Zu den Legenden, die der Erste Weltkrieg hervorgebracht hat, gehört das “Augusterlebnis”, ein patriotischer Rausch angesichts der Mobilmachung. In Verzückung gerieten vor allem die deutschen Dichter.
“Die Westfront”, schreibt Jörg Friedrich in seinem monumentalen, kaum überbietbaren Schlachtengemälde “14/18”, “entzauberte zudem das geistige 19. Jahrhundert, die Hoffnung, dass anstelle alter Glaubens- und Gehorsamslehren die wissenschaftliche Erkenntnis das Leben erleuchte”. Das ist wahr, und gleichzeitig falsch.
Sicher, mit den technologischen und medizinischen Durchbrüchen in der zweiten Jahrhunderthälfte wurden die westlichen Kulturen, besonders die deutsche, von den Triumphen der naturwissenschaftlichen Weltentzauberung überrollt. DerBestseller der Jahre hieß “Kraft und Stoff”, eine materialistische Abrechnung mit Religion aller Art, durch Ludwig Büchner, den Bruder des Dichtergenies Georg Büchner. Doch die Vernunft war durchschossen von einem neuen Glauben, dem an den Fortschritt, und der war von Irrationalitäten durchwebt.
Sicher, die Goethezeit, erst recht die Romantik, sie waren verabschiedet. Nun sollte nur das noch zählen, was messbar und zählbar und brauchbar war, die Geschwindigkeit durch die Eisenbahn, die Telegrafen, später die Durchleuchtung des Körpers durch Röntgenstrahlen, die mit Entfremdung erkaufte industrielle Arbeitsteilung für den Profit.
Die Wissenschaft verzauberte
Doch nun schien es, als ob die Wissenschaft selbst die Rolle des Zauberers übernehmen wollte. Sie verzauberte das Publikum auf grandiosen Weltausstellungen und führte vor: in London 1862 die Nähmaschine und den Gasmotor, in Paris 1867 Eiscreme-Soda und den Flugkolbenmotor, in Philadelphia 1876 das Telefon und damit das Wunder der Gleichzeitigkeit, in Wien 1878 den Eisschrank und den Plattenspieler, in Chicago 1893 den Reissverschluss und die Geschirrspülmaschine, in Paris 1900 die Rolltreppe und den Lohner-Porsche, das erste elektrische Hybrid-Auto.
All das war eine Art technologischer Träumerei, praktizierte Science-Fiction – die Welt war grenzenlos und atemlos geworden, und der Kontinent taumelte wie benommen, wie Philipp Blom es mit seinem Buch über die Vorkriegsjahre beschrieb.
Untergründig aber blühten die okkulten Bünde, die Teegesellschaften und Seancen, die Wunderheiler. Es gab vieles im Untergrund, was nach Zauber schrie. Auf der Oberfläche der wissenschaftliche Triumph. Untergründig jedoch die nie gesättigte Sehnsucht nach innerer Verzauberung, nach Romantik, nach dem Ungewöhnlichen im Gewöhnlichen, nach “schöner Verwirrung”, wie es Novalis, der Hochromantiker in einer Art romantischen Manifest forderte, dem ersten, dem viele weitere der Kunstavantgarde folgen sollten.
Das Alte wurde verschrottet
Die italienischen Futuristen nahmen diesen Zuruf in ihrem Manifest auf paradoxe Weise auf: Sie verschrotteten das Alte. Sie verabschiedeten alle Sentimentalitäten. Die Kunstgeste als Prankenhieb gegen die Spießer. “Ein aufheulendes Auto, das auf Lartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake”.
Sie nahmen den Ersten Weltkrieg vorweg. Die Avantgarde schlug alles kurz und klein, was den Vorgängern heilig war. Malewitsch malte Tabula rasa mit dem schwarzen Quadrat. Die Nullstellung war das Ziel. Sie richteten sich gegen Träumereien aller Art. Gegen Camouflagen. Gegen die Schmocks, die in ihrer Weise die größten Träumer waren, Großmachtträumer.
Ein Beispiel: Das deutsche Flottenprogramm. Große Schlachtschiffe, Mammutunternehmen der technischen Intelligenz, die den Deutschen den “Platz an der Sonne” und die Herrschaft über die Weltmeere besorgen sollten. Das Volk steckte die Kinder in Matrosenanzüge, zahllose Marine-Vereine schossen aus dem Boden, doch es verärgerte die Engländer und trieb sie in die Arme gegnerischer Koalitionen.
