Dave Eggers hat Sinn für die Nachtseiten unserer Zeit. Seine grandiose Dystopie, der Roman “Der Circle”, erscheint endlich auch auf Deutsch. Ausblicke und Einblicke in eine unheimlich schöne neue Welt.

Dieses Buch tut prophetisch, aber es ist bereits in Umrissen real – und im Grunde überfällig. Es ist ein Thriller zum großen digitalen Glaubenssystem, zur Philosophie und Anthropologie der Nerds und ihrem digitalen Weltverbesserungsgequatsche, ein Buch über Geschäftemacher und Genies, über Erlöserfiguren mit Erlöserbärten, die mit neuem Schwung in die Zukunft aufbrechen, ein Roman also über diese große neue Go-West-Erzählung, auf die plötzlich Reif gefallen ist.

Ja, die Pioniere, die da unterwegs sind, sehen plötzlich eher düster aus, eine endzeitliche Prozession zum Heiligen Gral. Mit all den Meldungen von gestohlenen Passwörtern, Neuigkeiten zu Abhördateien, mit all diesen Algorithmen und Agenten wie in den seligen Schwarz-Weiß-Zeiten, fällt nicht nur mir auf, dass das Image von Big Data schon mal besser war.

Wie viele andere hat sich bei mir unmerklich das Gefühl einer neuen Achsenzeit eingeschlichen, als gäbe es einen anthropologischen Schub. Andere Fertigkeiten werden in Zukunft verlangt, und die nicht geringste wird sein: die Bereitschaft zum Verrat. Ohne dass wir jetzt schon wissen, wie er aussieht.

Die Figuren sind Schattenrisse

Ist diese Maybelline aus Dave Eggers’ großem dystopischen Roman “Der Circle” vielleicht ein Prototyp – diese biegsame Hauptfigur mit dem erstaunlichen Talent zum Opportunismus, die am Ende glüht, ohne dass man weiß, ob für das Böse oder das Gute ?


Dave Eggers: „The Circle“. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und K. Timmermann. Kiepenheuer & Witsch, Köln. 560 S., 22,99 Euro

Dave Eggers: “The Circle”. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und K. Timmermann. Kiepenheuer & Witsch, Köln. 560 S., 22,99 Euro Foto: Kiepenheuer & Witsch

Man kann sie sich blond und langbeinig vorstellen, und dass sich diese zwei verrückten Kerle auf dem Campus für sie interessieren. Ansonsten bleibt unsere May wie auch die übrigen Mitspieler Schattenrisse, die allgemein genug sind, um wiedererkannt zu werden.

Mercer, ihr Jugendfreund, ist ein ziemlich uncooler Naturfreak, wie sich herausstellt, kein Wumms, ohne Ziele, er steht dann auch störend in der Geschichte herum, wie ein Relikt aus der Alten Welt und wird dann auch folgerichtig eliminiert von einem irgendwie unschuldigen Mob. Der Jagdeifer hat einfach überhandgenommen, sie wollten doch nur spielen.

Ein richtig geiler Comic

Die anderen, das ist einmal Richard, der sich den Sex erpresst. Und dann der Zweite: Er ist geheimnisvoll und so überwältigend, dass es May in tausend bunte Sterne zerreißt. Der Mann aus dem Schatten. Ach natürlich, bevor wir vergessen, das zu erwähnen: Dieses Buch ist nicht nur ein Thriller, sondern auch eine böse Satire zur Zeit, zu unserem digitalen Verhalten im Netz, als Shopper, Blogger, Klatscher-und-Tratscher, ein richtig geiler Comic. Ein Pageturner. Man nimmt das Ding und gibt es niemals wieder her.

Maybelline, Anfang zwanzig, hat ihr College hinter sich gebracht und einen öden Job in der Verwaltung geangelt, der sie zu Tode langweilt und schlecht bezahlt ist. Ihre College-Freundin bringt sie in ihrem Unternehmen unter, dem Circle-Konzern, eine Big-Data-Superkrake, die bei rund 90 Prozent Marktanteil liegt und ein Ziel hat: auch die restlichen zehn Prozent bald einzusacken.

