Vizekanzler Sigmar Gabriel wollte die Vorratsdatenspeicherung unbedingt. Justizminister Heiko Maas war eigentlich strikt dagegen – und gab doch noch nach. Ein Besuch bei einem Besiegten.

Fast zart wirkt er und jung, ein schmales, blasses Gesicht, modische Hornbrille, ein Büromensch im grauen Anzug. Aber in diesem grauen Anzug stecken 70 Kilo Kampfgewicht und Durchtrainiertheit. Heiko Maas betreibt Triathlon, diese Königsdisziplin der Schmerzen und Selbstüberwindung.

Maas ist ohne Zweifel links. Aber so was von. Also modern links. Auf dem Ministeriumsdach weht die Regenbogenfahne, er ist genderfreundlich, umweltfreundlich, kleine-Leute-freundlich. Und er ist ziemlich lädiert nach diesen letzten Tagen, in denen er für die Linken zum “Umfaller” wurde. Er wurde es aus Parteiräson. Parteichef und Vizekanzler Sigmar Gabriel hatte entschieden, dass es womöglich inopportun sei, sich der Vorratsdatenspeicherung weiterhin zu widersetzen. Im Falle, dass bei uns Ähnliches passiere wie Freitag in Frankreich.

Nach dem Parteikonvent musste ich erst mal aufs Rad und 90 Kilometer runterkloppen, um den Stress und den Ärger loszuwerden

Also musste sein Justizminister und Schützling Maas liefern, er, der sich doch überhaupt sein politisches Profil gerade als unbeugsamer Kämpfer gegen die Datensammelei erworben hatte. Und Maas lieferte. Er setzte sich mit InnenministerThomas de Maizière zusammen und strickte ein Gesetz zur Datensammelei light. Speicherzeit statt zwei Jahren – wie irgendwann mal vorgesehen und vom Verfassungsgericht verworfen – “nur vier Wochen, IP-Adressen zehn Wochen und E-Mail gar nicht”.

Ob dieser neue Versuch zur “anlasslosen Speicherung von Daten” vor dem Verfassungsgericht Bestand hat, ist nicht gesichert, aber Maas’ Niederlage war der Sieg Gabriels, der sich nun sicherheitspolitisch profilierte. Der SPD-Chef trat vor die Presse, Maas war noch nicht zu Wort gekommen, und erklärte den Beschluss. “Nach dem Parteikonvent musste ich erst mal aufs Rad und 90 Kilometer runterkloppen, um den Stress und den Ärger loszuwerden”, sagt Maas.

Regieren aus der verglasten Raumkapsel

Jetzt erst mal Urlaub mit der Familie, nach Rügen. Seit dem Umzug im vergangenen Jahr aus dem Saarland hierher nach Berlin will man die Ostsee kennenlernen. Die Familie, die in Babelsberg wohnt, am Griebnitzsee, ist zu kurz gekommen in den vergangenen Tagen und Wochen.

Ein helles, schönes Büro auf dem Dach des Ministeriums, gegenüber der Sandstein-Wilhelminismus einer Fakultät der Humboldt-Uni, daneben moderne Büroräume. An der Wand eine Deichlandschaft von Schmidt-Rotluff, Expressionismus in trüben Farben, wenn man sie mit den fröhlichen rot-gelben Explosionen Jürgen Richters vergleicht, die über seinem Schreibtisch hängen. Sieht aus wie eine verglaste Raumkapsel hier oben. “Man kann tatsächlich reingucken von außen”, sagt Maas. Die von gegenüber kriegen alles mit, was er tut, schon sicherheitstechnisch eher ungünstig.

Pegida ist nicht Deutschland. Deutschland ist weltoffen und tolerant

Heiko Maas
Justizminister
Auf dem Schreibtisch, robuste schwere Eiche, die Fotos der Söhne und der Frau. Eine hübsche Blonde und offenbar eine durchsetzungsstarke. Da Heiko Maas, wie zwei Drittel im Saarland, katholisch aufgewachsen ist, “Messdiener und alles, das volle Programm”, gab es Diskussionen über die Erziehung der Kinder.

Als seine Frau vom Pfarrer hörte, dass die Kinder katholisch erzogen werden sollen, “ist ihr fast der Kragen geplatzt”. Jetzt geht die Familie in die evangelische Kirche, nicht unbedingt regelmäßig, aber eben auch nicht nur zu Festtagen.

Abscheu vor den Dresdner Schandfleck

Religion ist ein Sprengstoff. Besonders ist sie das im militanten Islam, und zwar ganz buchstäblich. “Wie kamen Sie nur dazu, die Pegida-Demonstranten, die mit ihren Ängsten auf die Straße gegangen sind, als Schandfleck für Deutschland zu bezeichnen?”

“Weil sie es sind.”

“Sie haben von ihrem Demonstrationsrecht Gebrauch gemacht, ein Grundrecht der Demokratie.”

“Die Bürger erwarten zu Recht, dass ein Minister eine klare Position hat und diese auch offensiv vertritt, gerade in so einer Situation. Ich war und bin davon überzeugt: Pegida ist nicht Deutschland. Deutschland ist weltoffen und tolerant.”

“Verstehen Sie nicht, dass der militante Islamismus für Ängste sorgt?”

“Aber das in Dresden ohne nennenswerten Ausländeranteil war irrational.”

“Ängste haben immer was Irrationales.”