Die Flotte war im Grunde l’art pour l’art
Im Krieg wurden dann kleinere bewegliche Schiffe gebraucht – die deutsche Hochseeflotte blieb funktionslos an den Liegeplätzen “und erwies sich dort als das, was sie war: l’art pour l’art, das romantische Spielzeug eines Bürgertums, das geträumt hatte, statt vernünftig zu handeln”, wie es Rüdiger Safranski in seinem Klassiker “Romantik – ein deutsches Gefühl” beschreibt.
Was aber hatte sich da nur angestaut in dieser prosperierenden Wohlstandsgesellschaft, die sich Deutsches Reich nannte, um sich dann so fürchterlich entladen zu müssen? Was hatte sich da nur angesammelt in den müde gewordenen Köpfen der literarischen Salons, in denen der Boheme genauso wie der Stars, der Intelligenzler, der Tonangeber, Deuter, Propheten, Revolutionäre. All diese “O Mensch”-Hymniker des Expressionismus, die Wandervögel, die Fidus-Sonnenanbeter, die Anarchisten und Aussteiger auf dem Monte Verita mit Hermann Hesse: Was war los mit ihnen?
Die Avantgarde war endlich angekommen
Sie alle sollten im August 1914 beglückt entdecken, dass sich ihre Gefühle mit denen der Kommerzienräte und Offiziere deckten. Und mit denen der Kioskbudenbesitzer und der Kohlenschlepper und der Proletarier, kurz, des Mannes auf der Straße. Die Avantgarde war im Kern der Gesellschaft gelandet, in einer Wolke aus Hass und Hochmut und nationalem Fieber. “Alle von der gleichen Wut gepackt”, heißt es bei Jörg Friedrich. Dieser merkwürdige Rausch, den man später das “Augusterlebnis” nannte; jene Tage, in denen es keine Parteien mehr gab, sondern nur noch Deutsche. Die Tage, als die Deutschen in den Ersten Weltkrieg zogen.
Schicksalsstunde. Dieser ständige Hunger nach Schicksal! An der Oberfläche hatte sich das nicht angekündigt. Florian Illies’ wunderbare Collage “1913” zeigt eine Alltagsgesellschaft ohne Ahnung vor der heraufziehenden Gefahr, auch ohne Ahnung noch von ihrer Bereitschaft zur ideologischen Hitzewallung. Also vorerst Theatergefechte im Feuilletonbetrieb, und das hier ist eine der bezeichnendsten Episoden:
In seiner Villa im Berliner Grunewald zieht sich der Theaterkritiker Alfred Kerr vor dem Spiegel die Fliege zurecht, um sich in den Kampf zu stürzen – in die Uraufführung von Thomas Manns “Fiorenza”, die er zu vernichten trachtet. Gleichzeitig erleben wir Thomas Mann, wie er im Hotel Adlon seinen Mantel aufbügeln lässt – um diesen Angriff und möglicherweise weitere zumindest äußerlich makellos zu überstehen.
1913 geht der Kampf um Thomas Manns “Fiorenza”
Beide steigen in ihren Rüstungen für eine Schlacht, die für sie, in der Theatersaison 1913, die Welt bedeutet. Natürlich trägt Kerr den Sieg davon, denn er hat, über seine Kritik im “Tag”, das letzte Wort. Dabei geht es gar nicht um das Stück und seine Qualitäten oder Mängel, wie so oft im Kunstbetrieb. Thomas Mann hat gegen den werbenden Kerr das Herz der Katja Pringsheim erobert, das ist sein Sündenfall.
Die Zeit: Stillstand. Kleine Aufregungen, Skandalisierungen, dann wieder Langeweile. In Musils “Mann ohne Eigenschaften” nimmt der Held Ulrich im August 1913 “Urlaub vom Leben”. Das ist die Lage. Gut, es gibt Geräusche vom Balkan, es gibt hitzige Reden, aber nichts wird sonderlich ernst genommen.
Und ein paar Monate darauf sind sie alle gemeinsam von der gleichen rätselhaften Erregung erfasst und mitgerissen, auch Musil, sie sind gleichsam aus sich herausgespült, hinaus und hinauf zu einem Ideal oder dem, was sie dafür halten.
Dann sind Thomas Mann und Alfred Kerr plötzlich Waffenbrüder
Alfred Kerr und Thomas Mann sind plötzlich, um im Jargon zu bleiben, “Waffenbrüder”, zumindest am Schreibtisch, auch der eine Art Feldherrentisch mit ständigen Lagebesprechungen. Und am Schreibtisch, das wissen wir Feuilletonisten, denkt es sich besonders mutig und besonders erbarmungslos.
