Uwe Tellkamp ist einer der bedeutendsten Schriftsteller Deutschlands unserer Zeit. Hier spricht er über seine Kindheit in Dresden und die Genialität des Italo-Westerns. Ihn beunruhigt, wie eine Art Zombie-DDR in die Gegenwart zurückschleicht

 

it seinem neuen Roman «Der Schlaf in den Uhren» hat der Dresdner Schriftsteller Uwe Tellkamp für ein seltenes Spektakel gesorgt: Er hat den Rezensenten die Gelegenheit verschafft, eine offenbar lang angestaute Wut loszuwerden. Fast alle stürzen sich derzeit auf diesen Einzelgänger, um ihn zu vermöbeln – ihn, der einst für seinen Bildungsroman und Millionenseller «Der Turm» gefeiert und danach, wegen kritischer Äusserungen zur Flüchtlingspolitik, in den Orkus sozialer Ächtung gestürzt wurde. Sein neuer Roman: Fantasy, Satire und Mythologie in einem, ein vielschichtiges Monsterstück über die deutsche Geschichte.

Tellkamp empfängt uns im mittlerweile berühmten Garten der Buchhandlung von Susanne Dagen in Dresden Loschwitz am Fuss des Weissen Hirsch, in diesem altfränkisch anmutenden, mit Weinlaub überwachsenen Innenhof, und er hat Brötchen zum Frühstück mitgebracht. Er ist bestens gelaunt. Schwarzhaarig, sorgfältig gescheitelt, orangefarbene Hose wie ein Bhagwan-Anhänger aus den 80er Jahren. «Allein gegen alle», sagt er, das erinnere ihn an die Django-Filme seiner Kindheit. Wir wollen ergründen, was ihn geformt hat, was seinen Widerstand beflügelt, wie er Deutschland in diesen Krisen- und Kriegszeiten sieht und was seine Django-Momente waren.

Weltwoche: Herr Tellkamp, wir haben beim Lesen Ihres neuen Romans eine gemeinsame Jugendliebe entdeckt: die zum Italowestern. Ihr Romanheld Fabian erinnert sich über Seiten hinweg an ikonografische Szenen: das Drehkreuz zum Bewässern der kargen Landschaft in Sergio Leones erstem «Dollar»-Film, das Quietschen des Windspiels in der grossartigen Eröffnungssequenz von «Spiel mir das Lied vom Tod», Lee Van Cleefs, wie Sie schreiben, «Porzellanblick» und natürlich Charles Bronsons grosser Dialog in «Spiel mir das Lied vom Tod» über die Staubmäntel. «Ich habe drei von diesen Mänteln gesehen», sagt Harmonica . . .

Uwe Tellkamp: . . . «und in diesen Mänteln steckten drei Männer» . . .

Weltwoche: . . . «und in diesen Männern steckten drei Kugeln.» (Allgemeines Gelächter) Erstaunlich, dass die alle gezeigt werden konnten im Osten.

Tellkamp: Die waren wohl ideologisch einwandfrei, im Übrigen hatten wir gute Beziehungen zur KP Italiens. In den Italowestern kämpften Django und Co. ja auf der Seite der Entrechteten.

Weltwoche: Bei den linken 68ern waren die Italowestern stark angesagt. Eine überdrehte Form brachte Louis Malle mit «Viva Maria!». Brigitte Bardot und Jeanne Moreau, mit Dynamitstangen, Spitzenwäsche und revolutionärem Bewusstsein, unschlagbar. Aber warum war Django, der Rächer mit dem Maschinengewehr im Sarg, für Uwe Tellkamp im Osten so wichtig?

Tellkamp: Das ist die Kindheit. Das ist der kleine Junge, der in den damals echten Parklichtspielen in der ersten Reihe sitzt auf Holz, hoch zur Leinwand starrt und mit allem gemeint ist. Das ist der Blick, Cinemascope, wo Lee Van Cleef auftaucht.

Weltwoche: Mit seinen Porzellanaugen.

Tellkamp: Das ist zwölf Meter in der Breite und vier Meter hoch, ich weiss nicht, wie viel grösser das ist als das Leben. Und der Junge stemmt sich hinter das Drehkreuz, minutenlang kein Gespräch, nur Musik.

Weltwoche: Sie sprechen von Sergio Leones «Für eine Handvoll Dollar». Eine ähnliche Szene an der Drehmühle gibt’s auch bei «Conan der Barbar», plötzlich ist der Jüngling dann Schwarzenegger, ein Muskelberg.

Tellkamp: Richtig, Drehbuch von John Milius.

Weltwoche: Andere Kultfilme, die Sie geprägt haben?

Tellkamp: Viele, später Melvilles «Le Samouraï» mit Alain Delon, wie die einbrechen, diese zwei sprachlosen Typen, die sind ja finsterste Stasi. Es gab genug Bezüge. Und der Western, da ging es um Einzelne, die sich heldenhaft zur Wehr setzen. Tiefster Kindheitseindruck. Auch die heruntergekommenen öden Geisterstädte kannten wir ja, nur dass bei uns da noch ein Volkseigener Betrieb, genannt VEB, herumstand. Die Hoffnung war Clint Eastwood. Allerdings kam der «Pale Rider» nie. Es kam nur der Stasi-Mann.

Weltwoche: Was noch? Bücher?

