Thüringens Ministerpräsident Ramelow wirkt wie ein Apparatschik. Trotz seines Glaubens verzichtete er auf den Amtseid mit Gott und beruft sich auf Ludwig Erhard. Was steckt hinter dieser Attitüde?

Erfurt im Schneeregen. Der Ministerpräsident von Thüringen, dunkler Wintermantel und Schal, wartet am Bahnhof, nette Geste, vielleicht aber Zeitdruck, jetzt mit einem Terminkalender als Ministerpräsident. Gemeinsam auf dem Vorplatz dann der Blick auf den Balkon gegenüber. Erinnerungen an 1970, an schwarz-weiße Fernsehaufnahmen. Dieser Platz damals, schwarz vor Menschen, neun Jahre nach dem Mauerbau. Und alle rufen “Willy, Willy”, und natürlich meinten sie damals nicht den DDR-Funktionär Stoph, sondern den echten Willy, den Willy Brandt.

Auf dem Dachfirst des früheren Hotels “Erfurter Hof” steht heute in weißen Buchstaben “Willy Brandt ans Fenster”. Das riefen sie damals. Es gab aber auch andere, sagt Bodo Ramelow, die da aufmarschierten und brüllten: “Ob mit oder ohne Brandt / die DDR / die hat Bestand.”

Sie hatten unrecht, wir hatten recht. Es ist schön, so eindeutig recht gehabt zu haben, moralisch und politisch. In diesen Tagen ist es sehr viel unübersichtlicher. Da gingen hier gerade sogenannte Pegada-Leute auf die Straße, gegen die Amerikanisierung des Abendlandes. Doch Ramelow treibt nicht der Untergang des Abendlandes an, sondern eher lokale Dinge. “Da kommt das Kongresszentrum hin”, sagt der Ministerpräsident von Thüringen, “und da hat ,Motel One’ Interesse gezeigt”. Ramelow deutet auf eine Achse quer zum Bahnhof in beide Richtungen, große Politiker verewigen sich gern in großen Projekten.

Es sind kurze Wege hier in Erfurt, diesem Mittelalter-Juwel. Über die Brücke des Gera-Zulaufs, kurzer Blick hinab ins lustig sprudelnde Wasser, die künstlichen Stromschnellen darin mit Blumen, der Leierkastenmann auf der Brücke, er kriegt was, und der Ministerpräsident kriegt ein Lächeln dafür. Ob er es bringt, der Neue? Der Leiermann schaut ihm hinterher. “Wird man in fünf Jahren sehn”, sagt er. Hm, also Skepsis, selbst bei den Beschenkten.

Es ist ja nicht lange her, dass hier gegen Ramelow demonstriert wurde, gegen den Linken, der sich mit seinem merkwürdig ausdruckslosen Filialleitergesicht einer Partei verschrieben hat, in der sich einige für die Diktatur des Proletariats ins Zeug legen. Erfurt, dieser Fachwerk- und Renaissancetraum, die Innenstadt bis zum Anger, Schönheit wie in einem dieser Flocken-Schüttelgläser.

Der Ministerpräsident ist auf dem Weg zu seinem ersten Termin heute Vormittag, zur Handwerkskammer, die im Gildehaus von 1892 untergebracht ist, hinter einer wunderbaren farbigen Neorenaissancefassade, zweiter Stock, die Herren warten. Dunkle Anzüge, einige einführende Worte, ja, der schlimme Brand des Hauses vor einigen Jahren, man kennt sich, nur nicht in dieser Funktion. Fühlt sich gut an für Ramelow, der leutselig witzelt.

Ein Wessi, der auf Ossi macht

Bodo Ramelow, der Wessi, der auf Ossi macht. Ein deutscher Zwitter, Ostwest-Karriere, gleich nach der Wende vom benachbarten Hessen rüber nach Thüringen als Gewerkschafter, im Widerstand gegen die Treuhand, im Widerstand gegen den Ausverkauf der DDR. Er unterstützte die hungerstreikenden Kali-Kumpel in Bischofferode, ein Überzeugungstäter.

Das ist das eine, der Kampf gegen das Großkapital, mit proletarisch hochgekrempelten Ärmeln. Das andere ist so eine unangenehme Apparatschikhaftigkeit. Für Ramelow war die DDR zwar kein Rechtsstaat, “aber eben auch kein Unrechtsstaat” – merkwürdig instinktlos angesichts von mindestens 136 Mauertoten.

Was reitet einen ansonsten geschickten Macher und Politiker, sich solche Flanken zu geben? Da war die Stasi-Offizierin, die er als Sekretärin beschäftigte, was sollte das? Und nun sollen Abgeordnete mit Stasi-Vergangenheit nicht mehr als “parlamentsunwürdig” bezeichnet werden – will er die alten Kader für sich gewinnen?

