Fotos: Joe Portolano

Sie kommen aus allen Alltagsbereichen und Berufen. Ingenieure, Senatoren, Bischöfe, Professoren, Lehrer. Sie bilden den neuen katholischen Widerstand in einer versumpften Gegenwart, ja, eine neue katholische „Reconquista“ gegen ein neues Heidentum, das Kreuze zertrümmert, Kirchen in Brand setzt, die Geschlechter von Kindern umoperiert.

Sie scharen sich um einen Bannerträger, den man durchaus als merkwürdigen Heiligen bezeichnen kann: um den britischen Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton (1874 –1936), ein Polemiker und kreatives Kraftwerk, der über 200 Bücher, 6000 Essays, Gedichte, Theaterstücke verfasst hat und von Ernst Bloch „einer der klügsten Menschen, die je gelebt haben“ genannt wurde.

Vor allem aber stritt er mit Büchern wie seiner „Orthodoxie“ gegen eine schon damals zersetzende Moderne, die sich auch innerhalb der Una Sancta breit machte. Er schrieb: „Die katholische Kirche ist die einige Institution, die den Meschen vor der entwürdigenden Sklaverei bewahrt, ein Kind seiner Zeit zu sein.” Papst Leo XII. ernannte ihn zum „defensor fidei“ den Verteidiger des Glaubens. Ja, die Chestertonians graben die Hacken ein.

Die „American Chesterton Society“ ist ein Netzwerk, das mittlerweile über 60 Schulen und Ortsgruppen nicht nur in sämtlichen Bundesstaaten, sondern ebenso in Ländern wie Chile oder der Slowakei gegründet hat, ein gigantisches Missions-und Bildungswerk, das sich gegen die Auflösungserscheinungen der christlichen Kultur stemmt, wie sie sich etwa auf der letzten Olympiade durch die Verhöhnung des Abendmals manifestiert hat.

Ihren Gründer Dale Ahlquist habe ich vor zehn Jahren bei ihrem Jahrestreffen in San Antonio kennengelernt. Der Tagungsort konnte nicht besser gewählt werden – gleich nebenan lag die Ruine der legendären Alamo-Mission, in der sich die Widerständler um James Bowie und Davie Crockett gegen eine mexikanische Übermacht zur Wehr setzten. Sie kämpften bis zum letzten Mann uns verschafften der US-Armee die notwendige Zeit zum Sieg. Mut und Kampfbereitschaft bis in den Tod.

 

Hinter dem Büchertisch steht Dale Ahlquist, blond und breitschultrig und riesig wie ein schwedischer Holzfäller, und grüßt und palavert und umarmt, er ist Chef und Gründer der American Chesterton Society und so ausgreifend, als könne er Alamo alleine verteidigen, was in diesem Falle die Bastion Chesterton wäre.

In seiner Begrüßungsrede ließ er per Handzeichen feststellen, wer zum ersten Mal dabei ist – rund ein Drittel! Die Bewegung rollt! Dann, per Handzeichen, wer konvertiert ist zum katholischen Glauben. Es sind zwei Drittel, entspricht Dales eigener Geschichte. Er erzählte sie mir in einer Churrascaria an der Riverside, einer Flusspromenade.

Dass er je katholisch werden würde, war für Dale, den Evangelikalen, ausgeschlossen. Er kannte nicht nur die Bibel auswendig, sondern auch alles, was an der katholischen Kirche falsch war. Nämlich alles. Die Reliquien, die Kapellen, die Wallfahrtsorte, die Heiligen, die Sakramente, die zölibatären Priester, der Papst, vor allem der. Doch er hatte zur Hochzeit dieses Buch von seinem Schwager geschenkt bekommen, das sein Leben verändern sollte: Chestertons „The Everlasting Man“, der unsterbliche Mensch.

Als er Kinder bekam, entschied er sich in der Vielzahl der Tausenden von protestantischen Sekten für die „home church“ – tatsächlich war da nichts in einer protestantischen Kirche, so sagt er, was sie nicht auch zu Hause tun könnten.

Dann spricht er ein Paradox an, das von Chesterton stammen könnte: „Man kann nicht die Autorität der Schrift nutzen, um die Kirche zu attackieren, denn es war erst die Kirche, die der Schrift ihre Autorität gab. Die Hierarchie, die Sakramente, die Doktrinen waren installiert, bevor der biblische Kanon festlag. Jahrhunderte vorher.“

Man kann, so Chesterton, zur katholischen Kirche sagen: alles Blödsinn. Aber man kann nicht sagen: alles Blödsinn – bis auf die Schriften. Die Protestanten nahmen die Schriften und ließen die Kirche zurück. Das ist Dales Geschichte. Er fuhr durchs Land und hielt Vorträge und half beim Aufbau der Gruppen, sein Sohn Michael unterrichtet an einer der Schulen und ist Spezialist für Thomas von Aquin, über den Chesterton die wohl beste Biografie geschrieben hat.

Nun hatte ich mich zur Feier des 125. Geburtstages Chestertons erneut in Bewegung gesetzt,  ein paar Wochen vor der US-Wahl. Doch mein Weg dorthin war so beschwerlich und abenteuerlich wie mein Besuch der Chesterton-Konferenz zehn Jahre zuvor. Offenbar will er es ausgerechnet mir, einem seiner treusten Adepten, nicht einfach machen. Hier mein Bericht:

Von Gilbert K.Chesterton, dem brillantesten Journalisten der englischen Literatur, war bekannt, dass er äußerst zerstreut war. Oft passierte es, dass er mitten im Verkehr stehen blieb, um über eine gelungene Formulierung, ein hübsches Wortbild, ein Paradox nachzusinnen. Er bildete dann mit seinen rund 2 Metern und 150 Kilogramm eine eigene Verkehrsinsel, eine im Übrigen äußerst komische mit seinem albernen Hütchen auf den wirren Locken, dem weiten Umhang, dem Monokel.

Da er zudem ein äußerst gefragter Vortragskünstler und Debattierer war, war er oft unterwegs. Berühmt ist die Anekdote, nach der er vergaß, wo genau er aufzutreten hatte. So schickte er seiner Frau einst ein Telegramm mit den Worten „Bin in Hampstead, wo sollte ich sein?“ Seine leidgeprüfte und ewig besorgte Frances antwortete: „Zu Hause“.

Bei mir wäre die richtige Antwort gewesen „Philadelphia“.

Jawohl, Philadelphia, nicht Pittsburgh, ich Idiot!

Tatschlich hatte ich für meinen Besuch der „American Chesterton Society“ einen Flug nach Pittsburgh gebucht, statt nach Philadelphia. Und ich habe noch nicht einmal die Entschuldigung, ein Genie zu sein. Ich bin einfach ein Trottel. Besonders wenn ich Reisefieber habe, welches im Alter zunimmt, statt abzuklingen.

Pittsburgh also, nach einem mächtigen Stolperstein vor der Einreise von Toronto aus, worüber später zu berichten sein wird.

Pittsburgh um Mitternacht, nach 20 Stunden auf den Beinen, mit Freude aufs Bett im Doubletree-Hotel „King of Prussia“. Stellt sich raus: das ist gar kein Hotelname, sondern Städtchen in der Nähe Philadelphias. Wer kommt auf die Idee, seine Stadt „König von Preußen“ zu nennen? Der marokkanische Taxifahrer ist ratlos. Die Fahrt dahin kostet ein Vermögen. Schnell zurück in die Ankunftshalle zu den Mietwagen-Verleihern, Budget, Dollar, Hertz sind bereits geschlossen, Schlange bei Avis, allerdings nur für Vorbestellungen.

Philadelphia, ich Idiot! Ich Versager, ich Loser, ich habe es schon wieder vermasselt. Dabei wollte ich doch nur GUTES. Ich wollte den großen Katholiken und Essayisten und “Apostel des Gesunden Menschenverstandes“ feiern und nach Deutschland bringen. Und in die calvinistische Schweiz, meinetwegen, ich bin für die Zürcher „Weltwoche“ unterwegs, aber nichts braucht auch die Schweiz in diesen Tagen dringender als Gesunden Menschenverstand!

Wieder zurück, Taxifahrer weg, der nächste, erneut ein Araber, kennt jemanden, der das billiger machen würde, und der düst fünf Minuten später an, netter Kerl, Abdul Abdulim aus dem Senegal, schwarz wie die Nacht mit Kinnbart, der Preis wird noch ein bisschen runtergehandelt, die Spesenabteilung wird mich köpfen, schließlich geht es quer durch den Staat vom äußersten Westen bis zum äußersten Osten, Kaffee an der Tanke und Energy-Riegel, dann ab. Das christliche Abendland retten, jawohl, denn nichts Geringeres steht auf dem Spiel!

