„Zu Beginn des 21.Jahrhunderts ist der Typus des Außenseiters aus Gesellschaft wie Literatur so gut wie verschwunden.“

Mit diesem Apodikt begann Botho Strauss eine Betrachtung über den Malstrom unserer Konsensgesellschaft mit ihren Konformitäten und Korrektheiten, die der Spiegel im Juli 2013 abdruckte.

Ende es 20. Jahrhunderts gab es ihn noch, ich habe ihn aufgespürt in einem Wäldchen im Norden des Landes, in der Nähe eine Mülldeponie, aussortiert wie das Zeug, das dort abgeladen wurde. Ich schrieb über ihn meine erste große Reportage für den Stern 1983.

Er hieß Horst und war ein Trippelbruder, der Beethoven und Alban Berg und Donizetti durch das Transistorgerät in seinem Basislager in einem Wäldchen hörte und den Wozzeck in seiner dumpfen Raserei besser verstand als das Premierenpublikum der Staatsopern oder deren habilitierte Dramaturgen.

„Der Mann im Müll“ also im Stern, wo ich die Affäre um die Hitlertagebücher und also die Faszination der etablierten Linken am Großen Bösen hautnah miterleben durfte, ein Aussortierter, der von den Mülldeponien im Norden lebte und das Land durch seine Deponien kannte.

Er war verwundet von einer früheren Beziehung und durch das soziale Netz gerutscht, er war scheu und hatte Kinderaugen und war die Friedlichkeit in Person. Ein Außenseiter wie Botho Strauß‘ Theaterfiguren welche waren, etwa die Lotte aus „Gross und klein“, die nicht mehr passte ins Gesellschaftsspiel, eine suchende Einsame.

Außenseiter sind ganz sicher nicht diejenigen, die sich als soche grell kostümieren und lautstark gerieren. Die Buchhandlungen überfallen, weil sie das Geistige hassen und das Edle und das Schöne. Die aggressiven Hausbesetzer mit ihren Piercings und Kriegsbemalungen, die vom staatlichen Transfergeld leben und kleineren Diebstählen und sich Antifaschisten oder Anarchisten nennen – die haben ihren sicheren und subventionierten Platz im ideologischen Spiel der Gesellschaft.

Außenseiter sind solche der Seele. Sie sind Giganten der Empfindsamkeit und bisweilen Genies, von einem Gott geschlagen, wie Hölderlin sagte, oft verfolgt und missverstanden; sie haben der Mitwelt Träume in Köpfe gesetzt und ihre Seelen berührt; sie haben Menschen verwandelt.

Botho Strauß spricht von solchen Außenseitern. Von Einsamen und Abgekehrten, von solchen, die  in der jeweiligen Gegenwart oft übersehen werden.

Die Konstellation Botho Strauß und Spiegel, das garantierte schon von jeher den größten Wumms!, spätestens seit dem berüchtigten Essay „Anschwellender Bocksgesang“ mit seinen melancholischen Meditationen über Entwurzelung und Nation nach der sogenannten Wende, die in Wahrheit eine Revolution war und die eine neue, eine ganz neue Rechte in Deutschland intellektuell glänzend auf die Schienen setzte.

Diesmal druckte der Spiegel den Strauss-Essay, offenbar ohne zu begreifen, was er sich da eingehandelt hatte an Dynamit, das der Autor auch an den Fundamenten jenes Presseorgans angebracht hatte, das ihn druckte.

Denn tatsächlich ist das Magazin, das sich in seiner Regierungshörigkeit längst neu erfunden hatte im 21.Jahrhundert, ja nicht unschuldig an einer linken Zustimmungskultur, die ihre Dummheit in dem Kampfschrei „Wir sind mehr“ so triumphierend in die Welt hinausposaunt.

Warum dumm? Weil es ein Triumph der Selbstaufgabe jeder Nachdenklichkeit ist.

