hesse, auch er bald mit eigenem Museum. Auch er am Rande der Kunst, von der anderen Seite. Am Grenzzaun umarmen sie sich. Sie verstehen sich blind. Ergebnis ist das Buch “Mein Hermann Hesse”(*3).

Auch Udo ist ein Virtuose der Masken. Er ist das Kind mit der Panik-Gürtelschnalle, der Großwesir mit schmaler Krawatte, mal Astronaut, mal Mafioso. Die Kinder lieben ihn, als wäre er Balu, der Bär. Hesse wusste von der Dialektik des Außenseiters: Jene, die die Gesetze missachten, “sind zwar meistens verurteilt und gesteinigt worden, nachher wurden sie … als Helden und Befreier verehrt”. Lob des Eigensinns!

In einem seiner Klassiker singt Udo von einem 13-jährigen Jungen, der nach London will, doch “sein Alter war leider schneller”. Später versucht der Junge es wieder, es klappt, doch irgendwann kommt er zu der Erkenntnis, dass nicht an allem die Umwelt schuld sei, sondern dass es auch an einem selbst liege. “Und nun liest er ein Buch von Hermann Hesse / und nun macht er Meditation / doch er findet Jerry Cotton auch sehr stark / und er lernt jetzt auch noch Saxophon.”

Während Udo sich lockert bei Bionade, kämpft Volker Michels, Herausgeber der Gesamtausgabe, noch einmal in der Beletage des Betriebs. Er ärgert sich über Marcel Reich-Ranicki, der Hesse sein Leben lang bekämpft habe. Er habe gespottet, dass Goldmund im Roman eine Frau im Straßengraben schwängert, die darauf fünf Kinder gebäre. Das Problem? Michels: “Die Szene gibt es nicht.”

Michels pafft empört, und Udo nuschelt von seiner Kindheit in Gronau, in das er abgeschmissen worden sei wie Hesse in Calw, ins Doppelkornfeld, verstehst du? “Weiß auch nicht genau, was hier passiert”, sagt er, “lauter Experten rennen rum, lauter Hesse-Leute, ich hab mich einfach gefragt, wieso schreibt der über mich, wo er mich doch gar nicht kennt.”

Und er plaudert und plätschert weiter, wie der Fluss in “Siddhartha”, und dann wird er auch schon auf die Bühne gerufen, er erhebt sich lässig, gibt zwei Auto-

gramme, schlendert davon, und plötzlich ist auf der Terrasse ein ratloses Loch, und kurz darauf hat der Markt unten Luft, ein Brausen ist zu hören von mehreren tausend Fans, und die brüllen den ersten Refrain mit: “Und ich mach mein Ding.”

Lichtorgeln drehen in Rot und Grün, Drums, harte Rock-Riffs, wummernde Bässe, Udos nasales Falschgesinge, er ruft “Yeah, Hermann”, und die Kids in Calw rufen zurück: “Hermann.”

Vom Salon aus, neben dem Geburtszimmer, das mit dem Gedicht “Stufen” geschmückt ist, schauen Silver Hesse, Hesse-Erbe, und Volker Michels, Hesse-Herausgeber, fasziniert zu, und Hermann Schaber ist so aufgekratzt, als nähme er gleich seinen nächsten Jakobsweg in Angriff. Was für ein schöner Rausch, was für eine Verbrüderungsutopie hier, unter dem satten Honigmond in Calw: Der Weg zu sich selbst ist ein Rock-Song!

Wie heißt es in “Stufen”? “Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten / An keinem wie an einer Heimat hängen”. Hesses nächster Raum ist Montagnola, das Bergnest über dem Luganersee. Da ragt sie in die Abendsonne, die barocke Casa Camuzzi. Violette Schatten über den Palmen und Kastanien des Terrassengartens, und hoch unter einem Türmchen ist Klingsors Balkon.

Nahezu mittellos kommt Hesse im Mai 1919 hier an, die depressive Frau ist in einem Sanatorium, die Kinder bei Freunden verteilt, natürlich ist Hesse auch das Künstlermonster, er mietet vier Räume und ernährt sich von Kastanien, die er auf Spaziergängen findet. Wieder ein kompletter Neuanfang.