Tellkamp: Die kamen erst später. Wir waren ja eine komplett analoge Gesellschaft. Gespräche am Tisch. Jeden Abend Gäste. Mein Vater war Kreisgutachter, was heute der Amtsarzt ist. Er kümmerte sich um Arbeitsunfälle, kam tief in die Betriebe rein. Da sass dann ein Uhrmacher da oder ein Maurer oder ein Professor für theoretische Physik. Und natürlich die Familie, alle wohnten ja innerhalb von zwei Strassen.

Weltwoche: Das wird ja im «Turm» wunderbar geschildert. Wichtig war wohl auch dieses bildungsgesättigte und kulturwache Milieu. Was war die erste prägende Lektüre?

«Ich habe in einem Lügenstaat gelebt. Die freie Welt habe ich mir anders vorgestellt.»

Tellkamp: Karl May. (Lächelnd) Und die Cartoon-Serie «Die Digedags» von Hannes Hegen, einfach grossartig.

Weltwoche: Die was?

Tellkamp: «Die Digedags», drei Kobolde, die Abenteuer erleben, auch im Wilden Westen. Zum Thema «Was bleibt» würde ich sagen: Uwe Johnson, Wolfgang Hilbig und «Die Digedags», das vermutlich genialste Produkt der DDR. Da ist alles drin. Vom Bettler bis zum Sultan. Tausendundeine Nacht. Grotesker Humor. Da gibt’s einen Kaiser am Hof von Konstantinopel mit einem Schmeichlerchor samt vergoldetem Krokodil. Es ist grossartig. Wo ich mich gefragt habe, wie die Redaktoren dort durchgekommen sind, ohne den Kopf abgeschlagen zu kriegen.

Weltwoche: Das konnte passieren damals. Erkennen Sie solche Zeiten wieder?

Tellkamp: Höchstens in unserem hysterischen Kulturbetrieb. Und auch da muss ich sagen: Ich werde zwar angegriffen, aber ich bin überhaupt kein Opfer. Alles, was ich mache, und alles, was ich zurückbekomme, ist verdient. Man kann ja wohl nicht erwarten, dass man auch noch Applaus bekommt, wenn man sagt: «Sorry, Freunde, die drei Legoklötzchen, auf denen euer Weltbild aufgebaut ist, die nehme ich euch mal weg, weil die Wirklichkeit etwas anders aussieht.» Wir kommen sicher noch darauf zurück. Allerdings wird es langsam verrückt, wenn die Mehrheit der Deutschen glaubt, man müsse heutzutage aufpassen, was man sagt.

Weltwoche: Das geht ja über den Kulturbetrieb hinaus. Beispiel Transgenderei. Ein Regierungsbeauftragter sagt, man könne das biologische Geschlecht rein äusserlich nicht bestimmen.

Tellkamp: Etwas anderes ist die Frage, ob der Mensch, der da entsteht, sich in seinem biologischen Körper wohl fühlt oder nicht. Aber hier halten geradezu antiwissenschaftliche Ideologien Einzug.

Weltwoche: Das Gute ist: Diese Theorien sind so abstrus, dass sie sich selber widerlegen. Erreichen wir bald den Kipppunkt dieser woken Irrlehren?

Tellkamp: Davon bin ich überzeugt.

Weltwoche: Zurück zu Ihrer Biografie. Was muss man wissen, damit man versteht, wer Sie heute sind?

Tellkamp: Na ja, da ist eine Stadt am Fluss in tiefer Provinz. Sie, Herr Köppel, haben heute früh in Ihrem «daily» gesagt: «Es gibt die EU als Ersatzvaterland für die alte Bundesrepublik. Und für den Osten gab es die Sowjetunion.» Und da wollte ich gerne einhaken. Das trifft zu, aber es gibt einen entscheidenden Unterschied. Nämlich dieses Europa, nach meiner Beobachtung, ist angenommen worden als Ersatzvaterland. Und die Sowjetunion eben nicht. Da hatten wir ein zweites Ersatzvaterland: die Kultur. Unser Schattenvaterland. Goethe. Klassische Musik.

Weltwoche: Und diese Schattenheimat deutscher Kultur hat man in der DDR, anders als im Westen, nicht avantgardistisch entrümpelt, sondern bewahrt, gepflegt.

Tellkamp: Genau. Weil nichts anderes da war. Und daneben die Prägung in der Stadt am Fluss, Dresden. Für uns Kinder ein riesiges Revier bis raus nach Pillnitz. Sommerferien. Die Eltern auf Arbeit. Wir, kurze Wege, verabredet, dann durch die Gärten. Wir wussten genau: Wo gibt’s Esskastanien? Wo gibt’s Birnen? Wo sind die Kirschen reif? Und andere gehen einkaufen. Wir wussten, wo die Bäume stehen.

Weltwoche: Auf einen Schweizer wirken diese Dresdner Elblandschaften wie ein Freiluftmuseum deutscher Romantik. Dazu muss man geradezu klassische Literatur und klassische Musik hören. Ist dieses bildungsbürgerliche Erbe von den sozialistischen DDR-Eliten gefördert oder bekämpft worden?

Tellkamp: Interessanterweise haben sich die Parteioberen davon nicht verabschiedet, sondern es gab Phasen, in denen dieses Erbe sogar gefördert wurde.

Weltwoche: Wo kamen die Bücher her?

Tellkamp: Da gab’s die klassischen Antiquariate, so die Bücher hinter der ersten Reihe, der alte Dienemann zum Beispiel, der hat einen geprüft, man musste sich richtiggehend qualifizieren, und der konnte sagen: «Pass mal auf, junger Mann. Da wird nichts draus. Kriegst du nicht, das Buch.»

Weltwoche: Was haben Sie nach Karl May gelesen?