Hier wäre jetzt eine berühmte Chesterton-Weisheit angebracht, nämlich: „An inconvenience is only an adventure wrongly considered” – ein Missgeschick ist lediglich ein Abenteuer, das man falsch verstanden hat.

Also hinein ins Abenteuer, hin zu Chesterton, der hier – aber nicht nur hier in den Staaten – eine absolute Kultfigur für Katholiken ist, besser: für traditionelle Katholiken, also solche, die nicht dem woken Zeitgeist hinterherhecheln und mit Regenbogengewändern hinter ihren Altären stehen und LGTBQ-Hochzeiten absegnen, sondern die una sancta und sich selber und ihren Glauben ernst nehmen.

Zurück in die Nacht von Pittsburgh. Ich bin müde und aufgekratzt gleichzeitig, und setze meine Selbstbeschimpfungen für weiter fünf Minuten fort. Penner, Null, absoluter Amateur, nie krieg ich was auf die Reihe.

Konzentriere mich schließlich auf Abdul, der die Interstate 76 nimmt und später die 80, er rast professionell wie van Diesel in Fast&Furious , angespornt durch ein mächtiges Trinkgeld-Versprechen,  wir sind südlich von Butler, wo sechs Schüsse auf Donald Trump möglicherweise einen zweiten Bürgerkrieg entfesselt hätten in dieser bis in die Familien hinein gespaltenen Nation.

Ja, wir zischen über blutgetränktes Gelände durch die amerikanische Nacht. Bürgerkriegsgelände, Gettysburg, Harrisburg, Schlachtfelder mit insgesamt hunderttausenden von Toten, damals, als der Süden unter General Lee gegen die Nordstaaten vorrückte.

Und es ist gerade mal 160 Jahre her in dieser so wahnsinnig jungen Republik, dass ihr Präsident Lincoln erschossen wurde, weitere sollten folgen.

Als ob er Gedanken lesen könne sagt Abdul „ein Inside Job“, da ist er sich sicher, schließlich wimmelte es dort in Butler vor Secret Service Agenten, und trotzdem konnte dieser Irre auf dem Dach einer Lagerhalle frei herumkriechen. Untätige Personenschützer, man ließ ihn gewähren, wo er, Abdul, herkommt, verfährt man so mit unbequemen Oppositionskandidaten.

„Da hat Gott die Hand im Spiel gehabt“, sagt Abdul, der Moslem. Er setzt auf Trump. Einer muss die verdammte Grenze schließen, endlich. „Die meisten, die da reinströmen, führen Übles im Sinn.“ Seit 13 Jahren lebt Abdul hier, seine Frau hat einen Schönheitssalon in Florida, manchmal fährt er die 20 Stunden da runter. Sie telefonieren oft, auch jetzt ruft er sie an.

Wie fantastisch, ausgerechnet mit einem eingewanderten Senegalesen einer Meinung zu sein über Trump. Trump wird Frieden bringen in der Ukraine und den woken Wahnsinn weltweit stoppen. Chesterton hat recht: meine Misslichkeit wird allmählich tatsächlich zum Abenteuer, es gibt keine bessere Annäherung an das Amerika der Wahlkämpfe in diesen Wochen, als eine lange Tour auf dem Highway mit Frank Morenos „After Midnight“-Show auf AM, da rufen die an, die um den Schlaf gebracht sind.

Themen sind: die Inflation, die gebrochenen Versprechen der Politik, die spielsüchtige Schatzmeisterin der Synagoge, die 300 000 Dollar veruntreut hat, die gestiegenen Preise für Benzin und Milch, die Drogenflut, das Cover Up der Demokraten, den dementen Präsidenten Joe Biden erst zu schützen, dann fallen zu lassen und ihn mit einer linksradikalen Kandidatin zu ersetzen, die nie eine Vorwahl gewann, aber ins Ticket passte, weil sie die Woke Agenda bediente.

Wenig Verkehr, das ist der Vorteil der Night-Rider, selbst die zahlreichen Baustellen sind kein Problem, Abdul telefoniert mit seiner Frau, dann erzählt er von seiner Hadj nach Mekka, die er vor drei Jahren mit ihr absolvierte, ja, er ist gläubig und betetet die vorgeschriebenen fünf Mal am Tag, wir sind in Gottes Hand, sagt er, natürlich sei er kein Freund der Radikalen und ich ziehe vor, ihm nicht zu erzählen, was Chesterton zum Islam geschrieben hat, dieser Religion des einsamen Wüstengottes, die nur in der Wüste entstehen konnte und die ihre Apokalypse ständig erneuern muss.

Tatsächlich schaffen wir es in Rekordzeit ins Gelobte Land, ins Double Tree Hotel in „King of Prussia“, das Städtchen, das sich nach einem Gasthaus benannte, welches von einem Quäker-Ehepaar 1719 errichtet wurde, ungefähr einen Pferderitt von Philadelphia entfernt.

Georg Washington hat hier campiert während des Unabhängigkeitskrieges.

Aber auch die Soldaten, die sich hier im Namen Chestertons versammelt haben, mit rund 400 Teilnehmern durchaus in Bataillonsstärke, sind nach einem Frühgottesdient im großen Ballsaal angetreten, um für ihre Unabhängigkeit zu kämpfen, die nicht wie der Islam (oder der ideologische Terror der Diversity-Religion) auf Unterwerfung aus ist, sondern auf eine innere Freiheit, und die für einen Glauben kämpfen, der der westlichen Kultur fehlt: Hoffnung und Verstand und grenzenlose Dankbarkeit für das Geschenk des Lebens.

Das vor allem ist es, was Chesterton so aktuell und wichtig macht: diese geradezu kindliche Fröhlichkeit, die gepaart war mit philosophischer Tiefe und Menschenklugheit, von der auch Hannah Arendt tief beeindruckt war und die besonders seine populärste Figur auszeichnete, den schlichten Father Brown, der in unzähligen Filmen und TV-Serien die verzwicktesten Kriminalfälle löst.

Tatsächlich ist Sir Alec Guiness, einer der ersten großen Verkörperer der Figur, auch durch den Einfluss Chestertons zur katholischen Kirche konvertiert. Er erinnert sich, dass er während der Filmarbeiten in Frankreich in der Abenddämmerung in seinem schwarzen Priesterhabit den Weg in ein kleines Dorf hinaufnahm, als er plötzlich ein Fußtrappeln hinter sich hörte und den Ruf: „Mon père!“

„Meine Hand wurde ergriffen von einem Jungen von sieben oder acht Jahren, er fasste sie fest, und schwang sie hin und her, und plapperte drauf los ohne aufzuhören. Er war voller Aufregung, er hüpfte fröhlich und sprang, ohne meine Hand loszulassen. Ich traute mich nicht, irgendetwas zu sagen, um ihn nicht durch mein schlechtes Französisch zu verschrecken. Obwohl ich ein völliger Fremder war, nahm er an, dass ich ein Priester war und daher vollkommen vertrauenswürdig. Mit einem plötzlichen „Bon soir, mon père“ machte er dann eine kurze Verbeugung und verschwand in einem Loch in der Hecke…Er ließ mich zurück in einer merkwürdigen ruhigen Hochstimmung.“

Alec Guiness setzte seinen Weg fort mit dem Gedanken, dass eine Kirche, die ein derartiges Vertrauen durch seine Priester vermittelt, ganz sicher nicht dem Vorurteil entspricht, mit dem man ihr begegnet. Nun, er konnte nicht wissen, dass man ein halbes Jahrhundert später in jedem Priester einen Sexualstraftäter vermuten würde, was wohl die wirkungsvollste Art ist, eine verhasste Glaubens-Institution aus dem Spiel zu nehmen.

Ich selber bin katholisch aufgewachsen, mit Heiligen und Schutzengeln, mit Messen, Beichten und Marienandachten und bin in einem katholischen Internat erzogen worden, charakterbildend, mit wahrscheinlich durchwachsenem Erfolg. Aber ich habe nie eine derart diabolische Übergriffigkeit erlebt.

Diabolisch durchsetzt und durchaus interessant waren eher die Jahre, die ich als Teenager außerhalb der Kirche verbrachte und mich dem Maoismus verschrieben hatte in einer Kiffer-WG, in dem damals angesagten Gemischs aus Klassenkampf-Drogen-Freie-Liebe. Aber, wie sagt es Chesterton, ein Katholik muss auch die dunklen Attraktionen des Heidentums kennen, um von ihnen reden zu können.

