Mein Gott, die Frau rudert doch nur! Die Aufregung um die deutsche Olympia-Sportlerin Nadja Drygalla ist völlig übertrieben, findet Matthias Matussek. Schließlich dürfe eine junge Frau selbst entscheiden, an wen sie ihr Herz verschenkt. Selbst wenn der Glückliche ein NPD-Anhänger gewesen sein mag.

Mit dem olympischen Eid schwören die Athleten, sich als “loyale Wettkämpfer zu zeigen und die Regeln zu achten” und sich zu bemühen, “ritterliche Gesinnung” zu zeigen. Mit der Ermahnung zum fairen Wettkampf wurden bisher Dopingsünder aus dem Verkehr gezogen. Es blieb den Deutschen vorbehalten, sich auf den normalerweise unbeachteten hinteren Teil der Formel zu stürzen. Die Gesinnung! Ritterlich oder nicht? Wobei man lange und mit Gewinn darüber reden könnte, ob “ritterlich” gleichzusetzen ist mit demokratisch.

Die deutsche Ruderin Nadja Drygalla hat offenbar einen ziemlich rechtslastigen Freund, was schon länger bekannt war. Sie hat nicht etwa am Piccadilly Circus mit einem Sandwich-Plakat öffentlich den Holocaust geleugnet (was im übrigen in England kein Straftatbestand ist). Sie hat lediglich diesen Freund, der eventuell so was oder Ähnliches denkt – und selbst das ist eine Vermutung. Wer weiß schon genau, was Idioten denken, die bei der NPD mitmischen oder mitgemischt haben. Ist sie nun infiziert?

Das ist die Frage, die die um demokratischen Immunschutz besorgte, hysterisierte ideologische Gesundheitspolizei beschäftigt. Vielleicht ist es eine Übersprungshandlung, weil es im Medaillenspiegel – die Schwimmer! – nicht so hinhaut. Aber mit einem “Naziskandal” kann der Rest der Welt nicht mithalten, das ist deutsche Kernkompetenz.

Wieder einmal haben sich TV-Moderatoren und Kolumnisten in einem publizistischen Rudel zusammengefunden, um gratismutig und wohlstandssicher (und selbstverständlich 80 Jahre zu spät) Hitler zu verhindern und Nazis zu jagen.

Sind wir noch zu retten?

Nun hat sich Drygalla noch nicht einmal missverständlich ausgedrückt, sie hat nur den falschen Freund.

Sie hat sich vom Rechtsextremismus distanziert. Und sie sagt, ihr Freund habe dies auch getan. Das mag stimmen oder auch nicht. Vielleicht auch duldet sie seine Gesinnung, weil sie seinen Musikgeschmack teilt, oder weil er trotz allem für sie ein netter Kerl ist, oder weil ihr seine Augen gefallen. Es macht uns offenbar total verrückt, dass dieser Winkel ihres Herzens unseren Rasterfahndungen verborgen bleibt. Sind wir noch zu retten?

Offenbar nicht. Petra Pau von den Linken erbost sich darüber, dass diese verdächtige Ruderin “von Behörden und Organisationen zur Olympia-Reife gefördert und in das deutsche Vorzeige-Team berufen” wurde. Früher hätte es das nicht gegeben, möchte man ergänzend rufen. Und dabei gar nicht an den BdM denken, sondern an die DDR-Sportförderung, die Petra Pau gut kennen sollte, die Kaderschmieden der DDR, wo sich die Gesinnungsschnüffelei selbstverständlich auf Verwandte und Freunde erstreckte.

Hat sie schon ein Schuldgeständnis abgelegt?”, fragt Reporter Gerhard Delling mit Eifer. “Wer hat versagt, wer hat gelogen?” titelt die “Bild am Sonntag”, als sei den Offiziellen ein geplantes Selbstmordattentat entgangen. Mein Gott, die Frau rudert!

Drygalla habe sich vom rechtsextremen Gedankengut ihres Freundes distanziert, hört man. Und was, wenn nicht? Dürfte sie denken, dass Adolf Hitler ein Menschenfreund war? Aber klar, darf sie. Sie darf jede ausgesprochene Dummheit denken. Eine der stolzesten Parolen der Aufklärung legt Schiller seinem Marquis Posa in den Mund, als er im “Don Carlos” ausruft: “Geben Sie Gedankenfreiheit, Sire!”

Die Gedanken sind frei. Außer bei Sportlern? Müssen wir Journalisten, ausgerechnet wir, die wir vom freien Wort, vom freien Gedanken, von der freien Meinung leben, uns nicht krümmen vor Empörung in solchen gleichgeschalteten ideologischen Einheitsstürmen? Sollen wir künftig syrische Sportler nach ihrer “ritterlichen Gesinnung” befragen, etwa danach, wie sie es mit Assad halten? Saudi-arabische Judokas, ob sie von einem Gottesstaat träumen?

Man hätte ihr vielleicht bei einer Kontaktanzeige helfen sollen

In den siebziger Jahren, in denen DKP-Mitglieder Berufsverbot als Lehrer bekommen haben, demonstrierte die Linke geschlossen gegen die “Gesinnungsschnüffelei”. Heute ist sie diejenige, die sie am lautesten fordert.

Dabei hat man getan, was man konnte, um der jungen Frau die passende Gesinnung zurechtzuschmieden. Auch persönliche Opfer wurden nicht gescheut – die der Ruderin. Torsten Haberland, Geschäftsführer des Landessportbunds, laut “Bild am Sonntag”: “Wir haben ihr geraten, sich einen anderen Freund zu suchen.” Man hätte ihr vielleicht bei einer Kontaktanzeige helfen sollen: “Suche Nichtraucher, schlank, groß, der auf dem Boden des Grundgesetzes steht.”.

Auch Ruderpräsident Sennewald hat “lange auf sie eingeredet” und ihr klarzumachen versucht, dass “ihre Umwelt diese Beziehung nicht akzeptieren kann”. Was schließlich passiert ist. Mittlerweile hat Drygalla ihre Sachen gepackt und ist nach Hause gefahren. Sennewald resignierte letztlich: “Leider hat man keinen Einfluss darauf, an wen ein junges Mädchen ihr Herz verschenkt.” Hier wäre das Motto: Geben Sie Gefühlsfreiheit, Sire!

Und das ist dann doch die schönste Erkenntnis aus diesem Kesseltreiben: Eine junge Frau lässt sich weder von der publizistischen Meute, noch von Verbandsfunktionären vorschreiben, an wen sie ihr Herz verschenkt.

Erschienen am 05.08.2012 www.spiegel.de