Der schwarze Glanz Berlins: Mit dem Roman “Miss Bohemia” beschließt der Journalist und Schriftsteller Mathias Nolte seine Großstadt-Trilogie. Ein erotisch aufgeladener Trip durch die Kneipen und Straßen der Hauptstadt.

“Ich hatte mir geschworen, nie wieder einen Gedanken an Tara zu verschwenden”, so setzt dieser Lukas Moskowicz an, und auf den folgenden knapp 300 Romanseiten wird klar, warum ihm das nicht gelingen wird, denn Tara ist einfach – unvergesslich.

Sie ist eine dieser unglaublich verführerischen Naturkatastrophen, die der Berliner Schriftsteller Mathias Nolte in das Leben meist schwächerer Männer platzen lässt, um es umzukrempeln. Nach den Romanen um die Punk-Lady “Roula Rouge” und die Nymphe “Louise im blauweiß gestreiften Leibchen” ist es jetzt also Tara mit ihrem Tattoo, die es gleich mit zwei Männern aufnimmt.

Sagten wir “schwächere Männer”? Nun, das ist Auslegungssache. Moskowicz ist vielleicht einfach der letzte seiner Art, kein Quotenmann, sondern ein trauriger Ritter am Tresen, schweigsam, so romantisch wie abgebrüht, aber mit dem wachen Blick auf die Welt und dem untrüglichen Kompass für gut und böse. Moskowicz liebt filterlose Zigaretten, traurige Country-Songs und französische Filme, und wer den Schriftsteller Nolte näher kennt, weiß, dass er die gleichen Vorlieben hat.

Moskowicz also steckt fest, bis eines Tages, zu Weihnachten, Tara mit dem dröhnenden Großkotz Philipp Bach, ebenfalls Schriftsteller, bei ihm auf den Keys in Florida auftaucht, wohin er sich zurückgezogen hatte, um seinen Roman zu Ende zu bringen. Ja, dieser Roman ist auch einer über die Schriftstellerei, dieses “unbarmherzige Geschäft”, wie Gottfried Benn es einst genannt und wie es Hemingway erlebt hat. “Writers block” heißt diese Hölle.

Verführungen zwischen Strand und Palmen

Die Legende Hemingway ist hier, auf den Keys, nicht nur geografisch nahe, sie schwingt mit in der melancholischen Verknappung der Dialoge, in der Poesie der Unterlassungen und verdrängten Gefühle in dieser Festtagsrunde mit Truthahn und Besäufnissen, den Heimlichkeiten und Verführungen zwischen Strand und Palmen.

Moskowicz kehrt schließlich nach Berlin zurück, kommt Tara erneut nah und lüftet Stück um Stück ein streng gehütetes Geheimnis, das in die alten Mauerzeiten zurückreicht. Und er entblättert jenen Unglückspakt, der Philipp und die rätselhafte Tara aneinanderschmiedet.

Wie Tara mit beiden Männern spielt und beide täuscht, das ist großartig erzählt. Dazu gehören auch riskante Szenen wie jene, in der Tara mit unbekümmertem Griff unter die Bettdecke einem alten Geistesheroen ein letztes Glück schenkt. Darüber hinaus ist Berlin so schön und beschwingt geschildert, wie es in seinen verrückten und magischen Stunden tatsächlich ist.

Mathias Nolte kennt die Milieus, die Restaurants in der Fasanenstraße im Westen genauso wie die in Friedrichshain, aber auch die immer noch abgeranzten Viertel im Osten und ihr Personal in geblümten Hausmeisterschürzen, die der Wendeboom noch lange nicht erfasst hat.

Er kennt die Streitereien in den Künstlerkneipen um Lügen und Literatur und die Eitelkeiten eines Betriebs. Wenn etwa der Reichstagsverhüller Christovon dem pöbelnden Philipp Bach in Bedrängnis gebracht wird, weiß man für Momente nicht, auf wessen Seite man sich schlagen soll, denn Nolte hat eine Schwäche für beides, für den Exzess wie für die Etikette. Souverän wechselt er in dieser Schnitzeljagd nach Taras Geheimnis die Schauplätze zwischen New York und Berlin, zwischen Ost und West, souverän bringt er verschiedene Zeitebenen ins Spiel, die fünfziger Jahre, die Tage um die Wende und das aufgeräumte Großstadtberlin der mondänen neuen Zeit.

Eine vergessene Truhe mit Fotos und Manuskripten aus dem Osten der Stadt schließlich treibt diesen Krimi um Identitäten, dieses erotische Verwirrspiel wie aus einem Film von Chabrol, der Lösung entgegen. Am Ende liegt alles in Scherben, doch in den Bruchstücken einer großen Liebe gibt es Trost für Lukas Moskowicz, nämlich die Literatur – Taras Scherbenhaufen hilft ihm, seinen Roman zu vollenden. Und natürlich gibt es immer noch den schwarzen Kaffee, den Countryblues und französische Filme.

“Miss Bohemia” ist ein Glücksfall der Unterhaltungsliteratur, so wie die Krimis des jüngst verstorbenen Jakob Arjouni, mit seinen kunstvollen Plots und den markanten Figuren. Er zeigt, was deutschen Schriftstellern selten gelingt: dass Literatur gleichzeitig geistreich und frivol und spielerisch sein kann.

Erschienen am 25.01.2013 www.spiegel.de