Bodo Ramelow hat den Marsch durch die Partei mit verblüffender Zielgenauigkeit und Effizienz absolviert. Er weiß um seinen Wert. Jetzt, da er erster linker Ministerpräsident und Chef einer rot-rot-grünen Koalition ist, da schauen alle genau hin. Zu ihm. Schauen, ob das klappt mit einem Linken. Schauen, eventuell in eine Zukunft jenseits der CDU im Bund – und Thüringen ist so ein schönes Märchenland. Bodo Ramelow weiß, was auf dem Spiel steht.

Was sollen denn da die Muslime und die Juden denken, wenn ich auf einen Gott schwöre?

Bodo Ramelow (Die Linke)
Ministerpräsident, über seine Vereidigung
Die Staatskanzlei ist ein Juwel barocker Baukunst. Im ersten Stock rechts eine Bürolandschaft mit ausladendem Schreibtisch und Zimmerpalme sowie einer Sitzgruppe. Hier am Tisch wirkt Bodo Ramelow ein wenig steif, wie einer, der sich fest vorgenommen hat, nicht vor Stolz zu platzen. Er verweist noch einmal auf die Pläne mit dem Kongresszentrum und dem neuen Hotel. “Die Gespräche vorhin, da ging es um ein Volumen von 1,6 Milliarden.”

Ich schaue im Raum umher, gedämpftes Schwarzgrau, “Alles noch wie unter Bernhard Vogel”, sagt Ramelow, als ob es seit Vogel nichts und niemanden gegeben hätte. Rechts auf dem Parkett unterm Fernster ein Hundekorb für Attila, seinen Terrier, der offenbar Ausgang hat, die Ehefrau hat sich erbarmt.

Die Staatskanzlei liegt hinter Straßenbahnschienen im autofreien Erfurter Zentrum. Es ist wie in einem Kurort. Hier hinter weiß-roten Mauerschwüngen trafen Goethe und Napoleon aufeinander, und hier sitzt nun der Bodo, der langjährige und so zuverlässige Gewerkschaftssekretär. Hinter dem Schreibtisch die drei Fahnen, Europa in der Mitte, rechts Deutschland, links Thüringen, und auf dem Schreitisch unübersehbar und ladenneu die Bibel, sowie das “Wort Gottes 2015”, ein Buch mit Tageslosungen und Gebeten.

Ramelow ist gläubiger Protestant. Darüber spricht er offen, obwohl Religion “ja nun wirklich Privatsache ist”. Tatsächlich hat er, wie er erzählt, gemeinsam mit Christine Lieberknecht, der Pastorin und früheren Ministerpräsidentin von der CDU, jeden Donnerstagmorgen vor Beginn der Sitzungen Gottesdienst gehalten. Warum er bei der Vereidigung auf die Zusatzformel “So wahr mir Gott helfe” verzichtet hat? “Ja”, sagt Bodo Ramelow, “was sollen denn da die Muslime und die Juden denken, wenn ich auf einen Gott schwöre?” Na, wahrscheinlich werden sie grübeln, was es mit diesem ominösen “Gott” so auf sich hat!

So sehr achtet Ramelow darauf, nicht anzuecken in religiösen Dingen, dass er es durchaus in Kauf nimmt: anzuecken. So brachte er zu Weihnachten den Vorschlag ins Spiel, dass man doch “ein gemeinsames Lied und ein gemeinsames Gebet aus dem gemeinsamen Vorrat der abrahamitischen Religionen” bringen könne. Im Falle der Christen unterverkauft, könnte man sagen, im Falle der Juden sinnlos, und im Falle der Muslime tödliche Blasphemie. Diese Alles-egal-Religion ist auch nicht so ohne!

Ramelow hat Fans, die ihm auf Facebook schreiben: “Ich verstehe Sie. So ist das eben, wenn man in diesem Land links ist.” Ramelow entspricht wahrscheinlich dem demografischen Massetyp. Bisschen sozialdemokratisch links irgendwie.

Er hat sich hochgeboxt, Vater früh gestorben, die Mutter hat ihn und die Geschwister allein großgezogen, “was für eine prächtige Frau”, Ramelow spricht über sie wie über eine Heldin. Sie starb 1988 an Krebs, er hat sie in den Tod begleitet. Als Schüler litt er unter Legasthenie. Hat im Diktat dauernd Sechsen kassiert. Mutter dachte, er sei faul und hat ihn, tatsächlich, “gepeitscht”!

Aber er hat das Handicap irgendwann in eine Stärke verwandelt, machte Abitur, wurde Filialleiter, wurde Gewerkschaftsfunktionär mit zunehmender Machtfülle, zäh, strebsam, heute ist seine Merkfähigkeit überdurchschnittlich.

Nur einmal überreizte er sein Blatt

Der revolutionäre Filialleiter kennt die Bestände, er weiß, was möglich ist oder was nötig. Nur einmal war er von der eigenen Brillanz so besoffen, dass er es vergeigte – vor fünf Jahren. Da war er schon einmal auf dem Sprung in die Staatskanzlei und hat es sich durch ein paar überstarke Sprüche mit den potenziellen Koalitionspartnern vermasselt.

