ROMA AETERNA

In Rom, der ewigen Stadt, sind das Profane und das Heilige faszinierend ineinander verschränkt. Eine Bilder-Reise in den Zauber. Matthias Matussek

 

Vielleicht lässt sich der Unterschied zur kulturellen Steppe unserer deutschen Hauptstadt so beschreiben: wer auf dem Flughafen Berlin ankommt, rollt seinen Koffer an einem „Ampelmänner“-Laden vorbei, wo Waschlappen in rot, gelb und grün verhökert werden, also vorbei an einem grimmigen Kalauer. Wer dagegen in Fiumicino, Rom landet und zum Ausgang strebt, begegnet mannshohen antiken Statuen, die in großen Vitrinen ausgestellt sind, stolze Kaiserstatuen mit in gerafften Togen werden da hergezeigt sowie frühchristliche Fresken. Überreste also aus der stolzen Geschichte der ewigen Stadt. Ein langer Atem.

Dann die Fahrt hinein, ernste Pinien stehen wie dunkelgrüne Flammen am Wegrand, Häuser in ocker und braun tauchen auf, dann die Überreste der alten Stadtmauer, all dieser Relikte, all diese Erinnerungsschübe.  Dann die Patrizierhäuser, die Piazze, die Brunnen. Und überall sind antike Reste verbaut im Gewirr der Gassen, ein altes Kapitell, ein Säulenstück, eine römische Tafel, Beschwörungen eines Geschichtsstolzes, die wie charakterliche Mahnungen wirken.

Diese imponierende 2000-jährige Kontinuität aus römischer Weltherrschaft und ihrer Staffelübergabe an die aus der Ewigkeit winkende civitas dei, den Gottes-Staat! Schon zu Zeiten des Horaz und Vergils nannte sich die Stadt „Roma Aeterna“, was für ein Selbstbewusstsein ohne alles Party-Gekichere, und nur mit Schaudern denke ich an das vergaunerte Provisorium Berlin zurück mit seinem Motto „arm aber sexy“.

Hier ist alles durchseelt und durchaus prächtig.

 

An diesem hellen Mai-Vormittag liest Martin Mosebachs, der asketisch wirkende Gentleman mit seinem silbergrauen Haarkranz und dem Einstecktuch und der blitzenden Brille, ein Herr, wie man so sagt, in der Bibliothek der barocken Kirche Santa Maria dell’Anima, aus seinem Buch „21“ vor.

Angesichts ihres Themas hat sich diese seelenaufwühlende Reportage über die koptischen Opfer des düsteren islamischen Terrors erstaunlich lang in der Bestsellerliste gehalten. Es waren Wanderarbeiter aus Ägypten, denen von den Schergen des IS für einen grauenerregend-professionellen Propagandafilm am Strand in Libyen die Kehlen durchgeschnitten wurden. Sie wollten nicht zum Islam übertreten und damit ihren christlichen Glauben verraten.

Da sind die gefesselten Verurteilten in ihren orangefarbenen Overalls, die schwarzen Schergen, das Blut, das den Schaum der Dünung rot färbt…Mosebach setzte sich in Bewegung, als er auf dem Titel des Vatican-Magazins das Antlitz eines der Enthaupteten erblickte. Er hatte die Verwandten der Märtyrer besucht, die alle aus dem gleichen Dorf stammten. Alle sind sie heiliggesprochen worden. Sein bildstark beobachteter, tief reflektierender und in Momenten sogar lustiger Reportage-Essay gehört zum Besten, was unser Handwerk zu bieten hat.

Nach seiner Lesung kurz ein Blick auf die Spolien im Innenhof, auf die Versatzstücke aus Friesen und Kapitellen und Putten im Mauerwerk, und ein verzückter Mosebach mit seinem Geschenk in der Hand, einer Flasche Rotwein, ins Staunen versunken.