Ein Triumph, der von Zustimmungsstrategen wie Herbert Grönemeyer mit überschnappender Stimme durchaus in den Dunst des Sportpalasts führte. Der Spiegel ist geradezu federführend geworden in der Austilgung des von Strauss beschworenen Außenseitertums.

Das war nicht immer so. Weshalb Sie, verehrter Leser, in dem vorliegenden Band Außenseiter finden werden, die ich noch im Spiegel feiern konnte, denn Außenseiterfiguren, Künstler auf der Kippe, Gottsucher, Wahnsinnige, Versager, Verrückte  haben meine Neugier stets mehr angeregt als die Siegertypen.

Außenseiter, also. Natürlich ist der „Wozzeck“-Dichter Büchner, das früh erloschene Genie, eine klassische Außenseiterfigur, Büchner, der mit seinem verrückten Lenz durchs Hochgebirge marschiert und ihn sinnieren lässt: “Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte.”

Außenseiter auch Hölderlin, über den ich für Tichys Einblick und die Weltwoche schrieb. In seiner Lebensbahn erkannte ich eine merkwürdige Verwandtschaft mit Syd Barett, dem mit LSD-Überdosen im Summer of Love 1967 in den Irrsinn ver-rückten Band-Gründer von Pink Floyd, ein Gottsucher auch er, „a prophet, a seer of visions: Shine on, you crazy diamond!“

Und wo wir schon von Klassikern reden: Außenseiter auch Heinrich von Kleist, „dem auf Erden nicht zu helfen war“. Seine rasende „Penthesiliea“ konnte er Goethe nur mit einem Stilbruch widmen, nämlich „auf den Knien meines Herzens“. Der Alte war maßlos verstört. Das Außenseiter-Duo Hans Syberberg und Edith Clever hatten die Amazone in einem Film-Monolog neu entdeckt.

Außenseiter und zwar nicht nur poetologisch, sondern auch mentalitätsgeschichtlich war ganz sicher der von der dumpfdeutschen Zensur ins Exil getriebene Heinrich Heine, der frivole „Henri“ für die französischen Nachbarn und „Harry“ für die deutschen Journalisten seither, ein Star seiner Zeit und aller Zeiten, der die höchsten Zeilenhonorare einstrich, um sie kunstvoll mit seinen Amouren zu verpulvern. Ein besseres Vorbild kann es für einen jungen Journalisten gar nicht geben.

Auf die amerikanische Ausnahme-Erscheinung Harold Brodkey hatte mich der damalige Chef des Rowohlt-Verlages Michael Naumann hingewiesen, mit einer Kurzgeschichte, in der Brodkey einen Geschlechtsakt auf rund 30 Seiten beschrieb, und nirgends war dieses Wort „Akt“ angebrachter: ein theatralischer Kampf um Liebe und Vertrauen tanzte da über die Seiten, von Rivalität und Verlustangst und Neid und Erregung und schließlich erschöpfter Erfüllung, und diese Welten wurden hauptsächlich in der Fantasie durchmessen.

Harold, der jüdische Waisenjunge, ein Star der 50er und mit Hemingway verglichen, plötzlich verstummt, hochfahrend und verzweifelt am großen amerikanischen Roman arbeitend, mit jedem Recht der Welt eitel und so verletzbar – er wurde zum Freund und feierte meine Hochzeit mit.

Und noch einen eröffnete mir „Mike“ Naumann: den Kultautor Cormac McCarthy, bevor er mit „All the pretty horses“ Weltruhm erlangte und als Drehbuchautor für Hollywood („No country for old men“) interessant wurde – leider gibt es keine Verleger mehr wie Mike Naumann mit dieser Leidenschaft für Autoren, die übersprang.

James Joyce? Wenn es heute darum gehen muss, wie es Botho Strauss fordert, „neue, unzulängliche Gärten (zu) bauen“, die sich dem „schrankenlos inkludierenden System“ entziehen, also diesem ständig neu belebten Getrampel einer Bundesgartenschau, dann ist es wohl der Ire aus Dublin.