Von allen linken Spitzenpolitikern ist dieser machtbewusste Pragmatiker Bodo Ramelow der kompromiss- und damit koalitionsfähigste Linke und mit seinem schütteren rotblonden Scheitel und 58 Jahren selbstverständlich der Mann der Generation nach Gysi/Lafontaine. Gerade eben hat er mit einem flammenden Bekenntnis zur sozialen Markwirtschaft Ludwig Erhards verblüfft und auf Nachfragen hinzugesetzt, dass er das auch wiederholen würde, wenn das mit dem Programm der Linken nicht übereinstimme. Dann muss eben das Programm geändert werden, bevor sich einer wie Ramelow ändert.

Nur im Kampf gegen die Rechten, da kennt er keine Kompromisse. Nein, da wird Genosse Ramelow keinen Millimeter Boden preisgegeben. Sitzblockade 2010 in Dresden gegen die marschierenden Neonazis. Strafbefehl, 20 Tagessätze à 170 Euro. Er hatte Widerspruch eingelegt, das Verfahren wurde wegen Geringfügigkeit eingestellt. Allerdings, so stur ist er dann schon, wollte er nicht die Kosten seines Anwalts übernehmen, weshalb er den Landtag bat, seine Immunität aufzuheben, um erneut vor Gericht ziehen zu können. Was ihm abermals die Chance geben wird, sich als unerschrockenen Antifaschisten in Szene zu setzen. Imagepflege, Ramelow contra Neonazis. “Und es gibt sie, ich hab Aug’ in Aug’ mit ihnen gestanden.”

Die Westlinken haben nie kapiert, dass in der Partei ein Sekretär etwas anderes ist als eine Sekretärin. Im ersten Fall ist es eine politische Funktion, im zweiten eine Tippse

Bodo Ramelow (Die Linke)
Ministerpräsident von Thüringen
Imagepflege, Teil zwei, besorgt gerade die Sendung “Ramelow und Co.” im Spartensender Salve TV. Die Opposition schäumt gegen diesen “Staatssender”, gegen diese Eigenwerbung alle 14 Tage vor geschätzten 40.000 Zuschauern, die auf der Suche nach irgendeinem Verkaufssender da hängen bleiben.

Er liebe Thüringen, sagt Ramelow, er liebt es so sehr, dass er auf bundespolitische Optionen gar nicht angesprochen werden will. Ist das hier nicht der Testlauf für den Bund? “Fünf Jahre und einen Tag bin ich nur für Thüringen da.”

Nun ja. Was er kann, hat er als Organisator des Zusammenschlusses von PDS und WASG bewiesen. Zwei Milieus und die Genderfrage. “Die Westlinken haben nie kapiert, dass in der Partei ein Sekretär etwas anderes ist als eine Sekretärin. Im ersten Fall ist es eine politische Funktion, im zweiten eine Tippse.”

Ramelow gilt als aufbrausend, aber auch schnell wieder versöhnungsbereit. Außer nach jener zehnminütigen Brüllerei mit Oskar Lafontaine. Da verlangten besorgte Gregor Gysis und andere eine Entschuldigung. Ramelow sagte “Nö”. Wo er die Stärken von Gysi und Ramelow sieht? Lafontaine kann sich jeden Namen merken. “Und Gregor kannste auf eine Apfelsinenkiste stellen, und nach fünf Minuten ist der Marktplatz voll.” Scheint Ramelow mehr zu imponieren.

Phänotyp des nächsten Kanzlers

Das politische Geschäft verlangt Überzeugungstäter. Leuchtfiguren. Leute wie dieser Alexis Tsipras. Dem griechischen Euro-Rebellen hat Ramelow zum überwältigenden Sieg eine überschwängliche Gratulations-SMS geschickt. “Hat es Sie nicht gestört, dass er diese Koalition mit den Nationalisten eingegangen ist?” “Nationalismus als solches ist doch nicht schlimm. Jede Nation sollte durchaus ihre Interessen vertreten.”

Zunächst werde es darum gehen, dass sich Griechenland von der Bevormundung, ja, von dem “Gift der Troika” löse und sich um die kleinen Leute kümmere. Die zahlten nämlich Steuern, während die dicken Fische das nicht machten. “Erst einmal hat Tsipras die Privatisierung des Hafens gestoppt, was eine gute Sache ist, denn hier geht es um Volksvermögen.”

Also nun zur Sache: Kann er sich ein rot-rot-grünes Bündnis auch im Bund vorstellen? Wie erklärt er sich, dass die SPD in ihren 25 Prozent festbetoniert ist? Sie kriegen doch alles durch, Mindestlohn, Mütterrente, aber in den Umfragen gibt es keine Bewegung. “Vielleicht liegt es daran, dass sie es zu technokratisch verkaufen”, sagt Ramelow.

Ja, vielleicht ist Ramelow tatsächlich der Phänotyp des nächsten Kanzlers. Der neue Ministerpräsident von Thüringen lässt auf jeden Fall keinen Zweifel daran, dass er das Geschäft der SPD besser besorgen würde.

Erschienen am 10.02.15 www.welt.de