Hier, in diesem Viertel, hat er in früheren Tagen, auf dem Dach der Chiesa Nuova, der Kirche des heiligen Philipp Neri, an einem seiner Romane gearbeitet und durch das Fenster geschaut, um im Herbst die Schwärme von Staren zu bewundern, Flugkünstler in abenteuerlichen Formationen, die die Himmel verdunkeln und sich zu immer neuen Formen zu gruppieren, zu Herzen, die explodieren in Chrysanthemen oder Säulen oder Zylindern, um erneut auszubrechen ins zarte Abendblau.

Derzeit lebt er wieder hier, um sich zu seinem neuen Roman inspirieren zu lassen.

Und ich bin in der Stadt, um an einem Festkommers des Cartellverbands „Capitolina“ teilzunehmen, dem ich sieben Jahre zuvor feierlich beigetreten war. Die Capitolina ist eine nicht schlagende Verbindung, zu deren Mitbegründern 1986 Kardinal Ratzinger, der spätere Papst Benedikt gehörte. Sie ging hervor aus einer langen Tradition deutscher katholischer Pilger und Studenten der Gregoriana, der Universität des Vatikans. Tatsächlich ist die Capitolina mit rund 30 000 Mitgliedern der größte konfessionelle Akademikerverband Europas.

Anschließend an Mosebachs Lesung schlendern wir durch die engen Gassen zu seiner Lieblingstrattoria, und über einer wunderbaren eingelegten Artischocke fragte ich ihn, ob sein neuer Roman mit Rom zu tun habe. „Natürlich nicht!“ sagt er, und ich denke: Schade eigentlich, ich warte auf Martin Mosebachs großen Rom-Roman, der steckt doch schon im Gattungsnamen, verdammt noch mal! Schließlich ist er der bedeutendste katholische Schriftsteller der Gegenwart, dazu ein orthodoxer, der sich mit Büchern wie der „Häresie der Formlosigkeit“ oder „Der Ultramontane“ immer wieder gegen die Vulgarisierungen der deutschen katholischen Kirche gestemmt hat, die derzeit auf ihrem „Synodalen Sonderweg“ ins Schisma strebt.

Er suche noch, fährt Mosebach fort, und dann kommt Hauptgang – dünnes Steak für ihn, „con sangue“, also blutig, für mich gebratene kleine Calamari mit Krabben – und wir rutschen in ein Gespräch über das ewige Leben. Es sind diese Übergänge vom Profanen zum Heiligen, die in keiner anderen Stadt der Welt so anstrengungslos passieren.

Die spannendste Stelle in seinem Buch „21“ ist ein Selbstgespräch. Da nämlich überprüft der Autor sich und seinen Glauben mit der Frage, ob er mit dem Versprechen, augenblicklich als Heiliger neben Gott im Paradies sitzen zu können, denn als Märtyrer wäre er ein solcher, sein Leben opfern würde.

Es folgt ein gelehrter Mosebach-Exkurs über die Märtyrerfreudigkeit der jungen Christenheit, der schließlich ein Papst irgendwann Einhalt gebot, es gibt sogar einen Heiligen, der „auch Felix“ heißt, ein namenlose junger Mann, der sich eifrig einem Verurteilten hinzugesellte und seinen Nacken unter das Schwert beugte.

Sein Roman? „Vermutlich wird es mein letzter sein“, sagt er düster.

„Dichten, ein unbarmherziges Geschäft“, das wusste schon Gottfried Benn. Hemingway, schwer depressiv, stürzte sich in todesnahe Abenteuer, um „nicht mehr schreiben zu müssen“ und erschoss sich am Ende.

Dann hellt er sich auf und berichtet animiert von den Ostertagen, die er hier mit seiner Frau verbrachte. Sie haben die Fußwaschung am Karfreitag und die Messen in der Santissima Trinità dei Pellegrini besucht, die Frau „selbstverständlich mit Schürze und Spitzen-Schleier“, und während er schwärmt, nimmt eine Gruppe von sechs kurzgeschorenen Muskelmännern am Nebentisch Platz, und wir rätseln leise, Ukrainer?, und sprechen vom Krieg und einigen uns darauf, dass wir beide völlig kriegsuntauglich sind.