Nun, von all dem ist nur meine Aufsässigkeit geblieben. Deshalb gelte ich auch der Katholischen Kirche in Deutschland als suspekt, die im Übrigen wie die evangelische tief im Ablasshandel verstrickt ist, denn was ist eine Kirchensteuer anderes, die verfügt: Sakramente nur gegen Vorkasse!

 

Bei uns schwingen Kirchen das große Wort, und sie versuchen, statt zu Gott zu beten, dessen Geschäfte in die eigenen Hände zu nehmen. Sie predigen nur noch die Fernstenliebe und die Grenzenlosigkeit. Bürokraten mit schlaffen Hängebacken, die Konservativen wir mir das Christsein absprechen, und die das „Vater unser“, das Herrengebet, in „Mutter aller“ abändern wollen. Und die Protestanten? Mittlerweile nichts mehr als Vorfeld-Organisationen von grünen Klimaklebern.

Die American Chesterton Society stemmt sich gegen diese sich ausdünnende Christianisierung, die einst das Abendland begründet hat. Natürlich sind hier die Bilder der olympischen Eröffnungsfeier angekommen, auf der da Vincis „Letztes Abendmahl“, eine Ikone unseres Glaubens, zu einer bösartigen Freakshow verfratzt wurden.

Den Frühgottesdienst im Konferenzsaal hält Militärbischof Joseph L.Coffey, er spricht die Wandlungs-Worte „Dies ist mein Leib, der für euch hingegeben wird, tut dies zu meinem Gedächtnis“, die Gläubigen knien vor ihren Stühlen und anschließend entscheiden sich die meisten nicht wie bei uns stehend für die Handkommunion, sondern empfangen das Allerheiligste kniend auf die ehrfürchtigste Weise und lassen sich die Hostie auf die Zunge legen.

An den Büchertischen in der Halle tippt mir die zarte Sara Stutzman auf die Schulter, großes Hallo und Umarmung, ich habe sie und ihren Mann John vor zehn Jahren auf der Conference in San Antonio kennengelernt, sie erinnert noch immer an Meryl Streep, auch wenn sich graue Strähnen in ihr Blond gemischt haben. John, der kurzgeschorene Pilot, ist mittlerweile pensioniert und Großvater von 13 Enkeln, er hat Schreinern als sein Hobby entdeckt, rustikale Meisterwerke, er zeigt sie mir stolz auf seinem Handy.

Da sitzt Susan Sucher hinter ihrem Tisch mit den Chesterton-Buttons, Mutter von neun Kindern, sie hat in den Tagen vor dem Event über Zoom eine Lektüre-Gruppe geleitet zu Chestertons Buch „Der Unsterbliche Mensch“, das einst den Atheisten C.S.Lewis, den Autor der „Narnia“-Bücher, zum Christentum bekehrt und den Medientheoretiker Marshal McLuhan zum Katholiken gemacht hat.

Jawohl, ich bin unter Missionaren! Konzentrierte Intelligenz und ein begeisterndes katholisches Brausen, wie ich es in Deutschland nie erlebt habe. Allenfalls damals in Madrid mit den Millionen, als ich Papst Benedikt zum Weltjugendtag begleiten durfte.

Chesterton war Journalist durch und durch. Unabhängig, sprudelnd, witzig, Ja, in den 1920er Jahren, gab es noch Zeitungen, die den Ehrgeiz zur Vielfalt der Meinungen hatten, die Kontroversen schätzten und einen herausragenden Kerl wie Chesterton verehrten, statt ihn auszugrenzen. Später hat er seine eigene Zeitschrift herausgegeben, das Chesterton Weekly, nach dessen 500.Ausgabe er schrieb: „Wir hatten zu kämpfen, mit einer wunderbaren Belegschaft und kaum Geld.  Aber wir können es einfach nicht lassen, an die Intelligenz der menschlichen Rasse zu appellieren…“

Er kam aus Kunst und Literaturkritik, aber er mischte auch die Politik auf, polemisierte gegen Englands imperiale Großmannssucht im Burenkrieg, gegen den Kapitalismus der Oligopole, gegen den Kommunismus seins Freundes George Bernhard Shaw.

Er veröffentlichte zunächst in der Daily Mail und lieferte mit seiner Essay-Sammlung „Heretics“ (dt: Ketzer) einen ersten Bestseller. Es waren Zeiten wie heute, die ihren Kompass verloren hatten und die „Wissenschaft“ zur Ersatzreligion erklärten, wie sie der Schriftstellerkollege H.G.Wells propagierte. Utopisten und Weltgestalter, kennen wir das nicht aus unseren Tagen?

Wells agitierte darüber hinaus gegen den Patriotismus und träumte von einem Weltstaat. Chesterton: „Wer nicht mehr an Gott glaubt, glaubt an alles mögliche“. Da wäre das kommunistische Menscheitsbeglückungs-Gewerbe seines Freundes Shaw. Chesterton suchte mit seinem „Distributismus“ einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Bolschewismus, inspiriert auch durch die Sozialenzyklika von Papst Leo XIII., der sich in „Rerum Novarum“ des ausgebeuteten Industrieproletariats in England angenommen hatte.

Obwohl Shaw und Chesterton die Klingen kreuzten, blieben sie ein Leben lang befreundet – zu ihren öffentlichen Debatten wie der in Oxford erschienen 5000 Menschen.

Chesterton schrieb über alles. Er schrieb über die unverantwortliche “Sanftmut“ der Sensationspresse und hebelte die Angriffe auf die Institution der Familie aus, die für ihn Kernzelle jeder Gesellschaft war. Und er schob Bücher dazwischen, Biografien, Gedichtbände, Romane.

Auf Wunsch seiner Gegner ließ er den „Ketzern“ seine „Orthodoxie“ folgen, denn sie wollten sehen, was er nun positiv anzubieten hatte. Seine Antwort war sein eigener Weg in den Glauben. Er lieferte, wie Martin Mosebach es im Vorwort zur deutschen Ausgabe nannte, einen „anthropologischen Gottesbeweis“, und er beschrieb Chesterton als einen, der es genießt „im Spiel seiner unerschöpflichen Begabung wie ein Seehund, dem niemals die Lust ausgeht, sich von einem Felsen ins schäumende Wasser werfen.“

Dabei enthält Chestertons Orthodoxie bei aller Spritzigkeit doch auch Systematik, eine Struktur, eine Architektur. Zunächst legt er das Fundament des Glaubens fest und beleuchtet – wie aktuell ist das denn?- die Versuchung, sich selber nicht mit Gott zu verwechseln. Für Heutige:  Nicht zu glauben, wir könnten die Geschlechter bestimmen oder das Erdklima.

Er beginnt mit der zur Plattitüde heruntergekommenen Forderung, an sich selber zu glauben und nur an sich selber. Er erinnert sich an das Gespräch mit einem Verleger, der über einen Autor sagt: „Der Mann wird es weit bringen; er glaubt an sich“.  Wie es der Zufall will, sieht Chesterton in diesem Moment einen Omnibus mit der Ziel-Aufschrift „Hanwell“.

Hanwell war der Name einer Irrenanstalt.

Und er entgegnet: „Wollen Sie wissen, wo sich die Leute befinden, die am meisten an sich glauben? Ich kann es Ihnen sagen. Ich kenne Leute, deren Glaube an sich selbst unerschütterlicher ist als der eines Napoleon oder Cäsar. Ich weiß, wo der Fixstern des Selbstvertrauens und der Erfolgsgewissheit am hellsten glüht. Ich kann Sie zu den Thronen der Übermenschen bringen. Die Menschen, die wahrhaft an sich glauben, stecken alle in Irrenanstalten.«

Die, wie wir wissen, von Napoleons überfüllt sind.

Und er setzt hinzu: „Absolutes Selbstvertrauen ist nicht nur eine Sünde; es ist auch eine Schwäche“.

Er nennt das Kapitel „Der Besessene“. Er stellt den Wissenschafts-Logiker gegen den Dichter, für den er selbstverständlich alle Sympathien der Welt hat. „Der Dichter will nichts weiter, als den Kopf in den Himmel zu stecken; der Logiker sucht den Himmel in seinen Kopf zu stecken, dabei platzt ihm der Kopf“. Das ist durchaus die Flughöhe eines Heinrich Heine mit dessen trauriger Warnung vor der sozialistischen Prosa seiner Zeit, die die Lieder ersetzen möchte.

