Marcel Reich-Ranickis TV-Karriere war ein einziges produktives Missverständnis: Obwohl er alle Regeln des Mediums missachtete, gelang es ihm mit seinem “Literarischen Quartett”, das Feuilleton ins Fernsehen zu bringen. Ein Genie der Anmaßung in einer Welt der Mittelmäßigkeit.

Marcel Reich-Ranickis (MRR) größtes Geheimnis war, dass er die Kamera ignorierte. Sie war ihm egal. Deshalb erhielt er sie – die “goldene Kamera”, neben unendlich vielen anderen Publikumspreisen. Er war das produktivste Missverständnis, das sich der deutsche Fernsehbetrieb je geleistet hat.

Und es ist leider zu vermuten, dass es auch das letzte bleiben wird, nachdem zum Beispiel Sloterdijk undSafranski abgeräumt und durch den telegenen Prechtersetzt wurden.

Nein, Marcel Reich-Ranickiverachtete das Fernsehen, obwohl es ihn zum Star gemacht hatte; nur mit dieser Haltung geht es. Deshalb auch lehnte er den deutschen Fernsehpreis ab, als er sah, wer den noch alles bekommen sollte, Atze Schröder und Konsorten.

Zwar hat er sich dann mit Mr. Fernsehen persönlich getroffen, dem bunten Vogel Gottschalk, und sich noch einmal vor die Kamera gesetzt, um mit ihm über Shakespeare und den deutschen Bildungsnotstand zu plaudern, aber das war dann schon wie das Treffen zwischen Abgesandten verschiedener Universen aus dem “Krieg der Sterne”. Hier der ewig flotte Gottschalk in seinen Sgt.-Pepper-Kostümen, der Vertreter des Systems, dort der kleine Mann mit der Weltbibliothek im Kopf und der Schreckensweisheit des Jahrhunderts in den Zügen.

Literatur für die Lümmel in der letzten Bank

Er hat die Kamera ignoriert, sie durfte ihm zuschauen, höchstens, wie er ganz bei sich war und ganz beim Publikum. Ja, er sprach so direkt zum Zuschauer wie der schrullige Pauker zur Schulklasse, er redete sich in Begeisterung oder er wütete, um auch die Lümmel in der letzten Bank mitzureißen, und die Kamera war ihm wurscht.

Sie durfte diesem Naturereignis zuschauen, wir durften zuschauen – wie trostlos diese ganzen Container-Veranstaltungen sind, weiß man erst, wenn man MRR ganz bei sich erlebt hat, nämlich bei der Verfertigung seiner Gedanken und diesen Salven aus Treffern und Ungerechtigkeiten.

Er hat gewütet und geliebt wie kaum einer, und wie kaum einer gelitten.

Im heutigen Fernsehbetrieb hätte einer wie MRR kein Casting überstanden. Er lispelte. Er war kurzsichtig. Er saß klein und gedrungen in seinem Sessel. Er fuchtelte mit dem Zeigefinger. Mann, war der gut in seiner Tele-Verachtung. Er verstieß gegen alle TV-Gesetze, wie Sloterdijk… ach so, das hatten wir ja schon.

Wo sich andere sogenannte Entertainer mit dem Gemüt von Baseballschlägern bei einem mittlerweile hirntoten Vergnügungspublikum unterzuhaken versuchen, waren MRRs Boshaftigkeiten stets intellektuelle Abenteuer und tatsächlich: schlagfertig.

“Man wird doch noch was gegen Walser sagen dürfen!”

Hellmuth Karasek, ein Freund und Kombattant und ebenfalls einer der letzten aus der Garde der durchs Jahrhundert gewachsenen Originale, erzählt gerne von jener Runde im Literarischen Quartett, als Reich-Ranicki sich wieder einmal über Walser hermachte. Da entlud sich plötzlich mit Donnerschlag ein Gewitter über dem Sendegebäude in Salzburg, und Reich-Ranicki breitete die Arme aus und schaute theatralisch zum Himmel und rief: “Man wird doch noch was gegen Walser sagen dürfen!”

Das ist Schlagfertigkeit, und das kann nicht gescriptet werden. Natürlich wusste er sehr genau um seine Wirkung, natürlich war er eitel, aber er hatte eben das, was den meisten abgeht, auch den routiniertesten Fernsehleuten: Gespür für Timing.