Nachdem wir gezahlt haben, spreche ich die Männer an. Sie kommen nicht von der Front, sondern doch nur aus Montenegro. Katholisch? Irritiertes Schulterzucken, ach so, nein, eher orthodox.

Am frühen Abend eine Rom-Eloge Mosebachs in der Aula des Santo Campo Teutonico, dem deutschen Friedhof gleich neben der Basilika, einem von Pinien und Lorbeerbäumen überschatteter Garten voller Grabplatten und Inschriften und Spolien. Das ist das katholische Romfeeling! Die übrigen Cartellbrüder sind eingetroffen. Ich lasse besorgte Handreichungen über mich ergehen, das Märtyrer-Rot auf dem Band gehört nach oben, und dann erst folgen die Vatikan-Farben Gelb und Weiß, und es wird von rechts nach links getragen.

 

Es sind es nur ein paar Schritte zum Seiteneingang des Petersdoms, hinein und hinab unter den Altar mit den Kolossalsäulen Berninis in die Krypta zur Begräbnisstätte Benedikts XVI. Da ist ein kleiner Altarraum, dessen Sichtachse auf das Grab des Petrus gerichtet ist, auf den Gründer der Kirche also, auf den Fels mit dem jesuanischen Versprechen in Matth. 16,8:  „Auf diesem Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen”. Was für ein großartiges Versprechen in diesen Tagen, womöglich wird erneut eine Zeit der Katakomben für Christen anbrechen. Die Messe hier unten wird von Dr. Josef Clemens zelebriert, vom Sekretär des verstorbenen deutschen Pontifex.

Von hier, dem Heiligen aus, sind es dann nur ein paar Hundert Meter am mittlerweile stillen Petersplatz vorbei ins Profane, in die wilde Sauferei des Festkommers, der im Complesso Monumentale Santo Spirito in Sassia, einem ehemaligen Pilgerhospital ausgerichtet wird. Dort ziehen feierlich die verschiedenen Cartellvereine mit ihren roten und blauen und weißen Uniformröcken ein, und ihren Degen und Käppis, dieser lustige Mummenschanz aus dem 19.Jahrhundert, und während „Gaudeamus igitur“ angestimmt wird und die Gläser klingen, wandert mein Blick vom Profanen zurück ins Heilige. Es bleibt hier gar nichts anderes übrig.

Denn dieser ehemalige Krankensaal aus dem Mittelalter ist mit den schönsten biblischen Freskenmalereien in den riesenhohen Stützbögen versehen, in der offenbaren Annahme, dass Heilung und Heil letztlich nur von oben zu erwarten sind.

Dem Gewoge und Gesinge unten an den Bänken hat sich auch der 92-jährige Kardinal Brandmüller, ebenfalls ein Cartell-Bruder, noch einmal ausgesetzt. Ich hatte ihn, den Kirchenrechtler, vier Jahre zuvor besucht, als er mit anderen Kardinälen sein „dubia“, seine Zweifel angemeldet hatte an der Entscheidung s bisweilen erratischen Papst Franziskus, auch geschiedene Verheiratete zur Kommunion zuzulassen.

Walter Kardinal Brandmüller, der promovierte Historiker, hatte die Einmaligkeit der Ehe, diesen vor Gott geschlossenen Bund, verteidigt und den entsprechenden Passus aus einem uralten Folianten des kanonischen Rechts vorgetragen. Er könne den Verstoß gegen die Tradition nicht mittragen, meinte er, und ich verstand seine Not, denn es finden sich im Evangelium nach Matthäus, Kapitel 19, Vers 6 diese Worte: “So sind sie nun nicht mehr zwei, sondern ein Fleisch. Was aber Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht trennen.”

Aber wie schrieb Staatsrechtler Carl Schmitt („Römischer Katholizismus und politische Form“) einst? „Alles fließt, sagt Heraklit, und der Stuhl Petri, der fließt mit“. Er schrieb dies nach dem zweiten Vatikanum, dem Reformkonzil der 60er Jahre, auf dem Vieles missverstanden wurde und die stete Aushöhlung der liturgischen und rechtlichen Formen ihren Ausgang nahm. Carl Schmitt hatte darauf hingewiesen, dass die Kirche, „die wahre Erbin der römischen Jurisprudenz ist“, die den wechselnden Rechtsformen der merkantilen und modernen Welt diametral gegenüberstehe und auf ihrem eigenen Recht beharren müsse.