Thomas Manns jüngerer Bruder Viktor zieht in den Krieg, den der ältere, Heinrich, verabscheut. Thomas Mann dagegen, in einer realistischen Einschätzung seiner Kräfte, schreibt: “Es wäre ein Unsinn: mein Kopf, mein Magen, meine Nerven hielten es nicht länger als ein paar Tage aus.”
Den ins Feld marschierenden Soldaten schmücken Frauen die Bajonette mit Blumen. Begeisterte Abschiede, Wimpel, Märsche, Lieder. Unter den ersten Freiwilligen ist besonders die Gruppe der Dichter und Schriftsteller stark vertreten, die sich auf die Suche nach der großen Erzählung dieses Volkes begeben.
Max Weber bedauert, nicht in den Krieg ziehen zu können
Der expressionistische Lyriker Ernst Stadler zieht mit, nach Frankreich, das er grüßt “mit solcher Erschütterung wie damals, als ich vor sieben Jahren zum ersten Mal Paris sah.” In seiner Einheit laufen Quartaner als “Pfadfinder” mit. Sie geraten ins Feuer. Stadler sieht das Grauen. “Einer, dessen Gehirn ganz bloß liegt. Er lebt noch.” Stadler wird sechs Wochen und drei Tage später tot sein.
Es sind Intellektuelle, besonders viele Studenten, auch Professoren, die sich aufmachen zum “Waffengang” – das sind so die Klangfarben, die im Volk der Ritter- und Märchengeschichten die Herzen höher schlagen lassen. Der Erste Weltkrieg war durchaus eine Sache der Dichter. Sie verherrlichten ihn, sie gaben die Hymnik vor. Doch auch die anderen Geistesgrößen stimmten ein. Max Weber begrüßt “diesen großen wunderbaren Krieg” und bedauert, nicht mehr daran teilnehmen zu können.
Auch Alfred Kerr jubelt, und Thomas Mann spricht wohl auch für ihn, als er von einer lang ersehnten “Reinigung” schreibt, von einem Ausstieg aus einer “satten Friedenswelt”. Die folgenden vier Jahre wird er die Arbeiten an seinem “Zauberberg” ruhen lassen, um sich, in den voluminösen “Betrachtungen eines Unpolitischen”, all jene kulturstrategischen und lebensphilosophischen Rechtfertigungen des “Waffengangs” von der Seele zu schreiben, mit denen er seinen Roman nicht erdrücken möchte. Er spricht, wie viele in jenen Tagen, vom “deutschen Wesen”, das er insbesondere der französischen Lebens- und Denkungsart gegenüberstellt. Wo liegt das? Bei Bach, bei den Romantikern?
Deutsches Wesen geht zurück bis Luther
Thomas Mann sucht die Nähe zu Schopenhauer, zum Nietzsche der Bürgerverachtung, er greift zurück zu Goethe, dem die “Französgen” arrogant und überziseliert vorkamen, ja, bis zu Luther, in dem der Protest gegen die römisch-katholische, also westliche und überzivilisierte Welt, seinen “gewaltigsten Ausdruck” gefunden habe.
Ach Thomas Mann! Für ihn ging es, ob in Flandern oder an der Somme, um den Kampf zwischen (deutscher) “Kultur” und (französischer) “Zivilisation”: “In Deutschlands Seele werden die geistigen Gegensätze Europas ausgetragen.” Doch in seiner eigenen Seele trägt er noch etwas anderes aus – den Konflikt mit seinem Bruder Heinrich, dem Kriegsgegner, der für ihn den verachteten “Zivilisationsliteraten” verkörpert.
Er hält dessen Bücher für schmuddelig, seine politischen Parteinahmen für Demokratie und gegen den Ständestaat für indiskutabel. Ein Zivilisationsliterat! Heinrich erwiderte die Abneigung und attackiert in seinem großen Zola-Essay nicht nur Preußen und den Kaiser, sondern unverhüllt auch den eigenen Bruder.
“Ich habe kein Wort, ich kenne kein Wort”
Thomas Mann rechtfertigt den “Griff zum Schwert”, und er tut dies scheinbar unberührt von den katastrophalen Wendungen, wenn er auch später in Briefen von “Reue” spricht und “Kriegsmüdigkeit”.
