Über diesen Roman haben sich die bedeutendsten Köpfe zerstritten. Friedrich Nietzsche galt Adalbert Stifters «Der Nachsommer» als eine Gipfelleistung deutschsprachiger Literatur. Ernst Jünger dagegen langweilte sich entsetzlich und schäumte darüber, dass der Autor in seinem Bildungsroman anderthalb Seiten braucht, um einen Stuhl von einer Ecke des Zimmers in die andere zu stellen. Für Friedrich Hebbel schliesslich galt ausgemacht, dass sich nur solche Leute durch den Roman arbeiten, die dafür bezahlt werden, Kritiker also, die ihrem Beruf nachgehen.

Für viele ist es der langweiligste Roman der Welt, aber genau in dieser Wirkung besteht seine Kunst. Er stellt die Zeit still. Da das alles so ist, will ich mit meinen Präliminarien herausrücken. Mich trieb der Wunsch, der Gegenwart mit ihrem Kriegsgeschrei und ihren Hysterien über den nahen Klimatod entschlossen den Rücken zuzukehren.

Dem Schönen gewidmet

Schon in den ersten Zeilen dieses wunderlichen Sprachkunstwerks klingt alles nach Gemessenheit und Ruhe und Ordnungssinn. «Mein Vater war Kaufmann», setzt der Erzähler ein. «Er bewohnte einen Teil des ersten Stockwerks eines mässig grossen Hauses in der Stadt, in welchem er zur Miete war.» Unten das Verkaufsgewölbe mit Arbeitszimmer, oben drüber bietet dieses «mässig grosse Haus» immerhin genug Räume für die Familie mit den beiden Kindern, die Dienstmagd und ein weiteres Ehepaar, das zu hohen Festtagen eingeladen wird.

Ein Raum in der Wohnung, es ist der edelste, ist für Bücher reserviert, die in verglasten Schränken untergebracht sind, wobei ein grüner Seidenvorhang den Blick auf die Titel in Goldschrift verhüllt, denn ihr Besitzer, «der Vater», möchte nicht angeben mit seiner Bildung, er möchte einfach sein Inneres bereichern. So viel befremdliche Ehrfurcht und Sorgfalt schon in den ersten Zeilen und respektvolle Distanz besonders gegenüber dem eigenen Vater.

Was der Vater allerdings durchaus gern vor Augen führt und selber geniesst, ist die Kunstschönheit. Er besitzt eine formidable Sammlung von wertvollen Bildern aus der Renaissance, und um ihn zu erfreuen, lässt ihm der Sohn von seinen Wanderungen ins Hochgebirge bisweilen ein besonderes Stück Marmor für ein Wasserbecken fertigen oder eine Täfelung aus einem aufgegebenen Haus in einem der Hochtäler schicken.

In dieser wundersamen Welt, die dem Schönen gewidmet ist, gibt es kein Elend, keinen Hunger, keine Fronarbeit. Sie breitet das Umland Wiens und die Alpen in Postkartenschönheit aus. Sollten doch einmal Landarbeiter ins Bild kommen, so nur, um vom Gutsherrn freundliche Hinweise auf bessere Bewirtschaftung zu erhalten oder um an Feiertagen die Hüte zu schwenken. Nein, finanzielle Nöte gibt es in dieser Pastorale nicht.

Die Handlung dieser fast 800 Seiten lässt sich in zwei Sätzen zusammenfassen: Der junge Heinrich Drendorf steigt ins Gebirge, macht die Bekanntschaft des brillanten Freiherrn von Risach, der sich aus Enttäuschung über die Trägheit des Regierungsapparats zurückgezogen hat ins Private, in ein mit Rosen bewachsenes Anwesen; Risach wird Drendorfs Lehrmeister. Des Weiteren lernt der Junge die ergraute Jugendfreundin des Rosenherrn kennen, Mathilde, sowie deren Tochter Natalie, mit der er sich verloben wird.