Das Camp sieht aus wie Googles Fantasy-Kreativ-Park, nur noch einige Zacken bescheuerter und größenwahnsinniger. Minigolf, klar, dazu mindestens acht Selbsthilfegruppen für MS-Kranke und ihre Angehörigen sowie Dutzende weitere Programme.

Im Puderzucker-Märchenland

Das Essen ist nicht nur umsonst, sondern wird hier von Sterne-Köchen in unterschiedlichen Campus-Regionen serviert, die nach überholten Etappen menschlicher Erkenntnis benannt sind, also, man arbeitet vielleicht in der “Renaissance” und verabredet sich in der “Neuzeit” auf einen Drink.

May, die aus prekären Verhältnissen stammt, fühlt sich wie in einem Puderzucker-Märchenland, in der Arbeit nach Spiel aussieht. Ihr Job: Kundenbetreuung. Sie macht ihn gut, und zwar so gut, dass ihr bald neue Rekruten unterstellt werden. Doch das neue Credo muss ihr noch eingebimst werden. Was hier neben der Leistung ebenso zählt: digitales Sozialverhalten. Kommunikation. Das sind die Extrapunkte.

Es gibt mehrere Ringe in Beziehung zur Welt. Der innerste Ring sind das Unternehmen und Mails unterschiedlicher Dringlichkeitsstufen. Aber auch der äußere Ring zählt, der ungefähr einfasst, was wir mittlerweile so für Freunde auf Facebook posten, statt Urlaubskarten zu schreiben.

Überstunden in digitalem Sozialverhalten

Das muss vor allem mengenmäßig hinhauen. So sehen wir Maybelline nachts am Monitor schuften, Überstunden in digitalem Sozialverhalten, ziemlich regressiv Smileys verteilend und Frowns und gelegentlich einen Kommentar, der niemanden verletzt.

Allerdings schnappen da draußen dann doch irgendwelche Idioten zu und verwickeln dich in ein Gespräch über Klimaanlagen und kommen mit den Zeugnissen ihrer Tochter und dem Essay, den sie geschrieben hat. Es hält auf. Sozialverhalten hält auf.

Doch die Firma ist jeden Einsatz wert. Sie kümmert sich, sogar um ihre Familie – Mays Vater, auf schmaler Rente, ist einer jener Fälle, die Obama für seine Gesundheitsreform immer wieder zitiert hat, seine Versicherung wehrt sich dagegen, ihm genau das Mittel zu bezahlen, das er benötigt, aus Kostengründen.

Nun übernimmt Circle. Es spendiert sogar die kleinen Kameras, die sie im Haus der Eltern installieren lässt, damit Maybelline (und jeder andere im Netz) ständig auf dem Laufenden ist, wie es ihnen so geht.

Mehr als eine Sammlung von Rechnern

Alle sind miteinander verbunden. In größter Offenheit. Also, wenn May die Einladung zum Portugal-Abend von Eduardo übersieht, obwohl sie doch mal aufFacebook Fotos aus Portugal hochlud, ist das irgendwo schon ziemlich schlimm. In einem Gespräch mit dem Supervisor und Mediator wird klar, wie sehr das unseren guten Eduardo verletzt hat – man könnte es in all seinem Therapie- und digitalen Coaching-Sprech so eins zu eins in jedes Comedy-Programm übernehmen.

Die Firma ist mehr als eine Sammlung von Rechnern. Sie hat eine politische Vision, eine Kulturstrategie, einen Erlösungsauftrag, nämlich den der totalen Vernetzung und damit totalen Aufklärung, und sie nutzt die sozialen Medien dafür, “eine sicherere und gesündere Welt” zu schaffen.

“Secrets are lies”, “Sharing is caring”: Diese Slogans fallen May auf einer Vollversammlung ein, einer Präsentation, sie wird gefeiert dafür, jeder überwacht jeden, und May geht voran. Sie beschließt als Erste im Circle, “clear” zu gehen, in die totale Transparenz, sie trägt eine Minikamera mit sich für einen Livestream aus ihrem Leben, einem Livestream vom Campus, der nur nachts unterbrochen wird, wenn sie schläft. Während der Toilettenpausen wird auf stumm geschaltet.