Das kann man falsch finden. Man kann dieses traditionsstolze Beharren aber auch begrüßen angesichts der Verwüstungen, die das wechselnde Partnerschaftskarussel in der Keimzelle jeder Gesellschaft, der Familie, anrichtet. Benedikt hatte einen Ausweg aus dem Dilemma für Neuverheiratete angeboten. Sie sollten ihre Erst-Ehe annullieren lassen können. Franziskus aber öffnete einfach die Schleusen.

An diesem Abend ist der unbeugsame Kardinal auf seinem Stock fast zu Boden gebückt, er erwidert meinen Gruß mit einem Lächeln, „Ach wie schön, Herr Matussek“ sagt er und lässt dann auf der Bank neben dem neuen Philister Senior, dem alerten Rechtsanwalt Franco Reale, Ansprachen und Gesänge über sich ergehen, auch eine Rede, in der ein junger Doktorand die Capitolina auffordert, die Werte des katholischen Verbands und die der freien westlichen Welt an der Grenze zu Russland zu verteidigen.

Allerdings lässt er offen, welche Werte er damit meint. Ist es das Recht eines Mannes, sich als Frau auszugeben und alle Welt zu zwingen, diesen Verstoß gegen die biologische Tatsache bei empfindlicher Geldstrafe als Wahrheit anzuerkennen? Wie wäre es, sage ich zu meinem Banknachbarn Markus, Doktor der Theologie, wenn wir unsere Werte zunächst mal in der deutschen Heimat verteidigen?

Es wird spät und später, die Gesänge werden lauter, das Klirren der Glaskrüge ebenfalls, kurz nach Kardinal Brandmüller verlasse auch ich den Festkommers, im Wettkampf um die meisten Biere in der kürzesten Zeit ziehe ich ohnehin den Kürzeren.

Diesmal schlafe ich wegen einer Fehlbuchung meines Hotels auf der „Bude“, dem Studentenquartier der Capitolina in einem Gässchen an der Piazza Navona, offenbar der absoluten Partymeile. Vom Balkon im zweiten Stock ein Blick hinab auf das animierte Menschengewühl vor den Bars und Cafes an diesem warmen Mai-Abend. Was mag Philipp aus Eichstätt, dem hoffnungsfrohen Priesterkandidaten, der mir den Schlüssel in die Hand gedrückt hat, bei diesem Anblick durch den Kopf gehen, frage ich mich. Gerät sein Entschluss ins Wanken?

Im Aufenthaltsraum mit seinen Bannern, der sich allmählich füllt mit Rückkehrern vom Festkommers, steht ein Klavier, darauf ein ausgestopfter Fuchs und darüber Bilder des Cartellbruders Papst Benedikt. Nachtrinken mit Bier aus dem Kühlschrank, dann stürzen sie sich ins Gewühl.

Am nächsten Morgen treffe ich Mosebach wieder, diesmal zum Sonntagsgottesdienst in seiner Santissima Trinità dei Pellegrini, dieser Gründung des Hl Philipp Neri von 1540 mit bereits barock geschwungener Fassade und atemberaubendem Innenraum. Sie ist riesig und bis auf den letzten Platz gefüllt.

Vor einem Seitenalter knien Frauen mit schwarzer Spitzenmantilla über dem Scheitel kerzengrade auf dem Marmorboden. Die Predigt befasst sich mit der Heiligen Katharina von Siena, einer Dominikanerin und klugen Ratgeberin der Mächtigen. Sie wurde von Papst Johannes Paul II. zur Schutzpatronin Europas ernannt. Gerade n diesen Tagen, denke ich mir, würde eine Frau wie sie an der Spitze Europas, ganz besonders angesichts der real existierenden Alternative, die ihre Amtszeit verlängern möchte, dringend benötigt.