Es ist ein Bildungsroman wie Gottfried Kellers «Der Grüne Heinrich» oder Goethes «Wilhelm Meister», doch sind diese Schweizer und deutschen Versionen über die Erziehung zum Mann von geradezu irdisch packender, handlungsdraller Figurenfülle gegen diese zarte österreichische Höhenluft-Malerei, die sich einer Schönheitsreligion verschreibt, die auf hartnäckigste Weise nicht von dieser Welt ist.

Die Handlung besteht zunächst aus Sprache und ihrer milden Melodie, sie ist feierlich und bisweilen wie Nebel im Hochgebirge, der plötzlich aufreisst und Einzelheiten mit farbigster Genauigkeit vors Auge bringt. Sie besteht aus Unterweisungen in die Schönheit der Natur und der Künste, denn der junge Drendorf ist ein begabter Zeichner nicht nur seiner geologischen Funde – er betätigt sich als Geometer –, sondern auch der Alpenpanoramen. «‹Es sind in der Kunst viele Anfänge gemacht worden›, sagte mein Gastfreund», und er zählt in der Folge die der Griechen, der Assyrer, der Inder und so weiter auf, um schliesslich, eine halbe Seite später, zu dem Schluss zu kommen, nämlich «dass die Menschen in der Erschaffung einer Schöpfung, die der des göttlichen Schöpfers ähnlich sein soll, immer in Anfängen geblieben sind, sie sind gewissermassen Kinder, die nachäffen».

Wer will, kann darin eine Kontrasterkenntnis zu den Revolutionären aus Stifters Zeiten oder den grün-roten Weltenbauern unserer Tage lesen. Und tatsächlich, ich wollte.

Kreislauf der Natur

Diese Ehrfurcht vor dem Höchsten durchzieht das Buch und verleiht ihm ein merkwürdiges, ein schönes Leuchten. Das zeigt sich auch in praktischen Tätigkeiten, etwa wenn Drendorf mit seinem «Gastfreund» und dessen Sohn Gustav und weiteren Gehilfen eine alte Kirche vor dem Verfall rettet und restauriert. Doch derartige Episoden sind schon dramatische Höhepunkte, wie auch jene Klettertour zu einer Berghütte im Hochgebirge über gefährliche Schneefelder hinweg, die Drendorf, begleitet von einem Mutigen, unternimmt.

Der Grossteil des Romans dient den Beschreibungen des Kreislaufs der Natur, des Blühens und Verblühens der Rosen, und des Alltags und seiner rein rituellen Verrichtungen, die aus jedem einzelnen Tag einen Festtag werden lassen. Welcher Romancier hielte die nachfolgenden Zeilen überhaupt für schreibenswert? «Eines Nachmittags waren wir im Rosenzimmer. Mathilde sprach recht freundlich von verschiedenen Gegenständen des Lebens, von den Erscheinungen desselben, wie man sie aufnehmen müsse und wie sie in dem Laufe der Jahre sich ablösen. Mein Gastfreund antwortete ihr. Bei dieser Gelegenheit erst sah ich, wie zart und schön für das Zimmer gesorgt worden war.»

Kein Mensch wird je erfahren, was denn diese Mathilde nun gesagt hat und welchen ihrer Weisheiten «der Gastfreund», so wird der Besitzer des Rosenhauses hartnäckig genannt, denn zugestimmt hat, wichtig ist hier lediglich die Atmosphäre der Vertrautheit, vor allem aber des Respekts, den die Figuren des Romans einander erweisen.

Besonders schön und durchaus komisch in ihrer Umständlichkeit wird diese Vorsicht in Szene gesetzt, als der junge Drendorf den Eltern, zunächst dem Vater, von seiner beabsichtigten Vermählung mit Natalie, der Tochter Mathildes, erzählen möchte.