«Die Sachsen wollen einfach ihre Identität bewahren. Das ist alles.»

Tellkamp: Den ganzen Kanon, Thomas Mann, Proust und so weiter, ich bin da hingebracht worden, auch von den Eltern.

Weltwoche: Schweizer Literatur, Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt?

Tellkamp: Selbstverständlich.

Weltwoche: Sind Sie eher der Frisch- oder der Dürrenmatt-Typ?

Tellkamp: Dürrenmatt, aber die ersten Tagebücher von Frisch sind grossartig.

Weltwoche: Sie haben Medizin studiert und in der Unfallchirurgie gearbeitet, warum nicht Germanistik?

Tellkamp: Man hätte das schon machen können, aber da hätte ich ein ordentlich positives Bewusstsein gegenüber dem sozialistischen Staat zeigen müssen. Das hatte ich nicht. Aber die mindestens so wichtige Frage war: Wohin hätte ein Germanistikstudium führen sollen? Ich habe ja mein Studium nicht mit der Einstellung begonnen, die DDR werde bald untergehen. Von 1989 wusste ich nichts, das wusste niemand.

Weltwoche: Und dann, eines Tages, haben Sie angefangen zu schreiben, plötzlich.

Tellkamp: Ja, das gibt’s. Da habe ich meinem Onkel was zum Geburtstag geschrieben. Und der hat es aufgehoben. Leider. Ernsthafter habe ich mit dem Schreiben bei der Armee angefangen, weil der Bruch so prägend war.

Weltwoche: Welcher Bruch?

Tellkamp: Na von hier, vom Bildungsbürgertum, und plötzlich sitzt du in einem Panzer oder in der Braunkohle drin. Die späten Tage der DDR. Wir wurden von den Arbeitsplätzen geholt und zu Soldaten gemacht und dann manchmal wieder dort eingesetzt, wo man einen für die Wirtschaft brauchen konnte, diesmal aber per Befehlszustand. An einer kaputten Maschine kann der Arbeiter streiken oder krankfeiern, aber als Soldat kannst du ihm befehlen.

Weltwoche: Haben wir Sie richtig verstanden: Die DDR-Armee war eigentlich gar keine militärische Armee mehr, sondern eine Wirtschaftsarmee, die die Leute gezwungen hat, in Uniform in der maroden Industrie zu arbeiten?

Tellkamp: Genau so. Und wir sassen dort an den Maschinen.

Weltwoche: Ein Land kaserniert sich selbst.

Tellkamp: Und ganz absurd: Die Nationale Volksarmee der DDR war im Grunde der Wehrmacht nachgebildet. Wehrmachtsoffiziere haben die sozialistische Armee aufgebaut, zum Teil mit alten Uniformbeständen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, unglaublich. Es gab in der DDR ausserdem eine Kontinuität des vergifteten Nazi-Vokabulars, zum Beispiel: «Sonderlösung» oder «Sonderbehandlung». Das war die Wahrheit hinter der Fassade: Eigentlich ging alles weiter wie vorher. Furchtbar. Eine Katastrophe.

Weltwoche: Hat man da schon gemerkt, das kommt nicht gut mit dieser DDR, das wird alles zusammenbrechen?

Tellkamp: Das Bewusstsein war irgendwann da, bei uns, aber auch bei den Vorgesetzten.

Weltwoche: Absurdes Theater.

«Ich bin eher der Dürrenmatt-Typ, aber die ersten Tagebücher von Frisch sind grossartig.»

Tellkamp: Die späte DDR war eine Kulissenlandschaft, an die keiner mehr glaubte. Selbst die Kulissenschieber glaubten nicht mehr dran.

Weltwoche: Ein Staat der Lüge, die von allen Beteiligten durchschaut wird.

Tellkamp: Und trotzdem waren wir alle überrascht, wie leicht dann doch alles zusammenstürzte. Selbst das Nichts, das noch da war, wurde irgendwie überschätzt.

Weltwoche: Die DDR ist übrigens ein Grund dafür, warum man nicht an staatliche Klimapolitik glauben sollte. Wenn der Staat wie in der DDR alles an sich reisst, funktioniert nichts mehr. Baut der Staat Autos, sehen sie aus wie Trabis. Baut er Computer, sind sie so gross wie Turnhallen. Will der Staat das Klima retten . . .

Tellkamp: . . . dann gnade Gott dem Klima!

Weltwoche: Wie haben Sie die Wende von 1989 erlebt, den Zusammenbruch der DDR?

Tellkamp: Im November 1989 wurde es plötzlich ernst. Scharfe Munition wurde ausgeteilt. Wir hatten Ausgangssperren und Telefonverbot. Und die Einzigen, die noch Informationen brachten, waren die Köche, weil die natürlich aus der Kaserne in den Ort mussten, um Nachschub zu kriegen. Dann hörte ich von meinen Eltern, dass mein jüngerer Bruder unter den Demonstranten am Dresdner Hauptbahnhof war. Da hiess es für unsre Einheit: «Ihr geht raus.» Und ich hab gesagt: «Ich mach nicht mit.» Dann sagte dieser Politoffizier, so hiess das, neben dem Kompaniechef: «Okay. Sie machen also nicht mit. Das ist also eine Befehlsverweigerung.» Sage ich: «Ja.» Sagt er: «Gut. Dann gibt’s hier Kasernenhaft, und ich muss Sie degradieren. Ich muss Sie degradieren.» Ich weiss nicht, ob der überzeugt war. Weil er sagte: «Ich muss.»