Was für ein Wandel vom Ausbruch einer romantisch-heroischen Stimmung hin in das elende Aushalten und Verrecken in einem industriellen Massentöten und -sterben! Der Expressionist August Stramm notiert 1915: “Ich habe kein Wort. Ich kenne kein Wort. Ich muss immer nur stieren, stieren, um mich stumpf zu machen.” Kurz darauf fällt er in Russland am Dnepr-Bug-Kanal.
Dennoch: das “Augusterlebnis” wird auch in den kommenden Jahren immer wieder beschworen als nationale Erzählung, als große Feier der Einheit. Da selbst die Sozialdemokraten mit der Bewilligung für die Kriegskredite nicht mehr abseits stehen mögen, konnte Kaiser Wilhelm II. ausrufen: “Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.”
Nur noch Deutsche
Und er hat recht, ausgerechnet dieser leicht beschränkte, größenwahnsinnige Operettenkaiser mit seinem verkümmerten Säbelarm, Faible für Prunkuniformen und Matrosenlätzchen, ausgerechnet diese Pickelhauben-Karikatur spricht in der von seinem Kanzler Bethman-Hollweg erfundenen Losung eine einfache Wahrheit aus: es gab tatsächlich nur noch Deutsche.
Das “Augusterlebnis” ist durchaus auch eine Fabrikation, die den Schriftstellern der Zeit aus dem Urgrund des Volkes emporzudringen schien, und sie übersetzen, was sie dort vorzufinden glaubten, in eine hochgesinnte Begeisterung, ohne je darüber nachzudenken, ob sie es eventuell selbst dort hinterlegt hatten.
Tatsächlich wurde der Angriff unterfüttert von einer Art todesmutigen, antimodernen Ritterlichkeit, von der Erinnerung an die heroischen Tage der Befreiungskriege gegen Napoleon, für die Heinrich von Kleist in seiner “Hermannsschlacht” mobil gemacht hatte. Romantik und Blut und Boden.
“So muss es 1813 gewesen sein”
Der nach Frankreich gezogene Feldarzt Wilhelm Klemm notiert: “So muss es 1813 gewesen sein … wir leben in einer großen Zeit.” Dreißig Tage später, so Jörg Friedrich, hatte Klemm die große Zeit und 1813 satt. Leichenberge, Dreck und Kot bis an die Knie, tote Pferde mit aufgedunsenen Leibern.
Waterloo lag zwar auf der Strecke, doch dieser Krieg hatte nichts Heroisches mehr, und Klemm notiert: “Wir alle hoffen, dass der Krieg mit Frankreich bald zu Ende sein wird, die Franzosen leiden ja noch mehr als wie unsere Leute.” Und er fragt sich, worin es besteht, “das Geheimnis, das den Leuten zu so unsäglichen Leiden die Ausdauer gibt”. Er sehnt sich nach der erlösenden Kugel.
Es waren übrigens nicht nur die Leuchten der Literatur, die in die Tasten griffen, sondern über 50.000 Laien und Leser sandten eigene kriegstrunkene Gedichte an die Redaktionen. Thomas Mann sah seine Aufgabe in der “Ausdeutung, Verherrlichung, Vertiefung” der Kriegsgeschehnisse und seine Leser antworteten auf ihre Weise.
Auf der Suche nach der Schicksalsstunde
Vielleicht war doch etwas daran, dass hier ein ganzes Volk nach seiner Schicksalsstunde suchte? Vielleicht hatte Walter Benjamin recht, als er spekulierte, dass die Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges die nie erwartete Realisierung der Philosophie des Idealismus geleistet hätten.
Nun hatte sich der Idealismus des frühen 19. Jahrhunderts (und mit ihm die Idee einer Nation, die auch eine der philosophischen Vertiefung, der Träume, der Musik, der Emotionen, der edlen Ziele ein sollte) gründlich ausgeatmet in der wilhelminischen Gründerzeit.
Die Romantik der Befreiungskriege war vorgestern. Da die neue Zeit eine der Maschinen war, der Zwecke, der Rationalisierungen, der kapitalistischen Erfolgsgeschichte des Deutschen Reiches, schien es vielen unwahrscheinlich, dass es zum Krieg und damit zum Ausbruch des Irrationalen kommen könnte.
Krieg ist doch unklug und irrational!