“Die heißen Tage, so lang sie waren, loderten weg wie brennende Fahnen.” Virtuose Wortkaskaden, Gitarrenmusik aus dem Tal, ein schreiender Pfau, Blüten wie Mond und Elfenbein, Hesse stürzt sich in die Arbeit, in die rauschhafte Erzählung über den Maler Klingsor. Hesse trinkt und malt und trinkt und schreibt. Und trinkt. Bacchantischer Sommer.

Eine neue Liebe, die junge Industriellentochter Ruth Wenger, die ihn in seiner Indien-Phantasie “Siddhartha” zur Figur der Kurtisane Kamala inspiriert. Alle Sinne sind geöffnet für Wunder. Er heiratet erneut. Doch während Hesse sich einschwingt in diese großartige neue Passage, ermattet die Liebe, und die Frau reicht die Scheidung ein.

Schon vorher war eine neue beglückende Freundschaft in sein Leben getreten: Hugo Ball, der Dada-Künstler und Schriftsteller und Cabaret-Voltaire-Häuptling, war mit seiner Frau Emmy Hennings in die Nähe gezogen.

Biograf Gunnar Decker nennt es die “vielleicht wichtigste Begegnung seines Lebens”. Beide verlieben sich in Hesse, und er sich in beide. Spießer sind anders. Ball, der verarmte Asket, ist auf dem Wege vom Bürgertum-Zertrümmerer zum Mönch. Er ist zum Katholizismus übergetreten und schreibt ein Buch über das byzantinische Christentum, das Hesse sympathisierend bespricht: “Diese Sprache ist sein Geheimnis.” Eines, das “beständig das Wissen um die Unnennbarkeit in sich tönen hat”.

Doch das Rumoren beginnt erneut, Zeit für eine neue Lebensstufe. Auf den Höhenflug von “Klingsors letzter Sommer” und dem Weisheitsmärchen “Siddhartha” folgt nun, 1927, die schwärzeste aller Zerrissenheitsgeschichten, die des “Steppenwolf”. Hitler arbeitet in der Festungshaft an “Mein Kampf”, sein Deckname: “Wolf”. Und Hesse steigt hinab in die Schächte der Weltzerstörung, nach der Devise: Der Mörder sitzt in uns. Auch er lässt sich “Wolf” nennen.

Harry Haller, die Hauptfigur, ist ein gescheiterter Intellektueller, dessen Weltverachtung nur von seiner Selbstverachtung übertroffen wird. Auch er ganz von heute. Er schließt einen Pakt mit sich: Er darf sich an seinem 50. Geburtstag umbringen. Eine Faust-Figur, angeödet vom kapitalistischen Betrieb, verzweifelt und räudig in seiner Einsamkeit, sitzt er im blankgewienerten Stiegenhaus seiner Zimmerwirtin, ganz Schwellenfigur, und genießt die zufriedene Bürgerlichkeit, die ihm verschlossen bleibt.

Aus dem Dilemma führt ihn das “Magische Theater”, dessen Reklameläufer ihm den Traktat des Steppenwolfs überreicht: “Nur für Verrückte”. Er lernt die androgyne Hermine kennen, die ihn in die Genüsse der Nacht einführt. Sie bringt ihm den Foxtrott bei, der Saxophonist Pablo erklärt ihm, was Musik heißt. Harry Haller lernt von Goethe und den “Unsterblichen”: das absurde Gelächter.

In den vielen Verwandlungen des Magischen Theaters haben Timothy Leary, haben die Hippies psychedelisches Material erkannt. Ein Buch wie Jazz, mit seinen eingeschobenen Steppenwolf-Gedichten, dem Traktat, den verschiedenen Erzählern mit ihren Stimmen.

Thomas Mann verglich es mit dem “Ulysses” von Joyce und schrieb, der “Steppenwolf” habe ihn “wieder gelehrt, was Lesen heißt”. Er schlug seinen Freund für den Nobelpreis vor, jedes Mal aufs Neue. Mit dem Pazifismus des “Steppenwolfs” werden die Vietnam-Kriegsverweigerer argumentieren. Das Buch wird aus mehreren Bibliotheken in den USA verbannt, weil es Drogenmissbrauch und sexuelle Perversionen verherrliche, in der DDR gilt es offiziell als “antigesellschaftlich” – und wird von der Jugend verschlungen. Ein Epochenbuch, Weltliteratur.