In den nächsten Kapiteln rechnet er mit den gängigen philosophischen Strömungen seiner Zeit ab. Da wäre der Determinismus, der absurderweise in einer Leugnung des freien Willens endet und damit auch der Freiheit, selber zu denken, also in eine Absurdität mündet. Sodann der Kommunismus, der das freie Denken lieber einkerkert.

Im berühmten 4.Kapitel äußert er sich sodann zur „Ethik des Feenlandes“, das nichts ist als ein kindliches Staunen über die Schönheit der Schöpfung, eine Voraussetzung des christlichen Glaubens. Er beginnt mit jenem Ratschlag, mit dem Ältere die Jüngeren zu belehren pflegen: „Werde erst mal erwachsen, dann wirst du deine Ideale schon ablegen und pragmatisch werden“.

Dazu Chesterton: „Meine Ideale habe ich ganz und gar nicht verloren, eingebüßt habe ich lediglich meinen kindlichen Glauben an den Parlamentarismus“. Worin ihm die meisten auch heute zustimmen würden.

In seiner eigenen Kindheit war es das alles überstrahlende Glück, wenn die Amme ihm Märchen vorlas. Alles wurde plötzlich wunderbar. Die Tatsache, dass das Gras grün ist. Oder dass morgens die Sonne aufgeht. Alles geschieht für das kleine Kind wie zum ersten Mal – wie in einem Märchen. Und da es so schön ist, will ein Kind die Wiederholung. Als Kind, erinnert er sich, wollte er immer das gleiche Märchen noch einmal hören. Und er stellt sich Gott wie ein Kind vor, der jeden Morgen zur Sonne sagt: „Noch einmal“.

Staunen ist, wie der Glauben, eine Sache von Kindern, je früher, desto größer ist es, und jeder Geburtstag ist der erneute Versuch, das Kind zu erinnern, das man einst war. Chesterton: „Ein siebenjähriges Kind ist begeistert, wenn man ihm erzählt, dass Fritzchen eine Tür aufmachte und einen Drachen erblickte. Ein dreijähriges Kind dagegen ist schon begeistert, wenn man ihm erzählt, Fritzchen habe eine Tür aufgemacht. Kinder mögen romantische Geschichten; Kleinkinder aber mögen realistische Geschichten – weil sie ihnen romantisch erscheinen.“

Und dann hängt er die typische Volte des Literaturkritikers an:

„Tatsächlich dürfte, wie ich vermute, einzig und allein ein Baby aufgelegt sein, sich einen modernen realistischen Roman anzuhören, ohne vor Langeweile zu sterben. Das beweist, dass selbst Märchen nur einen Nachklang des überschwänglichen Interesses und Staunens bilden, das uns an der Schwelle unserer pränatalen Existenz erfasste.“

Im weiteren Verlauf verteidigt er die Doktrinen der Katholischen Kirche, die für ihn Felsen der Vernunft darstellen. Da wäre die der Erbsünde. Für Chesterton eine große Wahrheit: Dass der Mensch sündig ist, war für ihn „handgreiflich wie eine Kartoffel“, und dass er sich seinen Schmutz abwaschen muss, gilt für alle. Weshalb das Sakrament der Beichte die großartigste Erfindung der Welt ist.

Die Beichte sei morbide, wie ein Gegner einwand? „Morbide wäre es, seine Sünden nicht zu beichten. Morbide wäre es, sie zu verbergen und sie dein Herz auffressen lassen, was wohl der fröhliche Zustand unserer zivilisierten Gesellschaft ist.“ Ach ja, an jedem Nachmittag dieser Tagung gibt es Beichtgelegenheiten und auch dieser Reportage wird, befürchte ich, nicht ohne auskommen.

Chesterton brauchte lange, bis er sich zum formalen Eintritt in die Kirche entschloss aber im Grunde war er lang vorher katholisch. Er schrieb: „Die katholische Kirche ist die einzige Sache, die einen Menschen vor dem entwürdigenden Schicksal bewahrt, ein Kind seiner Zeit zu sein“.

Im Doubletreee Hotel begannen die Tage mit Gottesdiensten und endeten mit einem Rosenkranzgebet und wie erwähnt Beichte, gefolgt von dem “Afterglow“ genannten Besäufnis an der Bar, ganz im Geiste Chestertons, der ein großer Trinker war und ein frommer dazu: er schlug über jedem Glas Whiskey ein Kreuzzeichen.

Auch das übrigens unterschied ihn von seinem Freund Bernhard Shaw, der Vegetarier und Anti-Alkoholiker war und im übrigen dünn wie eine Bohnenstange.

„Mein Gott, George“, rief Chesterton einmal aus. „Du siehst ja aus, als ob du gerade einer Hungersnot entkommen seist“. Darauf Shaw: „Und du siehst aus, als ob du sie verursacht hättest.“

Höhepunkte für mich waren die Vorträge von Joe Gabrowski, dem Schatzmeister der Society, über die zunehmende Vereinsamung in Zeiten der sozialen Medien. Freundschaften verlagern sich ins Virtuelle. Die Show der Chesterton Troubadoure, in der Fachleute ihre Lieblings-Passagen referierten, sowie das prächtige Chesterton Double. Sowie Joseph Pearce’s Vergleich von Chesterton und seinem engsten katholischen Freund Hillaire Belloc, die derart synchron ihre Gegner in Grund und Boden debattierten, dass Shaw aus ihnen ein Ungeheuer schuf, das er „Chesterbelloc“ nannte.

Belloc war der Abenteurer, der Wildere und Unversöhnlichere der beiden. Einst platzte er verdreckt von einer langen Wanderung in eine Abendgesellschaft, die Chesterton für seinen Nachbarn gab, den erfolgreichen amerikanischen Romanautor Henry James, der britische Vornehmheit geradezu albern demonstrierte, mit dem Ruf „Bier her, und Schinken“.

Im Doubletree-Hotel werden katholische Rowdies wie Belloc gefeiert, vielleicht fühle ich mich hier deshalb so wohl. Hier treffen durchaus gesittete Professoren, Hausfrauen, Familienväter, Priester aufeinander, die ausgesprochen normal aussehen und alle wild at heart sind und sehr entschlossen keine Kinder ihrer Zeit sein. Aber eben gut drauf. Viel Gelächter, beim Essen, während der Vorträge, denn Chesterton macht Lachen.

Sie sind die katholische Counterculture und sie tendieren dazu, den verwahrlosenden Spuk der woken Demokraten abzuwählen, soviel entnehme ich den Gesprächen bei Lunch und Dinner, endlich weg mit den Verlogenheiten der progressiven Agenda, dem Geschlechtertanz mit seiner infantilen Fixierung auf Fortpflanzungsorgane sowie der Unterstützung des US-Kriegs in der Ukraine, den durchlässigen Grenzen.

Für die Argusaugen der deutschen Reformkirchen wären das hier lauter Verdachtsfälle.

Chestertons lesenswerte Autobiografie, die er kurz vor seinem Tode 1936 diktierte, beginnt mit einer Pointe, und zwar mit dem Rückblick auf seine Taufe in einer Kirche, die neben einem gigantischen Wasserturm stand. Mit energischem Unernst weist er das Gerücht zurück, dass diese Kirche gewählt worden sei, weil es „der ganzen Wasserkraft von Westlondon bedurfte, mich in einen Christen zu verwandeln“.

Sein Vater war Unitarier und Liberaler, aber einer, der „wie alle vernünftigen Leute“ fest an das Privateigentum glaubte. Daneben war er Immobilienmakler, universell tätiger Erfinder und Amateurkünstler, Bewunderer gotischer Kathedralen und der englischen Literatur. Gilbert sog das auf. Er verliebte sich in das fromme Mittelalter und rezitierte den Hamlet, bevor er ihn verstand.

In der Schulzeit folgte er der Devise, sich dumm zu stellen, was problematisch war, da er in allen Fächern glänzte. Er übersprang Klassen. Eine erste Zeitung heckte er mit 16 aus. Die „Junior Debating Society“ folgte. Er sprach spät, aber dann hörte er nicht mehr auf. Einst diskutierte er mit seinem jüngeren Bruder Cecil zwölf Stunden lang Non Stop – seine Eltern waren klug genug, die beiden nicht zu unterbrechen.

Sein Plan, nicht aufzufallen, wurde durchkreuzt, als ein Gedicht von ihm prämiert wurde.

