Verwirrende Szenen in den TV-Nachrichten zu Brasiliens knapper, ja knappster Entscheidung zur Präsidentenwahl: der mit einem hauchdünnen Vorsprung von 1,5 Prozent ins Amt gehievte, ins Amt zurückgehievte bullige Arbeiterführer Lula trieb Millionen auf die Straßen. Allerdings protestierten sie nicht, um den Sieg des nach seinen Korruptionsaffären abgewählten und eine Zeitlang inhaftierten Linkspopulisten zu feiern, sondern um gegen die Abwahl des rechten Jair Bolsonaros zu demonstrieren.

LKW-Fahrer im ganzen Land blockierten die Straßen, weil angesichts dieser hauchdünnen Entscheidung der Verdacht auf Manipulationen mit den Stimmzetteln nicht leicht von der Hand zu weisen war.

Warum auch sollten die Leute einen Präsidenten abwählen, unter dem die Arbeitslosigkeit ebenso sank wie die Mordrate, die Währung dagegen sich stabilisiert und selbst der unter Lula und seinen linken Nachfolgern ausgeplünderte Staatskonzern Petrobras wieder in die Gewinnzone gebracht wurde und seinen Kurswert versiebenfacht hatte.

Selbstverständlich versuchten die linken Wahlbeobachter im Fall eines Sieges Bolsonaros das Gespenst des Faschismus zu beschwören, ohne tatsächlich mehr Anhaltspunkte dafür zu haben als Bolsonaros Freundschaft mit Donald Trump und seine konservative Weltanschauung als evangelikaler Christ, für den es nicht mehr Geschlechter gibt als Mann oder Frau, also magere zwei.

Tatsächlich ist Lulas Sieg einer der linken Kultur-Hegemonie auch in Brasilien.

Einst, um 2002, kam Lula mit seinem klassenkämpferischen Appeal als ehemaliger Metall-Gewerkschafter an.

Damals, als Lula zum ersten Mal an die Macht kam, erlebte ich an der Strandpromenade in Ipanema, ach, auf allen Straßen Rios ein Meer roter Fahnen nach dem Triumph von Lulas „Partido dos Trabalhadores“ (PT). Auch wenn Lula einen brillanten, bürgerlichen, absolut korruptionsfreien und ehrlichen Präsidenten Fernando Enrique Cardoso ablöste, war die Stimmung: absolute Partylaune.

Eine Politikergeneration kam da mit Lula an die Macht, die noch gegen die Militärjunta gekämpft hatte, ja, die unter ihr zum Teil gefoltert worden war wie Djilma Roussef, Lulas Stellvertreterin und Nachfolgerin – teils hatte diese Generation im Untergrund gekämpft wie Lulas Kampagnenchef Dirceu, der sich auf Kuba ein neues Gesicht operieren ließ.

Mit Lulas Sieg kam eine linke Erlöserfigur an die Macht, die sich dank des Rohstoff-Booms und dem Kursaufschwung der BRIC-Staaten an den Weltbörsen auf enorme Sondereinnahmen stützen konnte und mit Steuererleichterungen und solchen der erleichterten Kreditaufnahmen einen Kaufrausch des Mittelstandes befeuern konnte.

Der allerdings war nicht nachhaltig und allmählich übernahm der brasilianische „jeito“ auch das Abstimmungsverhalten von Lula PT in Brasilia, die beim Stimmenkauf erwischt wurden.

Als diese darüberhinaus, in der „Lava Jato“-Affäre, der Geldwäscherei überführt wurde und eine lächerliche Fahrpreiserhöhung im Nahverkehr die Hauptstadt Brasilia und das übrige Land in Aufruhr versetzt hatte, war ich wieder zurück als Reporter in der „cidade maravilhosa“, der wundervollen Strandstadt, war unter meinen ehemaligen Lula-Freunden und -Sympathisanten, und erlebte, wie enttäuscht und radikalisiert sie waren und mit ihnen das Land.

Sie wollten nichts mehr mit Lula zu tun haben, den sie als Verräter und Bonzen beschimpften.

Die Wahl des konservativen Jair Bolsonaro schien mir die logische Antwort auf das Verblühen der linken Utopien.

Nun scheint Lula insbesondere durch Versprechungen an die woke Regenbogen-Kultur und die Umweltbewegung Wählerschichten elektrisiert zu haben. Ja, seine charismatische Umweltministerin Marina Silva, Tochter eines Gummizapfers aus dem Amazonas, scheint zu verbürgen, dass Bolsonaros laxem und wirtschaftsorientiertem Umgang mit der grünen Lunge unserer Erde nun ein Ende bereitet wird.

Ja, sie ist die eigentliche Gewinnerin der Wahl. Sie wird verehrt wie eine Heilige. Selten habe ich eine eine beseeltere und authentischere Interviewpartnerin erlebt. Ich hatte Marina Silva gesprochen, als ich Anfang der Nullerjahre zu einer wochenlangen Tour in den Amazonas aufgebrochen war, auch, um dessen Schäden in Augenschein zu nehmen. Die meisten Brandrodungen wurden von Viehzüchtern und Indios durchgeführt.

Marina Silva, eines von zwölf Geschwistern, immer wieder gesundheitlich schwer angeschlagen wegen einer Schwermetall-Vergiftung, hatte mit der Widerstandslegende Chico Mendes zusammengearbeitet, bevor der, im Auftrag eines Großgrundbesitzers, erschossen worden war.

Als Studentin hatte sie sich den Kommunisten angeschlossen, die später in Lulas „PT“ integriert wurden. Sie war in ihrem Bundesstaat Acre mit sensationellen Stimmzuwächsen zur Senatorin gewählt worden und  arbeite für Lula als Umweltministerin, zerstritt sich mit ihm über Großprojekte wie Staudämme am Xingu-Fluss im Amazonas und trat den „Grünen“ bei, denn die traditionelle Linke, das be4kam sie schnell mit, ist eher für Wirtschaft als für grünjen Umweltschutz zu haben.

Marina Silva wird eine zentrale Rolle in Lulas neuem Kabinett spielen, und sie wird nicht zuletzt für das moralische Ansehen der neuen Regierung sorgen.

Die will Lula da Silva aber erst vorstellen, wenn er vom Weltklima-Gipfel in Ägypten zurückgekehrt ist – ein sichtbares Zeichen dafür, was Lula zum Schwerepunkt seiner neuen Amtszeit machen wird.

Besonders pikant dabei dürfte die Rolle der Religion spielen, denn auch Marina Silva ist – wie Bolsonaro – wiedergeborene Christin und steht der woken Ideologie mit all ihren kruden Vorstellungen zu Sex und Geschlecht und dem LGTBQ-Quatsch distanziert gegenüber.

Man wird es schwer haben, auch sie in die Riege der linken Identitären einzureihen. Sie nimmt Demokratie ernst. Sie ist nicht für Tricks und Propaganda zu haben.

Sie wird die wahre Konservative sein in Lulas Regierung.

Auf die warten ohnehin schwierige Zeiten.

Mittlerweile habenm alle drein Streitkräfte des Militärs erklärt, sie stünden zur Demokratie – auf brasilianische Art – und erteilten den Rufen nach einem Militärputsch Absagen.

Immerhin hat sich Lula bereits zu einer eminent wichtigen außenpolitischen Frage geäußert: Er befürwortet einen möglichst schnellen Friedensschluss zwischen Russland und der Ukraine, weil er weiß, dass die Sanktionen und Unterbrechungen der globalen Handelsrouten besonders die ärmeren und die Schwellenländer trifft.