Um es kurz zu machen: Nein, er bereut seine Äußerung nicht, im Gegenteil, er ist stolz, damit der Bundeskanzlerin zuvorgekommen zu sein. Abscheu vor den Dresdner Demonstranten also. Und als sie dann da standen, ein paar Tage nach dem Pariser Terroranschlag, vorm Brandenburger Tor, fast das gesamte Kabinett und die Vertreter der Islamverbände, zur “allseitigen Umarmung”, wie Lessing es genannt hätte, hat er sich nicht komisch gefühlt, vor den paar Hundert Demonstranten, die diese Vorstellung besuchten? “Ich war enttäuscht, ich hatte schon damit gerechnet, dass die islamischen Vertreter eine größere Mobilisierung hinkriegen.”

Applaus für “populistischen Blödsinn”?

Er ist freundlich. Er ist glatt. Er ist, wie heißt das Wort? Unverbindlich! Im Regal Gesetzestexte. Und dieser Spruch von Tucholsky, dass nichts mehr Charakter erfordere, “als sich im offenen Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen NEIN”. Hm. Gilt das nicht auch für Dresdner?

Maas ist ein aktiver Minister. Mietpreisbremse, Begrenzung der Maklerprovisionen, doppelte Staatsbürgerschaft, Gesetze gegen Korruption im Gesundheitswesen.

Er sattelt gern drauf. Im Paragrafen 46 spezifizierte er als besonders strafwürdig Straftaten mit “fremdenfeindlichen, rassistischen und menschenverachtenden Zielen”. Das käme gut an, sei eine Empfehlung des NSU-Ausschusses gewesen, sagt er, sei aber nach Ansicht des Rechtskolumnisten und Anwalts Heinrich Schmitz deklamatorisch und “populistischer Blödsinn”. Der Paragraf enthält bereits in allgemeinen Worten, dass auch die Gesinnung bei der Strafzumessung eine Rolle spielt. Doch Maas gab die Richtung vor und erntete Applaus.

Maas wirkt klug, vorsichtig, aber auch glatt geschliffen. Vielleicht hat er sich mit seinen 48 Jahren zu der Erkenntnis durchgerungen, dass die Verhandlung in Zimmerlautstärke eher sein Ding ist als die populistische Dröhnung auf dem Marktplatz.

Der Arbeiterheld trat dreimal an und verlor

Sein Ziehvater war Oskar Lafontaine. Und dann kam es zum Bruch Lafontaines mit der Partei, und Schröder erfand die Agenda 2010, die aus Deutschland eine Wirtschaftslokomotive machte, und Heiko Maas, der Arbeiterheld, machte im Saarland Wahlkampf gegen Schröder, vollmundig und laut, und verlor. Er konnte den bereits einsetzenden Sinkflug der SPD nicht stoppen. Er trat dreimal an und verlor dreimal.

Doch einer wie Maas ist vor allem: gern grau, aber zielstrebig. Er passt sich an, vergleichbar einer Tempoverlagerung auf der Langstrecke, wie beim Triathlon, der ja wie die Politik eine Ausdauersportart ist. Er wartete. Und so zog die politische Karriere ganz plötzlich an, Sigmar Gabriel während der Koalitionsverhandlungen Heiko Maas aus dem Zylinder zog. Einen Loyalen. Heiko Maas, Held des linken Flügels.

Wir schließen hier und beschließen, das Gespräch in einem Café um die Ecke fortzusetzen, am Gendarmenmarkt, der, wie mir ein Taxifahrer einst versicherte, “der schönste Platz Europas” sei. “Dit hatma objektif festjestellt.”

Aber jetzt mal was anderes: “Wie sieht es denn aus mit der Legalisierung von Cannabis? Wäre doch höchste Zeit, oder?” Maas’ Miene bleibt reglos. “Ich hab mich da nicht reingearbeitet”, sagt er, “es gilt ja immer noch als Einstiegsdroge zu anderen Sachen.”

“Haben Sie mal gekifft?”

“Nein, nie.”

Maas ist HSV-Fan – “und das ist auch gut so”

Der Minister zeigt, was ihn jüngst beeindruckt hat. Er zeigt es auf Fotos in seinem Handy. Zu sehen sind Kacheln, auf denen Strichlisten gemalt sind. Endlose Kolonnen in Fünferreihen. “Die sind aus Stammheim”, sagt Maas, “das soll jetzt abgerissen werden.” Er hat sich das Gefängnis kürzlich angeschaut, zum letzten Mal. Es ist alles noch erhalten, die Zellen, der Gemeinschaftsraum, der Gerichtssaal.

Die Strichlisten stammten nicht von Baader oder Ensslin, sondern von den Richtern und Beisitzern, die hier ihre Prozesstage markiert hätten, in einem Gang, der zum Gerichtssaal führte. Das ist die umständliche deutsche Gerechtigkeit mal aus der anderen Perspektive. Maas schüttelt fasziniert den Kopf. Er war elf, als sich die Terroristen dort umbrachten. Grauenhafte späte 70er-Jahre. “Sie haben nichts verpasst.”

Maas erhebt Einspruch. So übel seien die nicht gewesen, die 70er, denn 1979 sei einer nach Deutschland gekommen und habe einen Vertrag beim HSV unterschrieben, sein Name Kevin Keegan. Seit Kevin Keegan ist Maas HSV-Fan, “und das ist auch gut so”. Das bleibt auch so. Denn, und hier ist Maas konsequent: “Ein Leben, ein Verein.” Aber wie kann denn so einer sich plötzlich als Anhänger der magischen Raute entpuppen? Als HSV-Fan bin ich zum ersten Mal an diesem Vormittag mit meinem Justizminister völlig einverstanden.

Erschienen am 30.06.15 www.welt.de