Weltwoche: Befehlsverweigerung im Kriegszustand bedeutet: Standrecht. Da braucht es Mut, nein zu sagen. Allein gegen alle. Ein echter Django-Moment.

Tellkamp: Das war mir nicht so richtig bewusst damals, aber im schlimmsten Fall hätten die mich wohl an die Wand gestellt. Mir wurde aber zunächst nur mein Studienplatz für Medizin gestrichen, aber eine freundliche Sekretärin im Rektoratsbüro sagte, die Streichung sei nie angekommen, nach ihren Unterlagen sei ich noch immatrikuliert. Also hab ich Medizin studiert. Hab dann in der Unfallchirurgie gearbeitet.

Weltwoche: Und nebenher geschrieben?

Tellkamp: Meinen ersten Roman, den ich rumgeschickt habe, und der Schweizer Verleger Egon Ammann hatte sich gemeldet und dann Elmar Faber, ehemals Aufbau-Verlag. Der hat erstens meiner Frau dauernd in den Ausschnitt geguckt und zweitens gesagt: «Sie gebrauchen das Semikolon inflationär.» Dann zog er ein Buch aus dem Regal. Sagte: «Das ist Gustav Regler. Kommunist. Guter Autor. Sie gucken jetzt auf dieser Seite an, wie Gustav Regler das Semikolon gebraucht. In einer Stunde komme ich wieder.» Nach einer Stunde kam er wieder und sagte: «Ja. Also das Buch ist mit allen Fehlern behaftet, die es nur gibt. Typisches Anfängerding. Ich mache aber nichts dran, und ich mache es.»

Weltwoche: Alte Schule.

Tellkamp: Genau. Ein bürgerlicher Marxist; er wurde zu einem wichtigen Mentor, er lebt nicht mehr. Sein Sohn führt den Verlag weiter.

Weltwoche: Wann war der Durchbruch, wann sagten Sie sich: Jetzt lebe ich vom Schreiben?

Tellkamp: Das war 2004, als ich den Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt gewonnen hatte. Mit einer Passage, die im neuen Roman steht, dem «Schlaf in den Uhren» . . .

Weltwoche: . . . also dem angeblichen Machwerk, das jetzt verrissen wird . . .

Tellkamp: Genau . . . Ich hatte mir damals nichts erwartet in Klagenfurt, aber ich bin da hin, ich kannte da keinen. Richard David Precht kam in einem absurden weissen Anzug wie ein Rettungssanitäter. Der las aus «Lenin kam nur bis Lüdenscheid», was mir gefallen hat. Dann Arno Geiger und Juli Zeh, deren Gesicht ich bis heute nie vergesse, weil wir die letzten Nummern zugelost bekamen.

Weltwoche: Danach ging es Schlag auf Schlag. Sie schrieben Ihren grossen Wenderoman «Der Turm», räumten die bedeutendsten deutschen Preise ab und waren Everybody’s Darling, ein neuer Superstar der deutschen Literatur. Wie lange haben Sie am «Turm» geschrieben?

«Und dann der Erfolg, und ich baue zu Hause noch eine Ikea-Küche zusammen, ganz schön absurd.»

Tellkamp: Eigentlich nur drei Jahre. Das hatte vielleicht auch damit zu tun, dass wir zwischenzeitlich nach Karlsruhe umgezogen waren, weil meine Frau dort eine neue Stelle antrat, sie war die Verdienerin, dort ist mein Sohn geboren. Er hat schlecht geschlafen, da bin ich nachts, das durfte ich, mit ihm in den Zoo, wo die Seelöwen gebrüllt haben. Und ich habe am «Turm» gearbeitet, völlig ablenkungsfrei, und Dresden kam gerade dort für mich richtig aus mir raus. Und dann der Erfolg, und ich baue zu Hause noch eine Ikea-Küche zusammen, das war alles ganz schön absurd. Vielleicht aber auch gut, weil dieses Nebeneinander von Ruhm und Ikea-Küche erdet, Abstand schafft. So wie es in der Bild-Zeitung heisst: Du fährst mit uns im Fahrstuhl nach oben und anschliessend auch wieder runter.

Weltwoche: Plötzlich wurden Sie auf die gleiche Stufe gestellt wie Martin Walser, Thomas Mann, auf den Olymp der deutschen Literatur.

Tellkamp: Na ja. Mich hat das immer gewundert. Daniel Kehlmanns Roman «Die Vermessung der Welt» zum Beispiel. Ich konnte eher nachvollziehen, dass dieses Buch einen derartigen Erfolg hatte. Es ist besser lesbar, es hat weniger Figuren, ist schmaler. Aber alles wird wohl seine Gründe haben. «Der Turm» ist anspruchsvoll, komplex, kein Bestseller im Grunde.

Weltwoche: Welchen Nerv haben Sie getroffen?

Tellkamp: Schwer zu sagen. Man kann dieses Buch bewohnen. Man kommt hinein und ist dann Teil in diesem Fluss. Man hat ein Zimmer drin. Vielleicht ist dies das tiefste Geheimnis von solchen Büchern, dass man ein Zimmer darin kriegt. Und das zweite ist vielleicht auch: Es gab damals eine gewisse Sehnsucht nach dieser konservierten bildungsbürgerlichen Welt. Ich bekam Briefe, zum Beispiel von Lesern aus Hamburg. Sie lasen das Buch als Beschreibung ihrer Kindheit in den fünfziger Jahren.

Weltwoche: «Der Turm» ragte mit seinem Anspruch, mit seinem Stoff, mit seiner schieren Kraft der Behauptung aus der damals eher flachbrüstigen deutschen Popliteratur heraus, buchstäblich ein Turm in der Landschaft.