Zwei Reihen vor mir sitzt und steht Martin Mosebach, dann kniet auch er auf den Marmorfliesen, soldatisch, dabei ist er drei Jahre älter als ich. Ich komme mir sehr verweichlicht vor auf meiner Bank und schiebe die Schuld auf den Synodalen Weg, der mich offenbar total erschlaffen ließ.

Später besuche ich meinen alten Freund Paul Josef Kardinal Cordes, der mein Buch „Das katholische Abenteuer – Eine Provokation“ in der „Christ und Welt“-Beilage der Zeit neben anderen über vier Seiten hinweg feierte und es ein „echtes Apostolat“ nannte. Sehr zum Ärger meiner Spiegel-Kollegen behauptete es sich in der Spiegel-Bestsellerliste über mehrere Wochen. Im eigenen Blatt mussten sie die mir vertraglich zugesicherten Anzeigen mit dem Spruch „Ohne Glauben geht es nicht“ über sich ergehen lassen.

Cordes wohnt im Gebäude der einstigen Inquisition, dort, wo einst Galileo Galilei in Haushaft saß. Ein hoher Stadtpalast neben der Schweizer Garde, die Haushälterin Romana an der Pforte holt mich ab, ein stiller Innenhof, die Nachmittagssonne glüht auf dem gelben Putz, rasselnder, vergitterter Fahrstuhl, dann der alte Kardinal im Rollator.

Cordes ist der Erfinder der Weltjugendtage, dieser letzten Triumphe der katholischen Kirche in einer säkularisierten Welt. Er ist schmal geworden, dieser nimmermüde Streiter vor dem Herrn. Romana bringt selbst gebackenen Apfelkuchen und Kaffee. Und Paul Josef erinnert sich an unsere vergangenen Schlachten gegen eine antirömische Publizistik, die er erneut mit einem letzten Buch herausfordern möchte. Es soll „Mut zum Christsein“ heißen, denn ein solches Bekenntnis erfordert tatsächlich Mut in diesen Tagen der rasenden Verwirrungen, der Klima- und anderer Ersatzreligionen.

Er sitzt hoch und durchaus aristokratisch in seinem braunen Ledersessel, und als ich ihn verlasse, bin ich mir sicher, dass er, der Sturkopf aus dem Sauerland, sich nicht unterkriegen lassen wird.

Über das Kopfsteinpflaster des Petersplatzes ergießt sich helles Mondlicht und die Basilika mit ihrer imposanten Kuppel erscheint silbern in der Nacht, wie ein Reliquienschrein, mit ihren Kolonnaden und den angestrahlten Heiligenfiguren auf dem Halbrund, das tagsüber Millionen Pilger und Touristen umarmt. Wann hat sich nur diese unwirklich auftrumpfende Gottesgewissheit aus Renaissance und Barock verflüchtigt?

Im Industriezeitalter? Marx immerhin nannte die Religion nicht nur Opium des Volkes, sondern auch den „Seufzer der gequälten Kreatur“, und vor allem „den Geist in einer geistlosen Zeit“. Und die Geistlosigkeit ist geblieben und wird immer geistloser. Wenn die Utopien einer Gesellschaft auf die Regulierung des Klimas heruntergekommen sind und das Erlösungsziel 1,5 Grad heißt, sind wir wohl verloren, denke ich bei dem Anblick des Doms.

Die historische Pointe um diesen glänzenden Prunkbau dort hinten in der Nacht besteht ja darin, dass er zwar zur Spaltung der Kirche führte durch den Protest Luthers gegen den ihn finanzierenden Ablasshandel. Aber gleichzeitig schloss er die Wunde wiederum und bildete fortan den Schwerpunkt der una sancta. Ein Bau für urbi et orbi, für die Stadt und die Welt, der Mittelpunkt der katholischen Christenheit, ein Tempel, der sie zusammenbindet.