Er zeichnete viel, was er sein Leben lang beibehielt. Er überlegte Architektur zu studieren, wechselte zur Kunstakademie. Eher zufällig stieß er zum Journalismus – oder der auf ihn – als er eine Kunstkritik veröffentlichte. In der Folge schrieb er tausende Essays und Kolumnen. Spät entdeckte er das Radio für sich: Seine Sendungen der gerade gegründeten BBC waren Kult.

Zwischendurch warf er Buch um Buch heraus, angefangen mit einer gerühmten Biografie über Dickens, der, wie er, im Gewöhnlichen das Außergewöhnliche zu erkennen vermochte. Doch auch in seinen Debatten nahm Chesterton Schwung aus der Orthodoxie, dem katholischen Menschenverstand. Und der ist auch heute in der Migrationsfrage brauchbar!

Da gab es den Verleger Blatchford, der vor allem die christliche Tugend der Barmherzigkeit pries, wie es bei uns seit der Refugees-Welcome-Hysterie seitens der Kirchen der Fall war. Ihm antwortete Chesterton, dass nicht nur die Laster, sondern auch die christlichen Tugenden Amok laufen können und noch verheerenderen Schaden anrichten.

Chesterton: „Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit mag grausam sein; aber Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit führt zur absoluten Auflösung.“ Und dann rief er seinem einstigen Verleger gut gelaunt hinterher: „Mr Blatchford ist nicht nur ein Vertreter des Frühchristentums, er ist der einzige frühchristliche Mensch, der es wirklich verdient hätte, von den Löwen gefressen zu werden.“

Spätestens mit seiner „Orthodoxie“ war er als scharfsinnigster Autor der Zeit etabliert. Er arbeitete, er schuftete von morgens bis abends, mit knapp 50 erlitt er einen Schwächeanfall und glitt ins Koma.

Oft diktierte er seiner Sekretärin einen Artikel und schrieb an einem anderen zu einem völlig anderen Thema, sei es eine Philippika gegen die Eugenik und Rassenlehre, die schwer in Mode waren, oder zur Schönheit gotischer Dome. Alles war scharf, aber gebrochen durch federnden Witz.

Er liebte Kinder, und seine große Betrübnis war die, dass seine Frau Frances keine bekommen konnte. Weshalb beide es liebten, wenn die Nachbarskinder der Nichols bei ihnen herumtobten. In einer wunderbaren Glosse beschrieb er, wie der Redaktions-Bote auf den Text wartete, an dem er arbeitete, während er versuchte zu klären, ob Lily im Recht war, als sie Bob ins Malbuch kritzelte, oder ob sich Bob nur für die Untat Lilys revanchierte, die unerlaubt von seinem Apfel abgebissen hatte, und ob ihre Tat gerechtfertigt war, da sie in diesem Moment Hunger hatte…schließlich das Happy End: der Redaktionsbote zischt ab mit dem fertigen Text.

Chesterton liebte Albereien und Feierlichkeiten. Mit George Bernhard Shaw drehte er einen Cowboyfilm, und für die Sitzungen des ersten Literarischen Detektiv-Clubs (u.a. mit Dorothy Sayers, Ronald Knox, Conan Doyle), zu dessen Vorsitzendem er gewählt wurde, entwarf er die Satzung und die Aufnahmeprozedur für Neumitglieder.

Dann saß er in einer glänzenden schwarzen Tunika wie Fu Man Chu in einem dunklen, nur von Kerzen erleuchteten Raum und grillte den Kandidaten: „Schwörst du, dass du dem Leser nie einen wichtigen Hinweis vorenthältst!“ oder „Schwörst du, dass du dich nie ausschließlich verlässt auf Göttliche Offenbarung, weibliche Intuition, Mumbo-Jumbo oder Jiggery-pokery“…Hatte ich erwähnt, dass Chesterton mit großem Erfolg Theaterstück schrieb und selber in solchen auftrat?

 

Natürlich versorgt die Chesterton-Society ihre Hundertschaften in diesen drei Tagen ebenfalls mit jeder Menge Mumpitz und Albereien, mit Wettbewerben zu Clerihews, einer Art Limerick, die von Chestertons Jugendfreund Clerihew erfunden wurde, mit Versteigerungen, sowie der Verleihung des Pokals der „Inconvenience“, der an denjenigen vergeben wird, der die größten Abenteuer auf seiner Reise zur Convention zu bestehen hatte.

Noch während ich in Gesellschaft der Stutzmans auf dem traditionellen feierlichen Abschlussbankett an meinem Dessert löffele, höre ich Dale Ahlquist vom „German Journalist“ sprechen, und ich rufe „Oh no“, aber dann ruft er mich auf die Bühne und da stehe ich nun, ich katholischer Punk und Verbrecher und Sünder, ausgesetzt dem durchaus verzeihenden Spott der Menge.

Das muss ich jetzt erklären. Offenbar hängt über alle meinen Versuchen, zu Chesterton vorzustoßen, das Unheil des Scheiterns.

Ich hatte vor zehn Jahren vor dem deutschen Offene-Grenzen-Wahnsinn Reißaus genommen, damals noch für die Welt, und war in die USA gereist. Und da ich die Reisegenehmigung unmöglich für ein obskures katholisches Spektakel erhalten hätte, fügte ich hinzu, ich könne unter anderem die Dürre-Brände in Kalifornien covern, desweiteren die verbreitete Praxis, sich von einem Arzt Marihuana auf Rezept verschreiben zu lassen, dann weiter nach Las Vegas, um das Casino des damaligen Präsidentschaftskandidaten Trump auszubaldowern und schließlich die Convention der American Chesterton Society zu besuchen.

Die Dürre war schnell abgehakt. Auch der Marihuana-Doktor, der im elften Stock eines Hochhauses am Sunset-Boulevard residierte, spielte mit. Ich klagte über Rückenschmerzen, er setzte das Stethoskop an, ließ mich tief ein und ausatmen, und meinte, jawohl, Sie brauchen Marihuana!

Er setzte das Rezept auf, das mit einem goldenen Stern beklebt war und aussah wie die Unabhängigkeitserklärung und gab mir die Adresse von einem Headshop in der Melrose Avenue, der von einem tätowierten Zerberus mit jeder Menge Schwermetall in Brauen und Nase und Lippen bewacht wurde. Ich holte mir meine Medizin und machte mich auf den Weg nach Las Vegas.

Leider wurde ich dort beklaut und machte Zwischenstation bei Freunden in Arizona, um mich auszuschlafen und mit dem Nötigsten (Handy, Bargeld) zu versorgen. Nun aber schnell nach San Antonio, die Konferenz sollte am übernächsten Tag beginnen. Schnell, schnell.

Zu schnell! Auf der Interstate wurde ich von einer gemeinen Polizeisirene gestoppt. Aussteigen, Hände über den Kopf. Zunächst. Dann wurden die Arme nach hinten gerissen, Kopf auf den heißen Kühler geknallt. Der Cop, denn ich bei mir „Tonne“ nannte, trug eine dieser verspiegelten Sonnenbrillen, die ich aus der Serie „Breaking Bad“ kannte. Er hatte das ganze Lametta am Gürtel baumeln, Kanone, Handschellen, Taschenlampe, Schlagstock, Teaser sowie vier oder fünf Schrumpfköpfe von überführten Verkehrssündern.

Sein Kumpel, „Fass“, filzte mein Auto und fand im Handschuhfach die Medizin, die ich mir in Los Angeles besorgt hatte. “Ich habe ein Rezept dafür“ rief ich. „You shut up, you’re going to jail for this.” Tatsächlich verfrachteten sie mich in ihrem vergitterten Auto, in dem es leicht 50 Grad war, zum Navajo County Jail, das am Rande der Navajo-Reservation lag.

Dort wurde ich erst mal in die holding cell gesteckt, zu vier Indios, von denen einer Schüttelfrost hatte, weil er unter Alkoholentzug litt. Im TV-Gerät, das unterhalb der Decke angeschraubt war, lief eine Art Motivationsfilm, und zwar „Der Pate, Teil II“, die Szene, in der Michael Corleones Anwesen angegriffen wird.

Unter dem Geballer konnte man sich kaum verständigen, trotzdem rief ich „Hunger!“. Ich hatte seit dem Frühstück nichts gegessen und das lag jetzt, am frühen Abend, weit zurück. Tonne am Schreibtisch gegenüber haute sich seine Chicken McNuggets rein und grinste mich durch die Gitter an und spülte mit einem Eimer Coca-Cola nach. Ich kochte.