Tellkamp: Was mich überraschte: Viele Leser schrieben mir, nicht klassisches Bildungsbürgertum, sondern sogenannt einfache Leute: «Wir spüren hier was. Du gehörst nicht zu uns. Du bist kein Arbeiter. Aber du verachtest uns nicht. Du hast so genau hingeschaut, wie du kannst.»

Weltwoche: Und dann plötzlich: Sie äussern sich kritisch zur Flüchtlingspolitik von Kanzlerin Merkel, das Politische bricht in Ihre Welt ein wie in den Stollen, in dem Fabian arbeitet, der Romanerzähler Ihres neuen Buchs.

Tellkamp: Nun ja, auch «Der Turm» war politisch, im weitesten Sinn. Es geht um den Staat, es geht um die Macht und um die Lüge, um Verrat. Ich habe mich doch nicht geändert. Aber beim «Turm» werden diese Themen im Rahmen einer sozusagen anerkannten Opposition gegen das DDR-Unrechtsregime abgehandelt, dann aber merke ich, dass diese Diskussionen in der Bundesrepublik auf andere Art zurückkommen. Es begann mit Fukushima, dem Reaktorunglück, bei dem niemand an der Strahlung starb. Das aber durfte man nicht sagen, weil die Politik den Atomausstieg beschlossen hatte. Es war wie in einer Glaubenskongregation. Es folgte die Flüchtlingskrise. Die Regierung macht die Grenzen auf, und mir fällt auf: Es gibt eine Verschiebung der Parameter in den Diskussionen, wo es nicht mehr um richtig oder falsch geht, sondern nur noch um gut oder böse. Mir war, als ob der abgewirtschaftete Trümmerstaat DDR als eine Art Zombie in die Gegenwart zurückschleicht. Der Turm kommt zurück, und ich lebe wieder drin.

Weltwoche: Sie haben dann öffentlich markant Stellung bezogen, insbesondere gegen Frau Merkels Flüchtlingspolitik. Es muss Ihnen bewusst gewesen sein, dass Sie damit das ganze Kulturestablishment Deutschlands gegen sich, den gefeierten Autor, aufbringen. War das Leichtsinn? Fühlten Sie sich unverwundbar? Was hat Sie da geritten?

Tellkamp: Da sind wir dann wohl wieder beim Western und wie ein kleiner Junge gross wird und bei Django, der das macht, was er für richtig und wahrhaftig hält. Der kritische Punkt kam 2017, als die Dresdner Buchhändlerin Susanne Dagen mit der Charta 2017 gegen die Stigmatisierung sogenannter rechter Verlage auf der Buchmesse protestiert hat.

Weltwoche: Wilde Szenen. Der Messechef persönlich ist mit einem Pulk von Demonstranten «gegen rechts» marschiert, hin zu den Ständen der betreffenden Verlage, die in der Folge demoliert wurden.

Tellkamp: Und ich hatte Dagens Protest unterschrieben, und das sorgte für die ersten Irritationen. Ab da galt ich dann als «umstritten».

Weltwoche: Und dann kam es zum Showdown im Dresdner Kulturpalast 2018 gegen den Schriftstellerkollegen Durs Grünbein.

Tellkamp: Mir war klar, was passieren würde. Sie kriegen ja die Verbrennungszonen schon vorher mit. Ich wusste genau, worauf ich mich einlasse. Ich mag ein Kauz sein, aber nicht naiv. Und ich hab mich penibel vorbereitet. Wie ist die Asylrechtsprechung? Wie ist die Genfer Flüchtlingskonvention? Und diese Zahl, um die sich dann alles drehte, diese Zahl 95, die hatte ich dank einem Kontakt zu jemandem aus dem Innenministerium. Ich darf bloss den Namen nicht erwähnen.

Weltwoche: Sie sagten: 95 Prozent der Flüchtlinge kommen aus wirtschaftlichen Gründen. Eigentlich waren es doch knapp 100 Prozent, denn die Anerkennungsquote nach Artikel 16, Absatz 2, die lag 2017 bei 0,7 Prozent. Ausserdem ist Deutschland von sicheren Drittstaaten umgeben, gemäss Dubliner Abkommen sind also Migranten, die an der deutschen Grenze sind, längst in Sicherheit, also keine Flüchtlinge im rechtlichen Sinne mehr. Das sind Fakten, für deren Erwähnung man Sie fast auf den Scheiterhaufen geworfen hätte.

Tellkamp: Also, ich war vorbereitet, aber ich hatte den Eindruck, dass Durs Grünbein es nicht war. Der dachte womöglich, er fliegt ein von Rom, kriegt hier 500 Euro, das vermutlich unsre beiden teuersten 500 Euro gewesen sind, die wir je gekriegt haben. Und gibt hier einen Vortrag über die Athener Polis oder irgendwas.

Weltwoche: Der Suhrkamp-Verlag hat sich anschliessend von Ihnen distanziert, dem Hausautor, und nicht von Grünbein.

«Im schlimmsten Fall hätten die mich wohl an die Wand gestellt.»