Hesse, gerade 50 geworden, bringt sich nicht um, stattdessen liegt sein Freund Hugo Ball mit Magenkrebs im Sterben. Bewegt nimmt Hesse Abschied und betritt mit “Narziß und Goldmund” eine neue Stufe. Diesmal aus der Moderne ins Mittelalter, eine wunderbare “éducation sentimentale”, diese Geschichte einer Freundschaft. Der Mönch Narziß bleibt im Kloster, und sein Schüler Goldmund geht in die Welt, sein Weg führt durch die Betten schöner Burgfräulein, durch Pestlandschaften, Hunger und Gefahr und fiebernde Künstlervisionen, bis er wieder im Kloster endet. Beide Wege führen zur gleichen Einsicht.

Danach zieht der Dichter in seine letzte Bleibe, ein paar hundert Meter weiter, in die Casa Rossa, mit seiner dritten Frau Ninon Dolbin. Bereits im selben Jahr beginnen die Arbeiten an seinem Opus magnum “Das Glasperlenspiel”, der Fiktion der Ordensprovinz Kastalien.

Es ist eine leicht fade Welt des Geistes, mit der sich Hesse da zwölf Jahre lang abmüht. Er dichtet sich auch gegen die Barbarei ab. In jenen Jahren finden sich die bei ihm ein, die der Terror aus Deutschland vertreibt, zunächst Thomas Mann, der während einer Auslandsreise vom Reichstagsbrand erfährt, dann kommen Brecht, Weiss und andere.

Als er 1946 den Nobelpreis erhält, erspart sich Hesse die Reise. Er ist des Trubels müde. Dichterisch ist er verstummt.

Nun verlegt er sich aufs Malen und aufs Briefeschreiben, 40 000 sind es im Laufe seines Lebens, er wird der Guru, der er nie sein wollte, er beantwortet Briefe von jungen Künstlern, von Soldaten, von verzweifelten Teenagern. Allen rät er das Gleiche: Hör auf dich selbst, nicht auf Programme. Hab Mut zum Eigensinn. Auch heute nicht der schlechteste Rat.

Im Museo Hermann Hesse in Montagnola, gleich neben der Casa Camuzzi, gibt es einen schönen stillen Garten, der von einer Schildkröte bewohnt wird. Sie heißt Knulp, nach Hesses Außenseiterfigur. “Ein anderer Name ist mir für sie nicht eingefallen”, sagte die Dörflerin, die sie vorbeibrachte. Die Schildkröte sei, so berichtete die Frau, eine von vieren gewesen, doch die anderen hätten sie ständig gebissen und gemobbt. Hier im Garten, in der Nachbarschaft zu Hesse, lebt sie auf.

Im ersten Stock steht Hesses Schreibmaschine, eine Smith Premier Typewriter No. 4 mit hochstehenden elfenbeinfarbenen Tasten. Auf ihr wird er sie getippt haben, die “Stufen” aus der Zeit des “Glasperlenspiels”. Sie erzählen Hesse in 22 Zeilen.

“Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde / Uns neuen Räumen jung entgegensenden, / Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden … / Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!”

Am Morgen des 9. August 1962 stirbt Hermann Hesse im Schlaf. Ein kleines Blutrinnsal im Mundwinkel. Auf dem Bett sollen die “Bekenntnisse” des Augustinus gelegen haben.

Reglos stehen die Zypressen in der Mittagsglut des Friedhofs von Sant’Abbondio. Hier ist er begraben, der Knulp, der Außenseiter, der Narziss, der Steppenwolf, der Weltdichter – nur einige Meter vom noch kleineren, noch unscheinbareren Grab von Hugo Ball.

Hier stört sie keiner mehr.

Doch sie, so möchte man hoffen, verstören weiter.

Erschienen am 06.08.2012 im DER SPIEGEL 32/2012