Er kam lächelnd, und er ging leise. Selten ist ein Mächtiger dieser Welt so würdevoll abgetreten, so bescheiden, so fromm. Benedikt XVI. hat wieder einmal all die Zerrbilder übermalt, die man von ihm an die Mauern der säkularen Welt gepinselt hatte.

Die Welt reagiert schockiert. Den Medien ist ein Feindbild abhanden gekommen. Wie kommt der Heilige Vater dazu, das Amt niederzulegen, wo man ihn doch längst als “unbelehrbar” und “starrköpfig”, vor allem aber “machtbewusst” (Küng) karikiert hat?

Benedikt XVI. sprach im Konsistorium von der Kraft, die es braucht, das “Schifflein Petri zu steuern”, eine Kraft, die in den “vergangenen Monaten derart abgenommen hat, dass ich mein Unvermögen erkennen muss, den mir anvertrauten Dienst gut auszuführen”.

Rücktritt auf Latein

Auf seine ganz eigene Art hatte der 85-jährige Joseph Ratzinger am Montagmorgen seinen Rücktritt bekanntgegeben. In lateinischer Sprache, während einer Massenheiligsprechung von 800 Märtyrern und zwei Ordensgründerinnen, wandte er sich an seine “lieben Mitbrüder” und bat um Verständnis, “dass meine Kräfte infolge des vorgerückten Alters nicht mehr geeignet sind, um in angemessener Weise den Petrusdienst auszuüben”.

Er wird nun zu seinen geliebten Büchern zurückkehren, wird endlich wieder als Gelehrter wirken können, und die Welt – besonders der deutsche Episkopat – wird irgendwann erkennen, dass mit Benedikt einer der großen Kirchenlehrer der Neuzeit auf dem Petri-Stuhl saß.

Anders als sein Vorgänger Johannes Paul II., von dem es die großen Bilder gab, setzte er ganz aufs Wort. Darin war er “evangelisch”. Mit seinen Büchern über “Jesus von Nazareth” hat er tatsächlich – wie einst Luther – die Evangelien und den Glauben ins Zentrum gerückt. Und das in einer Zeit, in der besonders deutsche Katholiken Golgatha zunehmend für eine Zahnpasta halten und lieber über die “Pille danach”, die Frauenfrage und die Mitbestimmung nachdenken als über den Kernskandal ihres Glaubens: die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus.

Wir werden ihn, anders als seinen Vorgänger, nicht in einem großen Schauspiel der Gebrechlichkeit und des Sterbens verfolgen. Er wird sich als Privatgelehrter zurückziehen und die Nachfolge “betend und meditierend” aus einem Kloster im Vatikan begleiten und der Welt, die “hin- und hergeworfen” ist, einen kräftigen Glaubenshüter wünschen.

Beseelt von der eigenen Theologie der gläubigen Unerschrockenheit

Ich habe ihn als liebenswürdig kennengelernt. Ich habe ihn gesehen, wie er mit anderen gesprochen hat, lächelnd, tröstend, wie er im Zwiegespräch diese Frau aufgerichtet hat, die auf tragische Weise Familienmitglieder verloren hatte. Und natürlich bleiben die Missbrauchsopfer im Gedächtnis, denen er auf seiner Deutschland-Reise begegnet ist, die bewegt waren von seiner Herzenswärme und seiner anteilnehmenden Trauer.

Dieser große Intellektuelle konnte von einer anrührenden Schlichtheit sein. Er wuchs mit dieser Volksfrömmigkeit auf in Marktl am Inn. Dieser Papst aus einfachsten Verhältnissen hatte – in all seiner Gelehrsamkeit – den Draht zu den einfachen Menschen, darin war er dem lächelnden Volkspapst Johannes XXIII. ähnlich.

Benedikt XVI. hat den Ornat getragen wie eine Last, aber eine großartige, würdevolle, denn es war die 2000-jährige Geschichte der Kirche, die er getragen hat, ohne zu klagen. Mit großartiger Unbeirrbarkeit hat er während der acht Jahre seines Pontifikats die Versöhnung gesucht, ohne die eigene Glaubensüberzeugung dabei aufzugeben.