Ich hatte bis dahin erst eine einzige Gefängnisstrafe, die lag lange zurück, ich war als Hippie wegen Schmuggels von Haschisch für zwei Monate im Central Jail of Amritsar in Nordindien eingesessen. Einige Tage davon in Eisen, wegen, na klar, einer Undiszipliniertheit. Mann, dachte ich mir damals, ich habe einfach Pech. Pech, Pech, Pech. Mein ganzes Leben nichts als Pech. Das gleiche dachte ich jetzt wieder, im Navajo-Gefängnis. Aber auch irgendwie abenteuerlich das alles.

Schließlich, nach Mug-Shot und rektaler Untersuchung und Einkleidung in Orange, wurde ich eingecheckt. Mein Zellengenosse hieß Dustin. Er hatte ein geflochtenes Kreuz an die Pritsche über ihm gehängt. Ich nickte.

„Glaubst Du an Gott?“ fragte ich ihn.

„You bet“

„Was, wenn es keinen gibt?“

„Then I am really fucked”.

Ich ließ ihm später das „Gilbert“-Magazin der Chesterton-Society in den Knast schicken, damit er was Ordentliches zu lesen hatte.

Am nächsten Tag verfügte der Friedensrichter per Video eine Kaution von 3000 Dollar. „Aber your honor“, sagte ich, „ich habe ein Rezept für das Zeug“. „Davon steht hier nichts“. Hatten die Cops das doch tatsächlich unterschlagen! Meine leidgeprüften Freunde aus Arizona lösten mich anderntags aus. Dem örtlichen Anwalt erzählte ich von dem Rezept, und der sorgte dafür, dass die Sache offiziell beerdigt wurde, und schickte mir die Bestätigung dafür.

Nur: ich hatte den Wisch nicht bei mir. Ich dachte, die Sache sei vergessen. Deshalb gab es bei meiner Einreise aus Toronto eine weitere Wartezeit, weshalb ich den Anschlusslug verpasste und erst um Mitternacht im sowieso falschen Pittsburgh landete.

Zehn Jahre lang hatte es gedauert, bis mir Dale Ahlquist nun also den sauer erlittenen „Cup of Inconvenience“ überreichte. Damals, in San Antonio, hatte ihn eine Chesterton-Archivarin aus England gewonnen, deren Anreise von verpassten Anschlüssen und Irrwegen nur so wimmelte, und die sogar „public nudity“ im Programm hatte, und das alles mit einem unfassbaren Witz präsentierte.

Nun, nudity hatte ich nicht im Programm, wenn man von der Rektaluntersuchung im Knast absah, und die war nicht öffentlich. Ich gönnte ihn ihr. Aber von John erfuhr ich, dass Dale meine Geschichte bei jedem Jahrestreffen seither erzählte, um klarzumachen, wie hoch die Anforderungen für den begehrten Pokal sind.

Tja, und ich wurde tatsächlich gefeiert für den Mist, den ich angestellt hatte. Beziehungsweise für das Abenteuer, das ich irrtümlicherweise für ein Missgeschick gehalten hatte, und Dale Ahlquist lacht sich schief.

Auch Dale besitzt jenes Talent zur Fröhlichkeit, die Chesterton nach Auskunft seiner Zeitgenossen im Übermaß erfüllte. Er ist ein hands-on-man, ein Macher. Sein Netzwerk von Chesterton-Schulen wächst, sie haben sich seit meinem letzten Besuch verzehnfacht auf weit über sechzig. Ja, Dale Ahlquist ist ein missionarisches Kraftwerk, darüber hinaus Publizist, er gibt das Monatsmagazin „Gilbert“ heraus und soeben eine neue kommentierte Fassung von Chestertons „The Everlasting Man“, „Der Unsterbliche Mensch“.

Evelyn Waugh hält es für Chestertons bestes. Wegen seiner apostolischen Erfolge wurde ein Seligsprechungsverfahren eingeleitet, in San Antonio vor zehn Jahren lag eine Novene für ihn aus.

Im „Unsterblichen Menschen“ von 1925 nahm sich Chesterton die Menschheitsgeschichte vor – als Erwiderung auf die „Geschichte der Menschheit“ seines atheistischen Freundes und Debattengegners H.G. Wells, der diese damals unter dem Einfluss der darwinistischen Evolutionstheorien deutete, womit er die christliche Schöpfungslehre ein für alle Mal besiegt zu haben glaubte und damit jede Annahme eines beseligenden Funkens.

Der Mensch ist danach also nichts als ein höher entwickeltes Tier, das nach Meinung unserer sozialistischen Menschheitsbildner von heute beliebig dressierbar ist. Chesterton geht es aber um genau jenen Funken, der den Menschen zu dem macht, der er ist.  Legen wir uns mit ihm in die Kurve, ja steigen hinab.

Chesterton nimmt uns mit hinunter in jene prähistorischen Höhlen, in denen mit kühnem artistischen Schwung Rentiere und Mammuts auf die Wände gemalt waren. Irgend etwas muss dort geschehen sein, womöglich eine religiöse Zeremonie, doch eines steht für Chesterton fest: Ein Mensch malte aus welchen Gründen auch immer ein Rentier. Und man müsste, so fuhr er ironisch fort, wohl sehr viel tiefergraben, um zu entdecken, dass ein Rentier einen Menschen malte.

“Er war nicht – und er war, wir wissen nicht, in welcher Sekunde oder in welcher Unendlichkeit von Jahren etwas geschah, und dieses Etwas hat ganz den Anschein einer Umwandlung außerhalb der Zeit.“

Um noch einmal zurückzugehen zur Linearität der Evolution und die damals als aufregend empfundene Behauptung unserer Abstammung vom Affen (obwohl das berühmte missing link bis heute nicht aufgespürt werden konnte). Chesterton macht sich über diesen evolutionistischen Automatismus lustig:

„Affen begannen nicht Gemälde zu malen, noch Menschen diese zu vollenden; der Pithecanthropus zeichnete ein Rentier nicht etwa schlecht, während der Homo Sapiens es gut zeichnete. Die höheren Tiere malten nicht immer bessere und bessere Portraits; der Hund malte zu seiner besten Zeit nicht besser als in seiner Frühzeit als Schakal…“

Den zweiten Teil des Buches beginnt Chesterton, der Poet, erneut in einer Höhle – in der von Bethlehem mit der Geburt Christi, die den großen Game Changer der Philosophie- ja, der Weltgeschichte bildet. Mit ihr tritt das Christentum auf den Plan und die Kirche. Chesterton lapidar: „Die Kirche enthält, was die Welt nicht enthält“…

Tja, und das Drama von heute ist wohl, dass die deutsche Kirche nur noch das enthalten will, was die Welt ohnehin erhält. Im letzten Jahr sind 600 000 Mitglieder auch aus der evangelischen Kirche ausgetreten. Gleichzeitig wird bekannt, dass der evangelische Diakonieverband alle verfolgen und kündigen will, die die AfD wählen. Ich schätze, da gibt es einen Zusammenhang.

Mit 62 Jahren hörte Chestertons Herz auf zu schlagen, es war entkäftet, er schlief friedlich ein nach einem letzten Besuch bei den Nichols-Kindern, und er schaute nach dem Abschied am Gartentor lang zu ihnen hinüber.

In „King of Prussia“ fällt schließlich nach drei glühenden Tagen unter allseitiger Umarmung der Vorhang, und ich bin neu aufgetankt und bereit für das nahe Philadelphia, das nicht nur die Wiege der amerikanischen Demokratie ist, sondern auch ein Epizentrum der elenden Fentanyl-Junkies.

Also runter von meiner frommen Wolke der Chestertonians mit ihrer unbezwingbaren Glaubensfröhlichkeit und hinein in das Elend derer, die ohne alle Hoffnung sind und auf eine Auferstehung hoffen. Einchecken im Marriott Old City, wo ich hinter der Glastür von einem Spalier von adretten Frauen mit „Welcome“-Schildern begrüßt werde. Diesmal sind es die Zeugen Jehovas, die hier ihren Jahreskongress feiern, also Spezialisten für den Weltuntergang, für den inmitten der plötzlich ausgebrochenen Kriegsbegeisterung einiges spricht. Und sie lächeln!

Feststeht, dass die Amerikaner das frömmste Volk der Erde sind. Vielleicht hinter dem Iran. Zumindest war es so, als ich in den 1990er Jahren hier Korrespondent arbeitete, damals glaubten 90 Prozent an so etwas wie göttliche Rettung, jeder zweite betete täglich. God‘s own country, das war es, was sich die Pilgerväter einst erhofften.