Er verkörpert geradezu den Strauss-Aufruf: „Zurück zur Avantgarde“. Ich habe den 100. „Bloomsday“ in Dublin mitgefeiert, in der einzigen Stadt in der Welt, die den Tag aus einem Roman, den 16.Juni, zum Anlass für ein uferloses Besäufnis nimmt.

In Botho Strauß‘ strategischen Außenseiter-Überlegungen spielt der Rechte, ja, der Reaktionär, eine erhebliche Rolle, denn er wird von unserem linken juste milieu, das sich seiner Schwarmrichtung offenbar ständig selber vergewissern muss („Wir sind mehr“), sehr richtig als Bedrohung erkannt. Also als Außenseiter und damit mit bestem Gewissen abserviert.

Das Risiko, nicht nur als Außenseiter, sondern gar als Reaktionär zu gelten und sich darin zu behaupten, hat sich für Clint Eastwood lebensgeschichtlich und künstlerisch überraschenderweise ausgezahlt. Gegen das linke Hollywood-Establishment hat er sich Achtung und jede Menge Oscars erspielt.

„Widerstand ist machbar, Herr Nachbar“, reimten die Hausbesetzertypen und staatlich alimentierten Wohlstandsanarchisten im Gefolge der Hippie-Bewegung, denen da, als „Dirty Harry“, plötzlich ein Kerl mit einer Magnum in den Weg trat. Einer, der völlig unabhängig von den Strömungen der Zeit bei sich war. Und dem Pack, das in Filmen wie „Magnum“ mit Morden die Autoritäten in San Francisco abschaffen wollte (und in Western wie „Unforgiven“ unschuldige Siedler tyrannisierte), sein sehr knappes „No“ entgegensetzte.

„Der Reaktionär ist dem Wortsinn nach jemand, der reagiert – während andere noch stumm und willfährig bleiben.“ (Botho Strauß)

Es hieß, Clint Eastwood gebe keine Interviews – dass ich es dennoch schaffte, erfüllte mich mit Reporter-Stolz, ein Stück weit, wie es der Bundespräsident sagen würde.

Meine Sympathie für den Typus des Reaktionärs, wie Strauss ihn versteht, nämlich als Avantgardisten in die Vergangenheit, als Alarmanlage für eingeschlafene Geister, hat mich Freundschaften gekostet. Die halten im Zweifel eine Bundespräsidentenrede zur Demokratie für „mutig“. Das hindert mich nicht, ihrer in zwei Reportagen aus der Wendezeit zu gedenken.

Die eine betrifft die Geschichte eines kleinen Theaters an der pommerschen Ostsee, dem in Anklam, an dem sich die geheimnisvolle Verpuffung der östlichen Diktatur erzählen ließ, die sich zu gleichen Teilen als Tragödie und als Komödie abspielte.

Die andere Reportage erzählt von dem jüdischen Pianisten Anatolij Urgorsky, der 1990 vor dem zunehmenden Antisemitismus in St.Petersburg nach Berlin geflüchtet war und dort das Glück hatte, im prächtigen Haushalt meiner einstigen Freundin Irene Dische und ihrer turbulenten Familie zu landen, der vor allem eines bot: den Konzertflügel von Irene, die selber eine passable Pianistin ist.

Ihr Mann übrigens, der Anwalt Nicolas Becker, verteidigte den schrecklichen Biedermann Erich Honecker vor Gericht, die Symbolfigur eines Staates mithin, der den Konsens befahl und Außenseiter, ja, Gebildete, Überlegene, Nachdenkliche, Zögernde ohne alle Skrupel aussortierte und einkerkern ließ.

Eines Staates, dessen Ideologie der schalgeplapperte Antifaschismus war und in dem jeder Abweichler als Nazi diffamiert wurde.

Mir ist unverständlich, wie gering die Sensibilität heutzutage ausgebildet ist, dass man die Wiederholungen dieser einfältigen Sortierung nicht als schrille Irritation empfindet, die sämtliche Alarmsignale auslösen müsste.

Es lebe der Außenseiter!