Der Oberrabiner Yona Metzger befand: “Er verdient ein hohes Ansehen für den Ausbau der interreligiösen Verbindungen zwischen Judentum, Christentum und Islam.” Nach seiner Regensburger Rede, die bei uns als hartherzig kritisiert wurde, fanden sich 143 islamische Schriftgelehrte zusammen, die ihm für seine Initiative dankten.

Dieser Papst war von Beginn des Pontifikats, dessen Wahl durch die Kurie er wie ein “Fallbeil” erlebt hat, von einer eigenen Theologie der gläubigen Unerschrockenheit beseelt. Seine großen Enzykliken, die sich um das paulinische Dreigestirn “Glaube, Hoffnung, Liebe” drehten, hat er mit der über die “Liebe” begonnen. Es sind diese Enzykliken – und die Jesus-Bücher – die sein päpstliches Vermächtnis bilden.

Das Papsttum als beglückende Irritation

Natürlich gab es Pannen. Dass ihn keiner über die wirren Vorstellungen des Holocaust-Leugners Richard Williamson informiert hatte, war so eine. Den Piusbrüdern wollte der Versöhnerpapst die Chance zur Rückkehr in die Kirche geben. Diese Chance haben sie nun vertan.

Es gab Enttäuschungen anderer Art wie den plötzlich offengelegten jahrelangen Geheimnisverrat seines Kammerdieners Paolo Gabriele. “Was sollen wir denn machen”, seufzte er damals in allerkleinstem Kreise. “Wir müssen den Menschen doch vertrauen.”

Es gab zermürbende Enttäuschungen, an die er sich gewöhnt hatte. Die kamen wohl hauptsächlich von seinen deutschen Landsleuten in der katholischen Kirche, seit Reformationstagen struppige Nachfahren einer struppigen Geschichte.

Zu ihnen hatte er sich in einer seiner letzten großen Reisen aufgemacht. Um in einer grandiosen Rede im Reichstag den Unterschied zwischen Wahrheit und Mehrheit aufzuzeigen. Um die Ökologie der Schöpfung und des Lebens zu erklären. Und um seinen deutschen Bischöfen in Freiburg das Motto der “Entweltlichung” zuzurufen.

Nicht die Fassaden polieren, nicht in Riesenbürokratien verstricken! Nicht in Wohlfahrtskonzernen solle sich der Glaube erschöpfen, sondern im seelsorgerischen Miteinander, in einer Kirche der Armut und des Gebets, und da ließ dann der Heilige Franziskus grüßen. Dieses Papsttum war eine ständige, beglückende Irritation.

Und was kommt nun? In meinem Roman “Die Apokalypse nach Richard” habe ich einen Rücktritt des deutschen Papstes aus “Ermüdung und Resignation” vorweggenommen. Das war satirisch gemeint.

“Sie will wieder zurück”

Nun wird es womöglich einer aus Afrika werden, oder aus Südamerika, und es ist schon jetzt vorherzusehen, dass sich die Weltkirche künftig mit anderen Problemen befassen wird – etwa dem Abschlachten der Christen durch fanatische Islamisten – als mit deutschen Stuhlkreisen und Dialogoffensiven der Generation der über 70-Jährigen.

Doch mein Eindruck ist, dass es auch im Vatikan eine neue Generation gibt, die robuster und gesünder ist, aber nicht minder glaubensfest, und dass der Weltkirche ein neues Riesenheer von jungen Leuten zuwächst.

Was bleibt mir von diesem Papst? Dieses Bild: Nach dem Angelus-Segen vorletzten Sonntag auf dem Petersplatz hatte er eine Schülerin neben sich, dort oben im zweiten Stock, die ihm Grüße zum Jahr des Glaubens überbrachte. Danach übergab ihm das Mädchen eine Taube, die er fliegen lassen sollte.

Papst Benedikt gab den Vogel frei. Die Taube flatterte, doch im gleichen Moment schossen zwei mörderische Möwen auf sie zu. Verängstigt flatterte sie wieder zurück und suchte Schutz beim Pontifex, diesem nicht minder verletzlich wirkenden alten Mann in Weiß.

“Sie will wieder zurück”, rief einer.

In einer Welt, die keine Grenzen mehr kennt, hat der Papst die Grenze des Alters aufgezeigt. Aber dennoch, Heiliger Vater, ich werde Sie da oben vermissen.

Erschienen am 11.02.2013 www.spiegel.de