Tellkamp: Das eigentliche Problem war das Wort «um». Sie kommen her, um in unser Sozialsystem einzuwandern. Das insinuiert eine Motivation. Dabei ist es nur die Rechtslage, die ist so, dass sie zuerst mal in die Sozialsysteme müssen. Sie dürfen ja zunächst nicht arbeiten. Und bei mir war es das Wort «um». Und ich habe dann, als das losging, an einen Bekannten und Autorenkollegen gedacht, an Eginald Schlattner. Das ist ein Pfarrer in Siebenbürgen. Und der hat ein Buch geschrieben: «Rote Handschuhe». Ist bei Zsolnay erschienen. Und dort erinnert er sich an seinen Gefängnisaufenthalt in einer Zelle in Kronstadt. Und die unterhalten sich, warum sie hergekommen sind. Und dann lernt er einen Antiquar kennen. Der sagt: «Ja. Ich bin hier wegen eines Worts. Ich bin Antiquar in Kronstadt gewesen, hab natürlich die Auslage mit den kommunistischen Funktionären. Und früh klopft es an meine Tür und sagt: ‹Nimm sofort den Verbrecher aus dem Schaufenster raus.›» Und er fragt: «Welchen?» Und deswegen ist er eingefahren. Abrasiert wegen eines Wortes.

Weltwoche: In Ihrem neuen Roman gibt es in diesem riesigen Lektorat, dieser Wortüberwachungsorganisation, einen Spezialisten für Vorsilben wie «ver» und «un».

Tellkamp: Möglicherweise hat mir das die Wirklichkeit ausserhalb des «Turms» zugespielt. (Lächelt)

Weltwoche: Was könnte Merkel geritten haben? 2003 hat sie doch noch auf dem Parteitag ausgerufen: «Multikulti ist restlos gescheitert, und da brauchen wir uns auch nicht Fremdenfeindlichkeit vorwerfen lassen, wenn wir das feststellen.» Wie erklären Sie sich diesen Gesinnungswandel?

Tellkamp: Ich erlebe sie aus der Ferne als eine zutiefst ostdeutsch geprägte Frau, mit einem Vaterkomplex in mehrfacher Hinsicht. Einen konkreten zu Horst Kasner, ihrem Pfarrersvater, und zu dem Weissenseer Kreis, den es dort gab, der merkwürdig gewesen sein muss. Und zu dem in Ostdeutschland überlebt habenden, sagen wir mal, Ordinarienprinzip. Hier waren ja Patriarchen an der Macht. Und eine Frau, die dort was werden will, muss man beobachten, wie sie es machen. Das schliesst natürlich den Opportunismus mit ein. Es geht um Machterhalt. Und ihr Opportunismus geht in die Bilder. Die sieht, die CDU ist eine konservative Partei gewesen. Aber Konservatismus bewahrt das, was ist. Jetzt kommt eine junge Generation, die haben eine neue Agenda. Das sind die Grünen. Und die greifen immer weiter in die städtischen Milieus rein. Und fassen da wirklich Fuss, die Agenda greift.

Weltwoche: Und sie versuchte, obenauf mitzuschwimmen? War Merkel ein Segen oder ein Fluch für Deutschland?

Tellkamp: Ein Fluch.

Weltwoche: Warum?

Tellkamp: Weil sie keine Politik macht, die auch mal standhält, die auch mal gegen Widerspruch standhält, wie das ein Helmut Kohl noch gekonnt hat. Ich verlange ja nicht mal eine Agenda, ein kohärentes Programm. Vermutlich erleidet ein Politiker Schiffbruch, der eine allzu klare Agenda verfolgt. Ursprünglich dachten wir, Merkel macht das gut, sie hält den Ball flach, die denkt die Dinge vom Ende her. In Wahrheit war die Frau eine Katastrophe. Die sich 180 Grad dreht. Morgen nicht mehr weiss, was sie gestern gesagt und entschieden hat.

Weltwoche: Aber Merkel ist Naturwissenschaftlerin, Physikerin.

Tellkamp: Unsere Gesellschaft denkt in Labels, in Etiketten. Sie mag Physik studiert haben, aber ihre Politik war Voodoo, sonst hätte sie nie die Energiewende durchgepeitscht.

Weltwoche: Helmut Kohl nennen Sie in Ihrem Buch respektvoll «Mammut».

Tellkamp: Man muss wahrscheinlich anpassungsfähig bleiben in der Politik, um zu überleben. Aber dass nur nach Opportunität, nach Angst vor ungünstigen Bildern entschieden wird, das geht zu weit. Wie diese Corona-Bilder aus Bergamo, wo keiner gefragt hat, warum wer dort wen nicht begräbt und warum die Armee in den Strassen ist. Auch bei Corona gab es keine Diskussion auf der Grundlage von Zahlen und Fakten, sondern diesen Moralismus, diese von oben eingeforderte Einheitsgesinnung, die das Gegenteil ist von dem, was ich unter demokratischer Vielfalt verstehe.

Weltwoche: Breitet sich in der Bundesrepublik eine DDR-Atmosphäre aus? Erstaunlich viele Deutsche, die die DDR erlebt haben, sehen es so. Handkehrum: Solche Vergleiche verharmlosen die DDR. Wie sehen Sie das?

Tellkamp: Der Irrtum besteht oft darin, dass alles so platt gleichgesetzt wird. Natürlich gibt es heute keine Stasi, die Methoden sind anders. Wir haben über die DDR als Kulissenstaat gesprochen. Solche Wirklichkeitskulissen ziehen sie jetzt auch wieder hoch. In der DDR taten wir so, als hätten wir Demokratie, eine Republik, eine funktionierende Wirtschaft. Heute tun wir so, als hätten wir Meinungsäusserungsfreiheit. Der eine kann sich was erlauben, der andere nicht. Der eine verliert seinen Job, weil er mit zwanzig mal etwas angeblich Anstössiges geschrieben hat, beim anderen gelten wieder ganz andere Regeln. Das ist das Problem in Deutschland, dieses Kulissenhafte. Es gibt zwar geschriebenes Recht, aber immer mehr Leute haben das Gefühl, es werde nicht oder nur noch zum Teil angewendet. Das ist gemeint, wenn wir von DDR-Kontinuitäten im heutigen Deutschland sprechen oder auch dieser Kultur der Denunziation. Der da sei schon früher mit dem und dem «auffällig» geworden. Auf einmal muss man wieder aufpassen, was man sagt.