Manches geht nur auf dem Klo

Folglich muss sie sich mit ihrer Freundin Annie auf dem Klo verabreden, um über ihre und deren Probleme zu sprechen, das alles mit schlechtem Gewissen vor dem Über-Ich Circle, denn “Geheimnisse sind Diebstahl”. So allmählich ändert sich der Ton dieser flotten Hightech-Hippiewelt, ändert sich die fröhliche Zukunftsgewandtheit auf dem Campus; immer weniger ist da Nerd-Schlaraffia, immer stärker sind Sportpalast und Erweckungsgottesdienste und Einpeitschereien. Auf dem Weg zur besseren Welt müssen bestimmte alte Sachen einfach über Bord gehen, also Würde, Privatheit, Intimsphäre.

Vor ein paar Jahren habe ich Eric Schmidt auf der DLD-Konferenz in München erlebt, er war gerade Google-Chef geworden, Brille, weißes Hemd, blaues Sakko, Typ Familienvater, wie er sagte: “Wir sorgen dafür, dass Sie nie wieder verloren gehen.” Ein Satz, der als Witz gemeint war, aber das Blut in den Adern erfrieren ließ. Was ist mit denen, die mal verloren gehen wollen? Die einfach mal weg sein wollen?

Ach ja, natürlich ist Circle ein ehrgeiziger Monopolist, das haben die so an sich, und was die zehn Prozent angeht, die noch keinen Account bei Circle haben – man könnte, Hundertprozentigkeit vorausgesetzt –, natürlich auch Wahlen über den Circle-Account abhalten, billiger, sicherer, und tatsächlich würde jeder wählen gehen, und natürlich würde die Wahlbeteiligung wieder hochschießen, man könnte Nichtwählen bestrafen, Basisdemokratie, Demokratie 2.0.

Steve Jobs hat einen Guru-Auftritt

Man kann in Sekunden dem Wahlvolk den Puls prüfen, man kann fragen, welcher Beatle am beliebtesten ist (Ringo) oder ob man mit gezielten Drohnen-Strikes einen Terroristen aus dem Spiel nimmt, da unten in Pakistan, auch wenn womöglich ein paar Unbeteiligte mit draufgehen sollten (Antwort, in Sekundenbruchteilen und nahezu einhellig: ja).

Natürlich erkennen wir Eric Schmidt wieder, natürlich hat der Kapuzenmann Ty seinen Guru-Auftritt als Steve Jobs, und natürlich ist Steve Stanton, der Corporate Man, mit seinem Spleen für Haie und alles, was kleine Firmen schlucken könnte, der moderne Dr. No mit seinen Bassins, in einem Schattenreich, einer Parallelwelt, seinem Wahnsystem.

Es geht um Transparenz, das Wort der Stunde, und es hört sich auf dem Campus an wie eine Monstranz, es hat diesen transzendenten Zug ins Heilige!

Das ist ja wie bei den Piraten!

Können Sie sich noch an die Piraten erinnern, diese altklugen Kinder, diese Zottelnerds mit den lustigen T-Shirts? Obwohl die meisten aussahen, als ob sie schlecht riechen, fuhren sie Ergebnisse ein, von denen die FDP schon gar nicht mehr träumt, und das mit nichts als einem einzigen Versprechen: Transparenz. Sie nannten es Demokratie 2.0, und das genügte, um all jene Wähler zu verzücken, die sich mit “der Politik” im Allgemeinen langweilten oder die “denen da oben” so sehr misstrauten, dass ihnen diese Truppe von Schiffbrüchigen als lohnende Alternative erschien. So spielte es ein, zwei Sommer lang keine Rolle, dass die Piraten neben der Transparenz und kostenlosen Downloads nicht viel auf dem Programm hatten.

Plötzlich sollten sie was zum Irak sagen, wo sie doch viel lieber Livestreams von ihren Fraktionsdebatten im Schöneberger Rathaus betrieben, die sich tatsächlich ein paar Dutzend Freunde anschauten, also “direkte Demokratie”. Wie harmlos diese jüngste Netzeuphorie um “Transparenz” aussah und wie sie gefeiert wurde von einer digitalen deutschen Öffentlichkeit, in der so unappetitliche Egostrategen wie der Werbemann Sascha Lobo als visionär gelten, weil sie 3-D-Drucker so abfeiern wie wir elfjährigen “Fix und Foxi”-Leser früher das Rezept für unsichtbare Tinte.