Der britische Labour-Abgeordnete Norman Angell beruhigte in einem Brief an die deutsche Studentenschaft damit, dass ein Krieg in einer wirtschaftlich eng verflochtenen Welt keinen Sinn mehr mache. Weil dann “der Einfluss der gesamten deutschen Finanzwelt gegenüber der deutschen Regierung zum Tragen kommen würde, um eine für den deutschen Handel ruinöse Situation zu beenden”.
Das Argument ist plausibel. Krieg ist unklug. Krieg ist irrational. Krieg ist ein Rückfall in primitivere Zeiten. Angell vertraute auf die Sprache der Zahlen und auf die Welt der Bilanzen. Was aber, wenn das “Augusterlebnis” genau dagegen rebellierte?
Die expressionistischen Dichter Kasimir Edschmid, Albert Ehrenstein, Paul Zech, Georg Trakl meldeten sich freiwillig, genauso wie Richard Dehmel, Hermann Hesse, Ludwig Ganghofer, Klabund und viele andere. Der Expressionist Ernst Wilhelm Lotz freute sich darauf, den Krieg “ästhetisch zu erleben”.
Der drohende Tod konnte auch faszinieren
Tatsächlich wurde die öde Vulkanlandschaft des Schlachtfeldes in der Fantasie der Künstler zu einer großen Nullstellung, zur Metapher, zum leeren Blatt, auf dem neu geschrieben werden könne, und sei es das eigene Leben, dem nun, gesteigert durch die Todesdrohung, für Abenteurer wie Ernst Jünger eine besondere Faszination eingeatmet wird.
In einem seiner Fronttexte beschreibt er die Herausforderungen des stürmenden Einzelkämpfers vor dem gegnerischen Stacheldrahtverhau. Die “Überwindung solcher Schrecknisse” erforderte “körperliche, geistige und moralische Eigenschaften”, die weit über dem lägen, was man von einem Massenheer erwarten könne. Raus aus dem Graben, durchs feindliche Feuer und den nächsten Unterstand besetzen, mit Gebrüll und Bajonettstichen und Kugeln.
Julius Hart, naturalistischer Dichter, erwartete sich noch 1915 eine völlige Umwälzung durch den “Kriegsgeist”, der “mit einem Schlage die ganze Poesie der Mode, der Perversitäten und Dekadenzen … der formalistischen und technischen Leere hinwegfegen wird.” Der Krieg durchaus als Geländegewinn auch im Feuilleton, in erster Linie dort.
Viele verspürten eine deutsche Sendung
Was war es, was das Augusterlebnis für deutsche Dichter und Schriftsteller so unwiderstehlich machte? Zunächst wohl das Gefühl der Einheit. Doch dann sicher auch das Gefühl der eigenen Bedeutung, ja der Sendung, die viele in sich spürten.
Ein Hohes Priestertum mit allen Weihefloskeln schlich sich in die Prosa ein, von einem mystischen Auftrag war die Rede. Endlich wieder wahrgenommen zu sein, endlich wieder voranschreiten zu dürfen, endlich wieder die Deutungshoheit erlangt zu haben in “den höchsten Angelegenheiten der Nation”, das war es, was Rudolf Borchardt, etwa in seiner Schrift “Der Krieg und die deutsche Verantwortung”, mit Genugtuung erfüllte.
Allerdings hatte die Weltzertrümmerung ihren ästhetischen Reiz auch für die unzähligen Avantgarde-Bewegungen, die sich um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit stritten, und das nicht nur in Deutschland. In Italien hatte Filippo Tommaso Marinetti mit seinem Manifest der Futuristen ja bereits 1909 zuvor “die Liebe zur Gefahr” besungen: “Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes”.
Kult des Hässlichen, Kranken, Wahnsinnigen
Den Expressionisten konnte die Sprachzertrümmerung kaum weit genug gehen. Schon die Lyrik von August Stramm, dem unseligen Kriegsfreiwilligen, hatte die Anmutung von Stoßfeuern und Schrappnellen in eine abgespeckte substantivierte Sprache umgesetzt. Jede Nuancierung, jedes Adjektiv war abgeworfen wie überflüssiges Gepäck. Freudenhäuser waren ein beliebtes Sujet: “Lichte dirnen aus den Fenstern/ Die Seuche/ Spreitet an der Tür…”.
Paradoxerweise pflegten diese kriegsbegeisterten Avantgardisten all das, gegen was der kriegsbegeisterte Großbürger Thomas Mann anschrieb: Sie pflegten den Kult des Hässlichen, Kranken, Wahnsinnigen. Raus aus den Salons und hinein in die Gefahr, ins wirkliche Leben.