Weltwoche: War, ist das nicht überall so? Wer Gegensteuer gibt, wer den Mächtigen widerspricht, bekommt Gegenwind.

Tellkamp: Mich irritiert die Verlogenheit. Ich habe in einem Lügenstaat gelebt. Die freie Welt habe ich mir anders vorgestellt. Natürlich darf man alles sagen, aber das ist doch nicht mehr normal, dass man dann ausgeladen wird, weil man angeblich «rote Linien» überschritten habe. Oder nehmen Sie den neuen Straftatbestand der «Delegitimierung des Staates».

Weltwoche: Was ist das?

«Ursprünglich dachten wir, Merkel macht das gut, die denkt die Dinge vom Ende her.»

Tellkamp: Innenministerin Nancy Faeser möchte Äusserungen unter Strafe stellen, die den Staat «delegitimieren», also kritisieren. Das erinnert mich an den Artikel 220 in der DDR, «öffentliche Herabwürdigung». Während Corona hat der Staat die «öffentliche Zusammenrottung» verboten. Das sind doch unfassbare Entwicklungen, auf die gerade wir im Osten sehr empfindlich reagieren, denn die Leute sind gegen die DDR nicht auf die Strasse gegangen, um Geld zu bekommen oder Bananen, sondern wegen der Freiheit.

Weltwoche: Wir haben zu Beginn unseres Gesprächs über den Kipppunkt dieser woken Gesinnungskultur gesprochen. Kommt der nicht jetzt mit dem Ukraine-Krieg? Da ist die soldatische Raserei der einst pazifistischen Grünen. Vor allem aber sind da deren leuchtende Augen, wenn sie vom wehrhaften ukrainischen Nationalismus schwärmen. «Vaterland», sagte Vizekanzler Habeck einst, «bei der Vokabel könnte ich kotzen.» Nun sieht er Menschen in unmittelbarer Nachbarschaft für ihr Vaterland sterben und bewundert sie.

Tellkamp: Das berührt die Identitätsfrage. Und es wird schwierig, wenn sich die politische Klasse wie in der Merkel-Zeit für Deutschland schämt. Wenn dem Generalsekretär das Deutschlandfähnchen aus der Hand gerissen wird. Wenn nicht mehr vom deutschen Volk die Rede ist, sondern nur noch von denen, «die schon länger hier leben». Aber vielleicht ist die Kanzlerin Merkel als Romantikerin zu verstehen. Als eine Fluchthelferin aus der Realität, schrittchenhaft den Zeitgeist begleitend. Alles blieb liegen. Alles schlummerte unter Mutti. Und noch laufen die Zahnräder ja. Von aussen sah es gar nicht so übel aus.

Weltwoche: Jetzt kommen, auch wirtschaftlich, die mageren Jahre.

Tellkamp: Ich komme ja gerade von einer Lesereise zurück, Hamburg, Münster, Karlsruhe, drei sehr verschiedene «Deutschländer». Und in Hamburg merkt man, da ist der Wohlstand noch da, das Clanwesen ist noch da, ein Stadtstaat.

Weltwoche: Gab es Proteste gegen Sie?

Tellkamp: Selbst die Antifa ist zu Hause geblieben, die hat eh schon gewonnen.

Weltwoche: Wie war Münster?

Tellkamp: Ich wusste zunächst überhaupt nicht, was mich erwartet. Hermann Wallmann von der dortigen Literarischen Gesellschaft hatte mich eingeladen. Ich kenne ihn schon ziemlich lange. Der hat früher Lyriktage organisiert und überhaupt sehr viel dort gemacht für diese Kultur, die literarische speziell. Der holte mich ab am Bahnhof. Wir begrüssten uns, ein bisschen Smalltalk. Dann sagt er: «Ja, ich muss Ihnen mal was erzählen, was sich hier abgespielt hat. Nämlich: Ich kriege keine Räume. Die Literarische Gesellschaft hat sich zerstritten. Eine Romanistin, zwei Übersetzer, die nicht kommen werden und die alles ablehnen, was mit dieser Lesung zusammenhängt. Der Kassenwart wird nicht erscheinen. Der weigert sich, hier abends die Kasse zu machen. Ich war in der Stadtpolitik, habe hier interveniert.» Er ist ein verdienstvoller Mann. Er hat nichts gekriegt. Spielort sollte der Saal sein. Der Saal wurde nicht zur Verfügung gestellt. Wir haben in der Kantine gelesen. Hinten war die Bar. Zu einem Drittel gefüllt, waren vielleicht vierzig Leute.

Weltwoche: Das darf doch nicht wahr sein.

Tellkamp: Als Kassenwart hat sich dann Klaus von Wild zur Verfügung gestellt. Das war der behandelnde Arzt von Karajan. Eine Weltkapazität der Neurochirurgie. Der sitzt da an der Abendkasse und reisst dort ab, als wäre sonst was. Dann war das eine relativ geschlossene Lesung. Dann kam die Frau von ihm, die hatte Geburtstag. Die brachte Kuchen und Wein mit und deklarierte das Ganze zur Geburtstagsfeier um. Jedenfalls hat das der Herr von Wild ganz locker genommen. Der sagte: «Das ist jetzt unser bürgerlicher Widerstand.»