Kinderkram, aufgepimpt mit antikapitalistischen Slogans und dem gespenstischen, weil kreuzdummen und naiven Jargon der Befreiung. Die Avantgarde als Kindergeburtstag. Das scheint hundert Jahre her. Was ist daraus geworden? Was aus der Transparenz?

Der Horror der Transparenz

Nun, Transparenz ist zur Horror-Vokabel geworden, und es gibt ihn ja, den durchleuchteten, durchscannten, abgehörten, abgeschöpften Menschen im Fadenkreuz, im Netz, den von den Hightech-Konzernen mit Kalkül beobachteten Konsumenten, den von den Staaten mit Misstrauen und einem Grundverdacht belegten Bürger, jeder ein potenzieller Terrorist und Gesetzesbrecher, es gibt ihn zumindest als Ideal, den gläsernen Menschen. Es gibt ihn ganz besonders in diesem Thriller, mit seinen vielen klugen Lehrgesprächen, geradezu sokratischen Dialogen über das Menschenrecht auf Privatheit.

Dave Eggers, ein sozialer Aktivist und Schriftsteller, hat das Gespür für große Themen und vielleicht mehr noch die Ahnung von der katastrophischen Nachtseite dieser großen Themen.

Sein Roman erschien in den USA bereits im letzten Herbst, wurde zumBestseller und war allein der “New York Times” fünf Geschichten wert. Er ist eine grandiose Spielverderberei. Er zeigt, wie betäubt und rosig-dumm wir den digitalen Verführern auf den Leim gehen, wie freiwillig wir unsere Bürgerrechte abwerfen, wie einförmig und dämlich vor allem die jungen Nerds sich auf totalitäre Regime einlassen, solange es Äpfel umsonst gibt und genug zu spielen.

Kulturkrieg zwischen Bürgerlichkeit und Internet

Rezensenten der digitalen Welt waren eher mäkelnd, das Magazin “Wired” meinte, so sähe das Internet wohl für Leute aus, die nichts davon verstünden, und “Slate” fand, der Autor interessiere sich nicht die Bohne fürs Internet, und fragt: “Warum hat er dann eine 500-Seiten-Satire darauf geschrieben?”

Das Problem bei “Circle” ist allerdings, dass Dave Eggers sie ernst nimmt, so verdammt ernst, wie wir alle, die keinen Code schreiben können, aber Gmail benutzen, wir, die wir allabendlich mit Nachrichten über gestohlene Passwörter, Überwachung von Kundenprofilen, Steuerflucht der Data-Giganten und Geheimdienstgetuschel versorgt werden. Das Ding ist zu groß, um es Spaßindianern und Werbefuzzis oder Nerds der Nischenmagazine zu überlassen. In den Kulturkrieg zwischen melancholischer Bürgerlichkeit und schöner neuer Welt, zwischen der Verteidigung alter Würde und avantgardistischer neuer Nacktheit kommt Leben.

Da keiner ohne die Reminiszenz auszukommen scheint, will ich sie auch nicht vermeiden und auf Schirrmacher zu sprechen kommen. Sicher hat er “Tweed” und “Tweet” verwechselt, aber er hat, als Thomas-Mann-Liebhaber und bürgerlicher Intellektueller, viel tiefer gespürt, was wir verlieren als all die aufgeregten Netzgurus um ihn herum.

Stromstöße für eine notwendige Debatte

Und er hat bei seinen apokalyptischen Warnungen Mitstreiter gefunden, zuletzt Jaron Lanier, der vor den “Sirenenservern” und ihren Lockrufen warnt: “Du bist nicht der Kunde, sondern ihr Produkt.” Oder in Schirrmachers Worten. “Die Frage ist nicht, ob ich mein Smartphone beherrsche. Die Frage ist, ob mein Smartphone mich beherrscht.”

Und so, wie ihn wohl Robert Harris’ Thriller “Angst”, in dem ein sich selbst perfektionierender Algorithmus die Finanzmärkte der Welt zunächst beherrscht und dann vor die Mauer fährt, zu seinem “Ego”-Bestseller angestiftet hat, so wird auch Dave Eggers Thriller neue Stromstöße in einer übernotwendigen Debatte liefern.

Erschienen am 13.08.14 www.welt.de