Ob er das auf Dauer schafft, steht in den Sternen, denn die deutschen Bischöfe gehen wieder einmal einen Sonderweg mit ihrer Forderung nach Aufhebung des Zölibats, dem Ehesakrament für gleichgeschlechtliche Paare und weiblicher Priesterschaft, also einer protestantischen Neuauflage. Als zivilreligiösen Ausgleich haben sie sich dem Kampf gegen rechts verschrieben. Sie konzentrieren sich entschlossen auf vorletzte Fragen, statt auf solche des Heils.

Den obligatorischen Capitolina-Ausflug nach Frascati, die Weingegend, habe ich mir diesmal erspart, auch weil ich wusste, dass der alte Philister Senior Rudi Herrmann diesmal nicht mit von der Partie ist. Vor sieben Jahren hatte er mit erhobenen Fäusten auf den Stufen eines Gebäudes der Altstadt seine Kriegserklärungen an die glaubensschlaffe Gegenwart über die Bänke der noch nicht angesoffenen Köpfe der Cartellbrüder ausgerufen und mich elektrisiert.

Anderntags treffe ich ihn wieder, da steht ein Ausflug in das Bergnest Sutri an, das antike Sutria, und nirgendwo ist der Eingangssatz zu Thomas Manns “Josephs“-Tetralogie angebrachter als hier: „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit; sollte man ihn nicht unergründlich nennen“. Das auf Vulkanstein gebaute Sutri, rund 50 Kilometer nordwestlich von Rom, wurde schon bewohnt bevor die legendären Söhne des Kriegsgottes Mars Romulus und Remus, aufgenährt von einer Wölfin, ihren Streit um die Stadtmauer ausgekämpft hatten. Bereits im zehnten Jahrhundert, im Ausgang der Bronzezeit siedelten hier Kelten und Etrusker. Erst im Jahr 396 v.Chr. konnten die Römer, auf dem Sprung zur Weltmacht, den Ort einnehmen.

Ganze 5000 Einwohner leben in diesem Bergnest, aus dem sich jedoch eine gewaltige Basilika erhebt, die Santa Maria Assunta, Mariä Himmelfahrt. Im mittelalterlichen Investiturstreit diente das Bergnest mehreren Päpsten als Refugium. Nach der Messe der Capitolina an diesem Tag, an dem Josefs des Handwerkers und stillen Pflichterfüllers und Familienvaters gedacht wird – ich lasse mich während der Predigt in die Erinnerung an meinen Vater, der Josef hieß, zurücktragen – kann die Krypta besichtigt werden, romanische Rundbögen und heidnische Säulen sind hier verbaut.

Am Platz der Porta Vecchia bleibe ich mit Philipp und einigen weiteren Cartellbrüdern beim Aperol vor einem Cafe hängen, während der Haupttross die in den Tuffstein gehauenen Etruskergräber, veritable kleine Häuser, besichtigen. Ein Alter Herr aus Österreich führt mir diese komfortablen Jenseitshäuser später vor. Wohl alle Hochkulturen stellen diesen letzten Fragen.

Dann geht es weiter zum Lago di Bracciano zum abschließenden Essen. Hier treffe ich den feurigen alten Philister Senior Rudi wieder, der nach dem Essen noch einmal Donnerworte hören lässt und den Katholizismus als Widerstand gegen den herrschenden Lügenäther fordert und als Geist in einer geistlosen Zeit.

Er ist damit übrigens nicht alleine. Michel Houellebcque wünscht sich das Gleiche. Auch der jüdische Philosoph Finkielkraut, ein Bewunderer des verstorbenen deutschen Papstes, hat sich soeben in einem, Interview ähnlich geäußert. Doch unter dem Burschenvolk mit den rotweißgelben Bändern hat sich die mentale Temperatur verändert. Der neue Philistersenior ist doch mehr auf Harmonie mit dem Zeitgeist aus. So wird Rudi diesmal eher belächelt als angefeuert.

Doch die katholische Welt der Wunder lebt weiter, zumindest in Rom: Vor meiner Abreise anderntags besuche ich mit meinem alten Freund und Vatikan-Kenner Paul Badde die Basilika Santa Maria Maggiore auf dem Esquinal, die Papstbasilika, die bereits in der Spätantike errichtet wurde.