Dieser Enthusiasmus dürfte mittlerweile weitgehend verdunstet sein, gemeinsam mit dem Glauben an die Rettungskräfte der Politik.  Ja, auch der zweite Gründungsmythos, der der Unabhängigkeitserklärung, zeigt Erschöpfungszustände.

Wie stolz dieses Auftrumpfen doch einst war: „We the people“ – „Wir das Volk halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit…“

Auf dem Weg zur durch eine menschenleere Straße an diesem Sonntag-Nachmittag, hin zur „Independence-Hall“, sehe ich in der Ferne ein schwarzes Bündel auf Gehweg. Es scheint sich zu bewegen. Was ist da aus dem Himmel auf die blankgeputzten Platten geknallt? Näherkommend sehe ich, dass es ein Junkie ist, der hier mitten auf dem Gehweg eine Stellung sucht, in der er schlafen kann.

Kein Schutz, kein Hauseingang, kein Baumschatten. Ich beuge mich über ihn und überzeuge mich, dass er lebt. Ein Schwarzer um die 30, schwarze Locken, zertrete Schuhe, Klamotten könnten mal gewechselt werden. Der will nicht gestört werden, noch nicht mal durch ein Almosen, ich kenn den Zustand aus frühen Tagen. Der hat im Bestreben nach Glückseligkeit eindeutig die falsche Abzweigung genommen.

Also weiter: Im Hof des klassizistischen Ziegelbaus der Gründerväter, einst das State-Hous der Kolonie Pennsylvania, werde ich mit einer Gruppe von koreanischen Touristen und heimischen Familienvätern von einem Drill Seargent namens Ray Harshenbarger zusammengeschissen, dass wir zusammenbleiben und auf seine Kommandos hören sollen.

Jetzt wird es ernst, die Andacht steigt, wir betreten das Allerheiligste, linker Hand der einstige Gerichtssaal mit dem Käfig für den Angeklagten, „where he had to stand trial“, die Betonung liegt auf „stand“ also „stehen“, der kleine Timothy reißt erschrocken die Augen auf, das konnte Stunden, ja manchmal Tage dauern.

Rechterhand denn jener Raum mit den grünbespannten Tischen für die Deputierten aus den dreizehn widerständigen Kolonien. Auf dem vordersten mit kalligrafischem Schwung die faksimilierte „Declaration of Independence“. „Der Passus über das Verbot der Sklaverei wurde gestrichen“, bellt Harshenbarger. Den hatte Jefferson, selber Sklavenhalter, tatsächlich hingeschrieben, aber, um die notwendige Zustimmung aller Beteiligten zu erreichen, streichen lassen.

Anschließend steckt mir Harshenbarger, dass seine Vorfahren vertriebene Anabaptisten aus der Schweiz waren. Ich erzähle ihm von dem zusammengebrochenen Junkie, dem ich auf dem Weg hierher begegnet bin. „Sie sind überall, aber die meisten wohl drüben in Kensington.“ Merkwürdiger Zufall: Auch Londons Stadtteil, in dem Chesterton zur Welt kam, hieß Kensington.

In der anschließenden Sightseeing-Tour, man will ja die ganze Stadt in Augenschein nehmen,  wird das Kensington-Viertel im Norden ausgespart. Gezeigt werden die ersten Stadthäuser, die die gelangweilte 20-jährige Kai „cool“ nennt, dann die vergoldete Statue der Jean d‘Arc, ein Geschenk der Franzosen, sowie Hinweise auf das Natur- und Technikmuseum, in dem das Gehirn von Albert Einstein aufbewahrt wird. Doch der eindeutige Höhepunkt jede Tour ist das Museum der Künste auf einer Anhöhe.

Genauer: Nicht das Museum selbst, sondern die Stufen, die hinaufführen. Es sind die Stufen, die Rocky Balboa schweißüberströmt hinaufkeucht, um sich für den Titelkampf gegen Apollo Creed in Form zu bringen. Und dann schließlich oben triumphierend die Fäuste in den Himmel reckt.

Ein Megahit dieser „Rocky“-Film, und ein weiterer amerikanischer Mythos: Von ganz unten nach ganz oben. Andächtig stellen sich die Touristen an vor der Bronzestatue von Sylvester Stallone an, um sich gegenseitig zu fotografieren, eine kleiner Junge ist dabei, der seine sehnigen Oberarme anspannt vor Papas Kamera. Wo wird er landen mit seinem Bestreben nach Glückseligkeit? Ganz oben, oder mit dem Gesicht auf dem Trottoir?

Der Film-Rocky stammt aus diesem Kensington, dem damaligen Arbeiterviertel. Auf Google ist es tatsächlich als Sehenswürdigkeit eingetragen, allerdings eine, von deren Besuch abgeraten wird, „zu gefährlich“.

Dabei ist der Weg dorthin, den ich am nächsten Morgen für mein Treffen mit Father Frank von der „Blessed Virgin Mary“-Church nehme, auf den letzten Metern mit einem prächtigen Mural geschmückt, mit einem Hoffnungsgemälde auf diesen Mauern aus Kindergesichtern, die sich der Sonne zuwenden wie Blumen.

Gegen den Maschendrahtzaun gelehnt ein schwarzer Teenager, der sich eine Kanüle in die Armbeuge sticht. Neben dem Eingang zum „Visitors Centre“ steht ein Mann mit hängendem Kopf, auf die Stange eines „Loewe‘s“ Einkaufswagens gestützt, reglos als ob er schlafe, im knallroten Plastikkorb ein zusammengefalteter Klappstuhl, Wäschestücke, Lappen.

Neben ihm döst eine ältere Frau mit verrutschten Trägerchen.

„Kommen Sie“, sagt Father Frank, „Wollen Sie einen Kaffee, also ich brauche einen“ und führt mich in die Küche. Erster Eindruck: seine wundersame Fröhlichkeit an diesem Morgen, in diesem Elend. Graue kurzgeschorene Haare, getrimmter Bart auf Oberlippe und Kinn, darüber die freundlichsten blauen Augen der Welt.

Wie hält er das aus hier? Deprimiert ihn dieser offenbar vergebliche Kampf gegen das Elend nicht? „Depressionen kenne ich nicht“, sagt er. Aber Frustrationen, die erlebe er schon. „Frustration über das Chaos, denn mit dem Chaos kommt Gewalt“. Jüngst ist vor seinen Augen jemand erstochen worden.

Er ist 59, seit 17 Jahren Priester, also spät berufen. Davor ein ganz normales Leben, aufgewachsen mit drei Geschwistern, Vater war Elektrotechniker, er selber hat in einem Krankenhaus gearbeitet, hatte eine Freundin, hat Psychologie studiert, bis er entdeckte, dass ihn das alles nicht befriedigte, es war zu weit entfernt vom Leben und den Menschen. Und da verspürte er diesen Ruf in sich zum Priesteramt, zur Seelenrettung, zur Menschenfischerei.

Und er schloss sich dem traditionalistischen katholischen Orden der „Redemptoristen“ an, jener „Erlöser“, die vorwiegend an den Rändern der Gesellschaft wirken. Was ihn motiviere? Ganz einfach: „Gott hat jeden Menschen zu Höherem berufen“ und so, wie es den natürlichen Impuls gebe, eine zerbrochene Fensterscheibe zu flicken, so eben auch, den zerbrochenen Menschen aufzurichten.

„Wir alle streben doch nach Freiheit und nichts macht unfreier als eine Sucht“. Tod und Auferstehung, diese Eckpfeiler der Existenz und des Glaubens, die erlebe er hier täglich.

Allerdings hat wohl auch Father Frank mit Sucht zu kämpfen, an seinem Kühlschrank klebt der Magnet mit dem Spruch: „Was wäre der Himmel ohne Schokolade“ und noch ein zweiter: „Und führe uns nicht in Versuchung, außer durch Schokolade.“ Aber er sieht so drahtig und sportiv aus, als könne er der Versuchung widerstehen.

 

Father Frank ist spürbar beseelt von Glaubens-Fröhlichkeit, so dass ich in einer merkwürdigen Überblendung den Eindruck habe, ich unterhielte mich mit Chestertons Father Brown. Er kennt die menschlichen Schwächen aus dem Beichtstuhl und er gibt Hoffnung so gut er kann, nicht zuletzt durch die täglichen Messen morgens, am Wochenende kommen noch die für die spanische und vietnamesische dazu. Tatsächlich zitiert er Chesterton: „Wenn die Menschen nicht mehr an Gott glauben, glauben sie an alles Mögliche.“

Da Father Frank nicht die Zeit hat, die er gerne hätte, übergibt er mich nun an Vince, der mich durchs Revier führen wird, durch Tod und Auferstehung. Vince, 63, untersetzt und bullig, Er trägt einen grauen Zopf und fünf bis acht Zähne im Mund, und über seinem mächtigem Brustkorb hängt eine schwere Stahlkette mit unzähligen Schlüsseln – deutlicher kann dieser neue Petrus seine „Schlüsselgewalt“ nicht nur die Gemeinde tragen.