All diese gepflegten und adretten und irgendwie gecasted wirkenden Kritiker vor oder nach oder neben ihm, all diese angestrengt glatten und angestrengt kritischen Kulturmoderatoren in ihrer gescripteten Tele-Süffisanz – geschenkt.

Elke Heidenreich hat es noch geschafft, Literatur ins Fernsehen zu bringen, in anderen Worten: die Konkurrenz zum Fernsehen ins Fernsehen zu bringen, aber auch nur, weil sie ein Typ war, eben die Putzfrau Else Stratmann, die so rücksichtslos und unverschämt hemdsärmelig trommelte für das, was sie liebte. Bücher. Lesen.

Wie ein Dino, der sich verlaufen hat

Aber Ranicki war der Meister, denn er sprach aus einem tiefen Geschichtsraum und Bildungsraum und Resonanzraum, aus einer Welt lange vor dem Fernsehen, in der Literatur noch lebensrettend war. Für ihn. Ja, er kam so spät ins Fernsehen, wie ein Dinosaurier, der sich verlaufen hatte.

Er kam aus einer anderen Epoche. Aus der Generation Wochenschau, der Generation Radio, der theatralischen Stimmen und Gesten, denn Literatur und Theater waren Abenteuer in den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts und durchaus auch Kriegsberichterstattung, bevor der tatsächliche mörderische Krieg und Vernichtungswahnsinn alle einholte, und MRR nur knapp auf der Opferseite überlebte.

Auch der RIAS-Kritiker Friedrich Luft war einer von jenen, mit seiner “Stimme der Kritik”, ein halbes Jahrhundert lang nach dem Kriege konnte man ihn hören, all diese leidenschaftlichen Telegrammsätze, diese Atemlosigkeit, das Hämmern von Worten, doch ins Fernsehen konnte er diese Begabung nicht retten. Er versuchte es auch gar nicht. Das blieb MRR vorbehalten.

Gelernt haben beide von Alfred Kerr, dem großen und größten Kritiker der zwanziger Jahre, einem Vernichtungsgenie und Jubel-Akrobaten mit geradezu expressionistischen Ausschlägen, vor allem aber einem großen Talent: dem der Zuspitzung. Von Kerr, dem Anmaßungsgenie, der ein Stück mit den Worten Verriss, es sei nur geschrieben worden, um ihn, Kerr, zu einer Höchstleistung anzustiften. Es waren die Zeiten, in denen Alfred Döblin eine Sammlung von Theaterkritiken übertitelte “Ein Kerl muss eine Meinung haben”.

MRR hat sie gehabt. Immer. Die Meinung. Seine Meinung, die natürlich die einzige richtige Meinung war. Ihr verschaffte er Geltung mit den herrlichsten Einleitungen. Wenn er etwa einen Kollegen unterbrach mit dem Ausruf: “Fabelhaft, mein Lieber – aber völlig falsch”. Und dann begründete er. Und meistens, ach, fast immer, überzeugte er.

Nur so übrigens entsteht das, was man den “Kanon” nennt in der Flut von Veröffentlichungen. Das setzt, neben immenser Bildung und Lese-Erfahrung, ebendiese Anmaßung voraus, man könnte sie auch Selbstbewusstsein nennen, eine durchaus fernsehtaugliche Qualität.

Allerdings muss sie unterfüttert werden, eben mit Qualität, sonst ist man nach zwei Sendungen draußen.

Und MRR hat unterfüttert, hat sie in jeder Sendung gerechtfertigt, seine Meinung, ein Hochseilakt, dem man – auch im voll entwickelten Blödfernsehen – atemlos zuschaute. Er hat sich, um kurz katholisch zu werden, seine Unfehlbarkeit hart erarbeitet.

Was er konnte, konnte sonst niemand: Den Mut haben zur Unterscheidung zwischen gut und schlecht, und, selbstverständlich, das Risiko des gelegentlichen Irrtums in Kauf zu nehmen.

MRR hat tatsächlich einen Kanon der deutschen Literatur herausgegeben, einen ewigen Proviantbestand für unser Zeitalter der Beschleunigungen und Digitalisierungen, für diesen Sturm, der zunehmend alles aus den Regalen fegt, was bewahrenswert wäre. Und er hat ihn, in allen seinen Sendungen neu, auf die eine oder andere Weise überarbeitet und gepflegt, denn er liebte die Literatur.

Ja, euch dahinten hat er gemeint, ihr Lümmel in der letzten Bank.

Lesen von einem anderen Stern. Es wird fehlen.

Erschienen am 19.09.2013 www.spiegel.de