In einem prächtigen Mosaik an der Front wird hier das „Schneewunder“ abgebildet – der Legende nach soll die Jungfrau Maria dem Patrizier Johannes im Traum erschienen sein und ihm versprochen haben, seinen Wunsch nach einem Sohn zu erfüllen, wenn er an der Stelle, an der am nächsten Morgen Schnee liegt, eine Kirche baue. Im Gedenken daran lässt man hier an jedem 6.August aus der Kassettendecke weiße Blütenblätter über die Gläubigen rieseln.

Nach jedem Auslandsaufenthalt kehrt Papst Franziskus als erstes in diese Kirche zurück und betet vor der vermutlich ältesten Marienikone der Welt. Die Vergoldung der Kassettendecke soll aus der ersten Lieferung stammen, die die indigenen Völker Lateinamerikas der Kirche geschenkt haben, eher weniger freiwillig.

Ich nutze die Gelegenheit zur Beichte. Auf englisch. Entweder verstand der Beichtvater die Fremdsprache schlecht, oder ich habe mich missverständlich ausgedrückt, auf jeden Fall brummt er mir als Sündenstrafe einen ganzen Rosenkranz auf.

Als ich Paul davon berichte, ist auch er von den Socken. „Hast du jemanden umgebracht?“, fragt er mich. Dann beten wir gemeinsam den schmerzensreichen Rosenkranz, während wir uns im Straßenverkehr auf die Suche nach einem Taxi begeben.

Ich liebe Paul, diesen Veteranen unserer Zunft, der bei dem legendären Satireblatt „Pardon“ begonnen hat und anschließend Jahrzehnte lang aus Jerusalem und Rom für die Welt berichtete, ich liebe seine Mischung aus Anarchie und Frömmigkeit, die er selbst nach seinem Schlaganfall vor ein paar Jahren nicht verloren hat – im Gegenteil.

Pauls Wohnung liegt gleich hinter den Kolonnaden am Petersplatz, seine Frau Ellen hat gekocht, und nach einem üppigen 4-Gänge-Menü (Salat, Pasta, Mozzarella, Dessert, Wein, Likör) zeigt er mir die Sensation, die er zuvor geheimnisvoll angedeutet hat.

 

Sie stammt aus dem Nachlass von Papst Benedikt – ein durchsichtiges Bild zwischen zwei dicken Plexiglasblöcken. Es stand neben seinem Bett. Es ist das Antlitz Jesu, das sich nach der Kreuzabnahme in das Schweißtuch eingedrückt haben soll im Grab des Joseph von Arimatäa. Das Vulto Santo  wird in einer Kirche im Abruzzen-Nest Manopello aufbewahrt, Paul hat ein Buch darüber geschrieben. Der verstorbene Papst hatte lang vor diesem Tuch meditiert und gebetet.

Oft hat er in seinen letzten Tagen dieses Bild unter Plexiglas zur Hand genommen und es betrachtet, sagt Paul.  „Signor, ti amo“ waren seine letzten Worte: Herr, ich liebe dich.  Der katholische Glaube ist sehr konkret. In seinem Zentrum steht ein Mensch, der Gottes Sohn ist. Und ja, wir können, wir dürfen uns ein Bild von Gott machen.

Mir fällt in diesem Moment das Gespräch mit Martin Mosebach über die Ewigkeit ein und seine wunderbare Geschichte von dem alten katholischen Priester, der gefragt wurde, ob er Angst vor dem Tode habe. Der Priester antwortete: Angst nicht, sondern – Lampenfieber.

Schließlich inniger Abschied. Und auf dem Rollband im Flughafen, mit einem letzten Blick auf die Vitrinen mit den Schätzen der Antike, stelle ich mir mir die Frage, wie ich nach diesen Tagen hellster Glaubensvernunft wieder in der dumpfen deutschen Steppe mit ihren Kriegs-Irren und den Übergeschnappten der Klima-Ersatzreligion und ihren ordinären Ampelwaschlappen zu recht kommen soll…