 

Seit einigen Jahre ist Vince clean, ja, er lag einst selber hier auf der Straße herum. Wir begeben uns zur Suppenküche der Gemeinde schräg gegenüber, eine Schlange aus knickbeinigen Verwehten und Zerlumpten hat sich gebildet, sie stehen an für Haferbrei und weiche hot-dog-Brötchen, die auch ohne Zähne zu bewältigen sind.

Die meisten setzen sich mit ihren Plastikteller wieder auf die Straße.

Nur eine bleibt in dem kleinen Ausgabe-Raum an einem Tisch sitzen, ein ältliches Mädchen mit Wunden im Gesicht und schmutziger Wäsche, sie heißt Galina, sie lacht fröhlich über uns, sie wurde mal aus Russland adoptiert, Jahrzehnte her, jetzt wartet sie darauf, dass ihr Freund aus dem Knast kommt, wann das sein wird, hat sie vergessen, aber sie freut sich so sehr über mein Interesse, dass sie gerne meine Telefonnummer hätte.

  

Da geht der Koreaner Tim Hong dazwischen, einer der Helfer, er hatte früher selber mal drei Restaurants, dann kam eine Scheidung und er wurde finanziell ausgebombt, nun hilft er hier mit. Draußen hält mit quietschenden Reifen ein Notarztwagen, ein älterer Mann hat Atemnot, und draußen laufen wir Ed in die Arme, Ed mit dem blauen Bauarbeiter-Helm.

Ed kennt jeden hier und jeder kennt ihn, nun übernimmt er, ‚Wahnsinn Leute, der Typ kommt aus Germany‘, und er zeigt mich herum wie seine persönliche Trophäe und schleppt mich ab in seinen Laden, über dem das Schild „Last Stop“ hängt, drei Stufen, dann der Raum mit typischer Kaffeküche. Es ist das Stadtteil-Quartier für die AA- und NA-Gruppen, die Abstinenzgruppen der Alkoholiker und der Drogensüchtigen.

Ihre Erfolgsquote ist beachtlich, sie liegt zwischen 10 und 50 Prozent, und sie beginnt mit – Gott.

Jawohl, AA ist eine Art praktischer Gottesbeweis, das berühmte 12-Schritte-Programm, angelehnt an die zehn Gebote, das nicht nur Außenseiter vom unteren Rand der Gesellschaft, sondern auch die vom oberen Rand, also Hollywoodstars, aus der Abhängigkeit befreit. Es beginnt mit einer persönlichen Kapitulationserklärung und der Einsicht, dass nur Gott -oder, für die Religionslosen, „eine höhere Kraft“ – aus den Klauen der Sucht befreien kann. Dann kommt eine Art Beichte: die Abhängigen berichten von ihren Tiefpunkten.

Jede Gruppensitzung beginnt mit diesem Gebet: „Herr schenke mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, die Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Selbst Helmut Schmidt hat dieses „Gelassenheitsgebet“ in einer Podiumsdiskussion zitiert, es stammt von dem Theologen Reinhold Niebuhr.

Ed fiebert vor Begeisterung. Er zeigt mir die geziegelten Wände an Vorder- und Rückseite des schmalen Versammlungsraums. Sie sind mit unzähligen Unterschriften verziert. „Hier vorne die Geretteten, dort hinten die, die es nicht gepackt haben.“ Tod und Auferstehung. Ed selber ist jetzt seit 7 Monaten clean, er war mal drin, mal draußen, darüber spricht er offen, Rückfälle sind eingepreist.

In der Fentanyl-Alley schleppen sich die Elenden von Schuss zu Schuss, Fentanyl ist eine Billig-Version von Heroin, ein Schuss kostet rund 20 Dollar, wer Glück hat, kriegt ihn schon für zehn, die Wirkung hält rund eine Stunde an, und dann ist Nachschub fällig, und da kommt es oft zu Überdosierungen, alle amerikanischen Großstädte sind mittlerweile heimgesucht von diesen Menschenwracks, diesen Zombies, und da reden die woken Demokraten, die die Regierung stellen, von transgender und Rassenpolitik, dabei sind es zu 90 Prozent Weiße, die ich hier antreffe, als ich mit Ed durch sein Kensington-Revier streife, Abgehängte, wobei auch diese durch alle Schichten vertreten sind, und einige haben den Bogen tatsächlich geschafft wie Rob, der Ed zur Seite steht, er trägt ein rotes T-Shirt, war einst Anwalt bei Oracle, hat drei Familien in drei Städten, er kaut auf einem Zahnstocher, er ist wieder clean, natürlich besucht er Eds Gruppe.

Nur kurzer Aufenthalt hier am Last Stop, nachdem wir ein paar Nudeln mit Tomatensause vertilgt haben, Ed drängt zur Eile, denn da wartet ein Heiliger auf ihn, und er muss mir dessen Reliquien zeigen. Es sind die von Johannes Nepomuk Neumann, der hier in Philadelphia wirkte und ein erstes katholisches Schulsystem erreichtet hat.

 

 

Er stammte aus dem südböhmischen Prachatitz, und ging nach seinem Priesterstudium als Missionar nach New York, wo er geweiht wurde und vorwiegend unter den Ärmsten wirkte und ein Schulsystem aufbaute, so wie sein später Nachfolger Dale Ahlquist mit seinen Chesterton-Colleges.

Neumann war unermüdlich auf den Beinen, er schlief maximal 2-3 Stunden bis er, der nur 1,60 Meter kleine Seelsorger, am 5.Januar 1860 in Philadelphias Kensington-Viertel mit einem Herzinfarkt auf der Straße zusammenbrach und starb.

Im Schnelldurchlauf zeigt mit Ed die Reliquien, das Messgewand, den Bischofsstuhl in diesem Seitentrakt von „St. Peter the Apostle“, reißt die Tür zu einem Beichtstuhl auf, „hier, Father, mein deutscher Freund“, Ed stürzt förmlich hinein in seinen Glauben, er greift danach wie ein Schiffbrüchiger nach einer Planke in hoher See.

Nach der Messe wollen mir Ed und Rob den Graffiti-Park am Delaware-Ufer zeigen, diese „Mischung aus Stille und Gefahr“, die ihnen geholfen habe. Auf dem Weg dorthin Gespräch über Frauen.

„Sie hat einen ziemlich guten Kerl erwischt“, sagt Ed. „Oh shit“, sagt Rob. „Dann hab ich keine Chance, ich bin ein Scheißtyp“.

„Ich hab ihr gesagt, sie soll nicht immer nur Pizza holen, sondern auch mal was für ihren verdammten Hund“.

“Kennst du dieses Chick mit den 50 Strohalmen in der Nase?“ „Klar, was ist mit ihr?“ „Sie hat kürzlich auf deine Treppe gepisst“.

„Oh Mann!“

Der Graffiti-Park ist ein verlassener, überwucherter Pier aus Betonstelen, Ed wirft auf dem Weg Erdnussbutter-Sandwiches in die Büsche für die hier nistenden Groundhogs, die Murmeltiere. Tatsächlich: Das hier ist eine wildschöne wimmelbunte Galerie aus Bildern und Zeichen und Kreuzen und ich muss an Chestertons Kapitel über die Höhlenmalereien denken – wie werden Forscher der fernen Zukunft diese Krakel enträtseln? Als Kultmalereien einer untergegangenen Zivilisation?

Der Delaware ist hier weit wie ein Ozean. Weiter nördlich, bei Trenton, ist George Washington zu einem Überraschungsangriff auf die Hessen übergesetzt und hat gewonnen.

Später lasse ich mich von Rob an dem Friedhof absetzen, auf dem einige der Unabhängigkeitshelden begraben sind. Am Grab Benjamin Franklins diese Zeilen, die sich Auferstehung versprechen, die eigene und vielleicht die der Nation:

„Hier liegt der Körper von B.Franklin, Drucker,

wie der Umschlag eines alten Buches

der Inhalt herausgerissen

Futter für Würmer

Aber das Werk ist nicht verloren

Denn es wird wie er glaubt

einmal mehr erscheinen

In einer neuen und eleganteren Version

Korrigiert und verbessert

von seinem Verfasser“