Vom Urmenschen bis heute in acht Stunden: Vox zeigt die gewaltige BBC-Doku “Die Geschichte des Menschen”, Film-Legende Alexander Kluge war daran beteiligt. Im Interview erklärt er, warum ausgerechnet die Nähnadel eine bedeutsame Erfindung ist – und Städte nur dank Drogen gegründet wurden.

SPIEGEL ONLINE: Die “Geschichte des Menschen” in acht Stunden – wenn man apokalyptisch gestimmt wäre, klänge das wie eine Bilanz, nach dem Motto: Das war’s dann wohl.

Kluge: Nein, ganz im Gegenteil, wir zeigen ja die Reise des Menschen nachder Apokalypse. Die fand nämlich statt vor rund 70.000 Jahren mit einem gewaltigen Vulkanausbruch, der “Toba”-Katastrophe, die alle Himmel verdunkelte. Von der Gattung homo sapiens blieben damals nur 7.000 Exemplare übrig. Das war das evolutionäre Nadelöhr, durch das unsere Vorfahren in Afrika hindurch mussten.

SPIEGEL ONLINE: In der Dokumentation wird das bildhaft dargestellt mit der Passage einer urzeitlichen Großfamilie, die über eine schmale Steinbrücke in schwindelnder Höhe einen neuen Kontinent erreicht.

Kluge: Eine starke Metapher. Chris Granlund, der Autor, hat sie erfunden.

SPIEGEL ONLINE: Wir waren offenbar schwindelfrei und mutig.

Kluge: Das war die Mindestanforderung.

SPIEGEL ONLINE: Dann passiert sehr lange nichts, so wird das erzählt – bis zur Erfindung der Nähnadel! Warum ist die Nähnadel so ein bedeutender Technologieschub?

Kluge: Das Auffädeln von Sehnen in das Öhr einer Holznadel erfordert Fingerspitzengefühl. Bei Säugetieren dienten die Fingerspitzen dazu, sich bei Gefahr im Fell der Mutter zu verkrallen. Dadurch sind die Fingerspitzen empfindlich, unverwechselbar und zärtlich geworden. Die Ausdifferenzierung des taktilen Unterscheidungsvermögens führte nicht nur dazu, dass wir uns Kleidung nähen und winterfest machen konnten, sondern viel fundamentaler zu einem Durchbruch in der Weltbeherrschung – bis hin zu Descartes’ Philosophie.

SPIEGEL ONLINE: Die Dokumentation und ihre Zeitleiste ähneln ein bisschen einem Menschenleben. Lange passiert gar nichts – und dann vergeht die Zeit plötzlich rasend schnell.

Kluge: Es hat gedauert, bis sich die Menschen von Afrika aus aufgemacht haben. Das Wild ist nach Norden gezogen, der Mensch ihm hinterher, und dann gibt es, etwa um 5.000 v. Chr., einen merkwürdigen Blitz: die Entstehung der Städte. Ohne Vorbereitung.

SPIEGEL ONLINE: In der Dokumentation wird das mit der Entstehung der Religion in Verbindung gebracht.

Kluge: Die frühen Megastädte wie Uruk oder Çatalhöyük vor rund 7000 bzw. 9000 Jahren sind eine gewaltige Toleranzleistung. In den Zeiten davor hätte man Menschen nicht so eng wie in einer Stadt zusammenpacken können, ohne dass sie sich totgeschlagen hätten. Dass Clans und Sippen so nahe zusammenleben, dafür braucht man nicht nur eine Stadtmauer, sondern üppige agrarische Versorgung, Rauschmittel und Religion. Aus Getreide entstand erst das Bier, dann das Brot. Der die Menschen überraschende Friedenszustand gilt, so das Zeugnis der Bibel, als das Paradies.

SPIEGEL ONLINE: Und das soll zwischen Euphrat und Tigris gelegen haben, wo es dank üppiger Böden – und offenbar genug Bier und Weihrauch – eine glückliche Verschnaufpause für die Menschheit gab.

Kluge: Die Periode ging abrupt zu Ende, als sich in Assyrien die vehementeste Militärmaschine der Welt erhob und allen Reichtum an sich nahm.

SPIEGEL ONLINE: Wenn es eines gibt, das diese Dokumentation durchzieht, dann sind es Schlachtszenen. Die Assyrer, die Griechen, das Abmetzeln der frühen Christen, die Wikinger, die Moslems: All das wird sehr opulent und mit Strömen von Blut in Szene gesetzt. Das jugendliche Testpublikum in Berlin hat ja positiv reagiert.