Weltwoche: Wahrscheinlich braucht man ziemlich viel Humor, um solche Szenen zu verdauen.

Tellkamp: Ich fand’s eigentlich ganz wunderbar. Und auch diejenigen, die dabei waren. Ach so, noch eins: Die Münsteraner Buchhandlungen haben sich geweigert, einen Büchertisch zu bestücken. Ein Buchhändler von aussen sollte kommen. Schliesslich hat sich doch jemand gefunden, der Freiheit für wichtiger hält als Gesinnung.

Weltwoche: Sie werden regelrecht boykottiert?

Tellkamp: Die Karten sind verteilt, der Riss im Land ist da.

Weltwoche: Der Spiegel hat den Osten einst zu einer Art Naziterritorium erklärt, das Wort von «Dunkeldeutschland» machte die Runde. Was sagen Sie als Ostdeutscher zu solchen Verunglimpfungen?

Tellkamp: Die Bannungsrituale funktionieren hier nicht mehr. Das haben die Ostdeutschen hinter sich. Das kennen sie. Wenn also von oben oder von der Presse zum Beispiel verfügt wird: AfD, das geht gar nicht, dann fragen die erst mal: «Warum nicht?» Dieses Anbräunen funktioniert nicht so richtig im Osten.

Weltwoche: Sachsen steht besonders unter Verdacht der Medien.

Tellkamp: Davon halte ich nichts. Die Sachsen wollen einfach ihre Identität bewahren. Das ist alles. Darüber darf man ja auch reden. Hier in Dresden haben wir ein spezielles Problem. Grosse Teile der Funktionseliten, nicht nur der Kultur, auch im Journalismus, stammen aus dem Westen. Das ist fast wie eine Art Feudalelite in der Stadt. Wohlverstanden: Wir haben die auch gebraucht nach der Wende, mit unseren DDR-Eliten hätten wir das nicht hingekriegt, und die Leute aus dem Westen haben Grossartiges geleistet, aber deswegen muss ich mir von ihnen nicht sagen lassen, was gut ist und was böse. Sie versuchen, die Hoheit darüber zu haben, was anständig ist und was nicht, was man sagen darf, was nicht.

Weltwoche: Rühmliche Ausnahme ist wahrscheinlich Professor Werner Patzelt von der Werteunion, Professor hier an der Technischen Hochschule.

Tellkamp: Aber der ist ja auch rausgeekelt worden. Sein Fehler war, dass er früh erkannt hat, dass in den Aufzügen der Pegida beileibe nicht nur Rechtsradikale anzutreffen sind.

Weltwoche: Das kann ich bestätigen. Ich bin bei einem der ersten mitgegangen. Es war ein Schweigemarsch. Gespenstisch. Ein stummer Protest. Man hat nur die Schritte gehört, und die liefen immer weiter, als ob sie aus dieser Gesellschaft rauslaufen wollten. Dabei ist es doch keine schlechte Idee, das christliche Abendland zu verteidigen und sich für dessen Werte einzusetzen. Die Kirchen tun es ja nicht mehr.

Tellkamp: Später wurde es dann lauter. Aber es wird ja immer behauptet, jeder könne alles sagen. Sagen kann man alles. Aber was kommt nach dem Sagen? Da wurde der Intendant des Dresdner Staatsschauspiels im Deutschlandfunk gefragt: «Was machen Sie denn mit dem Herrn Tellkamp?» Und es hiess: «Ja, wenn er mal anfragen würde, dann würden wir uns zusammensetzen, und dann würden wir ihn vielleicht mal einladen.» So sieht dann bei denen eine Einladung aus. Oder wir hatten jetzt ein Literaturfest in Meissen. Da ruft mich der Kabarettist Uwe Steimle an und sagt: «Haben Sie mal geguckt, was dort ist?» Angeblich das grösste Open-Air-Lesefest. Steimle und Tellkamp ausgeladen, die hätten rote Linien überschritten.

Weltwoche: In der Kritik des Deutschlandfunks an Ihrem Buch hiess es, dass Sie den Ehrgeiz gehabt hätten, das erste ästhetisch relevante Werk rechter Gegenwartsliteratur zu liefern. War Ihnen das bewusst?

Tellkamp: So ein Quatsch. Ich setz mich doch nicht hin und habe einen Vorsatz. Die Aussenwelt kommt auf einen, und man ist nur Filter.

Weltwoche: Ein grosser Reiz Ihres neuen Romans ist seine Unberührtheit oder Ungerührtheit von solchen strategischen Überlegungen, von dem ganzen woken Bewusstseinsgulasch. Von der Genderei, der Sklavensprache, dem Bücken unters Joch angesagter Positionen. Sie leiden nicht an der «Beschreibungsimpotenz», die Peter Handke einst den Strategen der Gruppe 47 vorgeworfen hat. Ihr Buch ist auch ein Abenteuerroman der Sprache. Letzte Frage daher: Wie geht es weiter mit Ihrem Handwerkszeug, mit der deutschen Sprache, an der sich immer mehr dieser Gesinnungsschlosser zu schaffen machen?

Tellkamp: Ich rate dringend dazu, sie in Ruhe zu lassen. Und das woke Zeug lässt sie nicht in Ruhe. Es tut der Sprache Gewalt an.

Weltwoche: Lieber Herr Tellkamp, wir danken Ihnen für das Gespräch.

 



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