Kriegsbegeisterung gab es übrigens nicht nur in Deutschland. In diesem Krieg sollte es nicht nur um Deutungshoheit gehen, sondern um die Welthoheit der Kultur, und mit Begriffen wie “Völkerringen” wurde er quasi zur Fortsetzung der Olympiade mit kriegerischen Mitteln.
Auch die Mächte der Entente waren kriegswillig
Lang hielt sich die Version, dass dem Deutschen Reich nichts anderes übrig blieb als dieser “Griff zum Schwert”. Mittlerweile sind sich die Historiker tatsächlich einig, dass auch die Großmächte der “Entente” durchaus kriegswillig waren. Die geistige Aufrüstung gab es auch dort. Allesamt, wie Christopher Clark anschaulich und plausibel belegt, “Schlafwandler”.
Diese merkwürdig erhitzte serbische Terroristengruppe “Schwarze Hand”. Das Attentat in Sarajewo. Ein österreichischer Kriegsminister, der eine Industriellengattin noch während der Balkankrise mit ausschweifenden Liebesbriefen versieht und das täglich! Und alle erinnerten an Goyas Aquarell mit dem Titel: “Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer”.
In Frankreich wurde der sozialistische Pazifist Jean Jaurès von einem Kriegsfanatiker erschossen, und lange vor Ernst Jünger war es Rudyard Kipling, der von der Mission des kriegführenden britischen Empire erfüllt war und in Gedichten wie “The White Man’s Burdon” das Sendungsbewusstsein kolonialer Offiziere ausstaffierte.
Auch die englischen Dichter hetzten gegen die Hunnen
Nun hatte er mit seinem Gedicht “The hun is at the gate” – Der Hunne steht vor den Toren – die britische Kunstelite um sich geschart. In einem offenen Brief hatten sich 52 Schriftsteller für den “Gerechten Krieg” gegen die Hunnen – die Deutschen – ausgesprochen.
Kurz zuvor, im Oktober 1914, waren es 93 prominente Vertreter des deutschen Geisteslebens mit ihrem Manifest “An die Kulturwelt”, die für “Deutschlands reine Sache” und den “ihm aufgezwungenen Daseinskampf” in den Kampf zogen, unter ihnen Max Reinhardt und Gerhart Hauptmann, Max Planck und Wilhelm Röntgen.
Einigen der früh Entflammten gelang es, das Unheil auch ohne Schützengraben-Erlebnis früh zu erkennen. Er hatte sich in Basel, wohin er gezogen war, als Freiwilliger bei der deutschen Botschaft gemeldet. Er wurde allerdings als untauglich befunden und der “Bücherzentrale für deutsche Kriegsgefangene” zugeteilt und versorgte Internierte mit Lektüre.
Hermann Hesse wurde früh vernünftig
Doch schon im November 1914 veröffentlichte er den Essay “O Freunde, nicht diese Töne”, in dem er seine Kollegen vor nationalistischer Propaganda warnte. Mit dem französischen Pazifisten Romain Rolland verband ihn eine tiefe Freundschaft. Alte Freunde sagten sich von ihm los. Kübelweise gingen Hassbriefe gegen ihn ein, die Presse attackierte ihn, seine Bücher wurden zu Ladenhütern.
Mit Thomas Mann allerdings brach er nie. Der wiederum war elektrisiert von Hesses “Demian”, einem 1917 in einem dreiwöchigen Arbeitsrausch verfassten Roman über die Verführbarkeit der Jugend, über Tod und Teufel und die Strudel des Irrationalen. “Unvergesslich die elektrisierende Wirkung”, schrieb Mann, “eine Dichtung, die mit unheimlicher Genauigkeit den Nerv der Zeit traf”.
Hermann Hesse war seine erste Anlaufstation, als er sich vor Hitler-Deutschland ins Ausland rettete. Doch noch im amerikanischen Exil, während seiner “demokratischen Opposition Maienblüte”, mochte er seiner Haltung, seinen Gedanken zum Ersten Weltkrieg nicht abschwören. Er fand sie “interessanter”.
Die legendäre Anthologie “Menschheitsdämmerung” von Kurt Pinthus aber, die 1919 erschien, dieser große Kanon expressionistischer Lyrik, wurde zum Gespenstertanz aus Lebenden und Toten. Viele der dort aufbewahrten Künstler waren verreckt im Krieg. Doch ihre Gedichte leuchten bis heute.
Erschienen am 16.08.14 www.welt.de
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