Kluge: Aber genauso fasziniert war es von der spirituellen Revolution durch Buddha, die gezeigt wird, oder von Gandhis gewaltlosem Widerstand. Da sind dann Großaufnahmen zu sehen, etwa diese Spielszene, in der Gandhi beim britischen Vizekönig in Indien den Tee nimmt und aus Protest gegen die Salzsteuer eine Prise Salz in den Tee streut – muss furchtbar geschmeckt haben.

SPIEGEL ONLINE: Die BBC-Produktion zeigt zwar alle großen Religionsstifter, wie Buddha und Mohammed und Konfuzius, aber die Scharnierstelle unserer Zeitrechnung – Christi Geburt – wird ausgespart. Dafür wird Paulus stark in Szene gesetzt.

Kluge: Ohne Paulus wäre Jesus vermutlich ein lokales Ereignis in Galiläa geblieben. Erst Paulus und die Evangelisten haben dafür gesorgt, dass sich der Bericht von Jesus wie ein Flächenbrand über die Welt verbreitet hat.

SPIEGEL ONLINE: Wir betreten mit Kolumbus die neue Welt, erleben Pizarros Goldgier und die Ermordung der Inkas, die Eroberung von Byzanz durch die Osmanen, Leonardo bei der Präsentation seines Abendmahl-Freskos, natürlich Luthers Thesenanschlag, die Oktoberrevolution, die Weltkriege, die Eckdaten der Geschichte als saftiges Kino. Haben Sie keine Berührungsangst vor Trivialitäten?

Kluge: Hier nicht. Sicher ist das populäres Kino, aber es ist abgesichert. Chris Granlund, für die Acht-Stunden-Dokumentation verantwortlich, ist faktensicher wie ein Altphilologe. Er hat diese Produktion acht Jahre lang vorbereitet. Und dann mit einem gewaltigen Etat und 1.100 Schauspielern in Szene gesetzt. Das hätten wir nicht stemmen können, die BBC schon. Sie produziert ja für 389 Millionen englischsprachige Zuschauer.

SPIEGEL: Hätten Sie es denn selbst so gewollt?

Kluge: Aber sicher. Geschichte in bunten Bildern, das gab es schon im 19. Jahrhundert in den Reklameserien zu “Liebig’s Fleischextrakt”. Wer alle Bildchen der Serie hatte, war König.

SPIEGEL ONLINE: Offenbar wollen wir uns unsere Geschichte immer neu einverleiben, buchstäblich. Was lernen wir?

Kluge: Dass die Geschichte des Menschen eine Sache extremer Not war und großer Glücksfälle, wie eben jener Achsenzeit um 500 v.Chr., als plötzlich Lichtgestalten wie Sokrates, Buddha, Konfuzius in den unterschiedlichsten Teilen der Welt gleichzeitig auftauchten.

SPIEGEL ONLINE: Und dass immer wieder massenhaft gemordet wurde.

Kluge: Eroberungen, Kämpfe, Massaker, mehr als genug. Doch am Ende überwiegt doch die Kooperation. Anders ausgedrückt: die Bösen wie Macbeth haben keine Kinder, die Durchschnittlicheren, die Nichthelden – darunter die Guten – leben unauffälliger und haben reichlich Nachwuchs.

SPIEGEL ONLINE: Ist das nicht schön, dass wir Menschen doch noch ein Happy End erleben dürfen!

Kluge: Wir haben Glück gehabt, dass wir übrig geblieben sind. Mehr Glück als Verstand. “Wir sind noch einmal davon gekommen” heißt 1945 ein Drama von Thornton Wilder, das mich sehr beeindruckt hat.

SPIEGEL ONLINE: Wo würden Sie denn am liebsten gelebt haben? Und wann?

Kluge: 40 v. Christus in Syrien.

SPIEGEL ONLINE: Warum?

Kluge: Weil ich davon geträumt habe. Vor Ort Friedenszeit, alle Feinde sind weit weg, die Religionen sind noch nicht fertig, ein Landgut, mildes Klima, Bücher, das hätte mir gefallen.

SPIEGEL ONLINE: Glauben Sie, dass das TV-Publikum ebensolche Freude empfindet wie Sie und Ihre jugendlichen Testzuschauer?

Kluge: Sicher. Vox-Chef Frank Hoffmann, der jetzt leider zu RTL wechselt, hat ja ein Gespür dafür. Sicher ist es auch mutig von ihm, mit einem Thema zwei Abende zur Prime-Time zu bestreiten. Aber er hat ja schon ganz andere Großtaten gestemmt, etwa unser 12-Stunden-Programm über Hitlers letzten Tag, gemeinsam mit SPIEGEL TV. Eigentlich ist das Fernsehen feige, finde ich – aber manchmal eben nicht. Und dann ist es grandios.

Erschienen am 31.01.2013 www.spiegel.de