«Mein Vater blickte mich gütig und freundlich an und sagte: ‹Du wirst mit deiner Mutter von diesem Gegenstande nicht so leicht sprechen, ich werde deine Stelle vertreten und ihr von dem geschlossenen Bunde erzählen, dass du schneller über die Mitteilung hinwegkommst. Lasse den Vormittag vergehen, nach dem Mittagessen werde ich die Mutter in dieses Zimmer bitten.›»

Verblüffende Entstehungsgeschichte

Dass auch diese entrückte Gesellschaft bereits die Versuchungen und Korruptionen der Moden kennt, wird im Gespräch über einen Schmuckmacher deutlich, der in seiner Arbeit jeden billigen Effekt vermeidet, stattdessen aus der Beschaffenheit der Edelsteine seine kunstvollen einfachen Fassungen entwickelt. «‹Er huldigt keinem Zeitgeschmacke, sondern nur der Wesenheit der Dinge›, sagt der Vater.»

Der «Nachsommer», jene rauschhafte Wiederkehr vor dem letzten Verblühen, die auch dir Beziehunhg von Risach und seiner Freundin Mathilde verkörpert,  die von ihrem Landschloss öfter zur Visite kommt, enthält eine eigenwillige Pointe, ja, einen radikalen Boykott der eigenen Ruhevorgaben, der erst auf den letzten Seiten enthüllt wird.

Dort nämlich wird erzählt, dass dieser Rosenherr Risach einst stürmisch in Mathilde verliebt war und sie in ihn, und dass er, der Sitte folgend, beim Vater um ihre Hand anhielt. Der aber verweigerte sie ihm, seiner Jugend wegen, und Risach gehorchte und hielt sich von Mathilde fern.

Dass er sich aber dem Vater fügte, zerriss Mathilde das Herz, und sie begann ihn zu hassen und brach den Kontakt zu ihm auf Jahrzehnte ab. Sie verachtete ihn, weil er die Etikette höher stellte als die Liebe. Nichts kann eine Frau mehr kränken als das – Moravia hat aus dieser «Verachtung» einen Roman und Jean-Luc Godard einen seiner schönsten Filme gemacht, mit den unvergleichlichen Brigitte Bardot, Michel Piccoli und Jack Palance.

Das Verblüffendste an diesem Roman aber mag die Entstehungsgeschichte sein: Adalbert Stifter rang seinen späten «Nachsommer», dieses «unbeeilteste, gleichmässigste und gleichmütigste» aller Bücher (Rilke), einem ungeheuer stürmischen Leben ab. Er hatte sich in seinen Jugendjahren unsterblich in Fanny, die Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns, verliebt, die indes nichts von ihm wissen wollte. Er begann zu trinken, brach sein Studium ab, verkam und heiratete schliesslich die Tochter eines Putzmachers und schrieb an seine Fanny gleich, dass er dies nur aus Gekränktheit tue. Diese übrigens heiratete ebenfalls und verstarb vier Jahre später bei der Geburt des ersten Kindes.

Man warf Stifters Frau Verschwendungssucht vor, zweimal kam der Gerichtsvollzieher zur Pfändung. Im Gegensatz zur sorglosen Gesellschaft seines elysischen «Nachsommers» kannte Stifter also Entbehrung und Leid. Er veröffentlichte Erzählungen und hielt sich als Hauslehrer – unter anderem des Sohnes des Staatskanzlers Metternich – über Wasser. Mit seiner Erzählung «Abdias» gelang ihm der Durchbruch und vorerst finanzielle Unabhängigkeit.

Adalbert Stifter, der Dichter der edlen Zurückhaltung und des Ebenmasses, erkrankte an einer Leberzirrhose, da er unmässig viel trank und fraß, sechsmal am Tag, zur Vorspeise bisweilen sechs Forellen, später noch eine Ente.

Am 26. Januar 1868, mit 63 Jahren, öffnete er sich mit einem Messer die Halsschlagader und verstarb zwei Tage später.



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