BUCHKRITIK: In “Bluff” beschreibt der Bestsellerautor Manfred Lütz, warum die Menschen sich selber belügen.

Die Idee zu diesem Buch ist nicht neu. Genauer gesagt 2400 Jahre alt. Ob Platon sie tatsächlich als Erster gehabt hat oder ob sie noch tiefer zurückreicht ins Dunkel schamanistischer Traditionen, wir wissen es nicht.

Das Leben ein Traum, die sichtbare Welt ein Bluff, das ist die Essenz des platonischen Höhlengleichnisses. Das Licht der Wahrheit ist für uns Alltagsmenschen nicht erkennbar, weil wir, in Platons Gleichnis, Gefesselte sind und mit dem Rücken zur Wahrheit unser Leben verbringen. Wir sind Gefangene in einem Schauspiel, wir vertun unser Leben und kommen der Frage der Fragen nicht näher: Wozu sind wir da?

Mit “Bluff” führt uns der Bestsellerautor (“Irre”) und Psychiater Manfred Lütz, 58, vor, wie aktuell Platons Idee ist. Wie wir überwuchert werden von Täuschungen und falschen Gewissheiten und wie sehr wir uns an der “Fälschung der Welt”, so der Untertitel des Buches, beteiligen.

Wir lieben Fälschungen, weil sie Bequemlichkeit versprechen. Wir bleiben unaufgeklärt wie der Held in der “Truman Show”, der sein scheinbar geglücktes Kleinstadtleben in einem gigantischen Fernsehstudio verbringt. Doch wie Truman dämmert uns irgendwann, dass es vielleicht noch dieses andere Leben gibt, jenes in der Wirklichkeit, und darüber werden wir traurig.

Als Psychiater hat Lütz gelernt zu dechiffrieren. Die Täuschungsanfälligkeit kennt er von Schizophrenen, von Depressiven, von Drogensüchtigen. Er hat gelernt, dass es hinter jeder Geschichte, die ihm seine Patienten erzählen, noch weitere, verborgene, gibt. Doch er ist in seinem Buch nicht nur Seelenspezialist, sondern auch Zeitkritiker, Polemiker, Theologe, Geschichtenerzähler. Ja, auch der unterhaltsame Kabarettist, der unseren Verrenkungen Lacher abzugewinnen versteht, denn oft hilft nur noch das.

Unsere Neigung zur Täuschung scheint grenzenlos, und Lütz nimmt sich die prominentesten Täuschungssysteme vor. Da sind die Wissenschaften, denn sie haben heute die Deutung der Welt übernommen. Wissenschaftler, so Lütz, kennen sich in ihren Spezialgebieten bestens aus, doch vom Leben und seinem Sinn wissen sie noch lange nichts.

Wissenschaften sind ständig im Fluss und für letzte Wahrheiten ungeeignet. Ihre vorläufigen Erkenntnisse basieren auf ständiger Falsifizierbarkeit. Als könnten Gott und Seele mit Skalpell und Reagenzglas widerlegt werden. Als ob wir nicht wüssten, sagt Lütz, dass die Genesis eine prächtige Erzählung sei, mit der sich die Menschen den Bau der Schöpfung erklärten. “Um die Welt zu verstehen, haben die Menschen damals die Welt nicht gemessen, sie haben sie erzählt.” Darin waren sie den Künsten nahe.

Auch das Aufhellungssystem der Psychoanalyse kann zur Lüge werden. Sie versucht auszuleuchten, was den Menschen im Innersten zusammenhält, doch auch sie hat nur einen sehr profanen Religionsgründer zu bieten, diverse Schulen, die sich bekämpfen, sowie Dogmen, die unangetastet bleiben sollen. Lütz hat sie in seiner Ausbildung kennengelernt. Sein Resümee: “Therapeutisch waren bekanntlich bereits die ‘Erfolge’ Freuds höchst mager, aber publizistisch feierte er beispiellose Triumphe.”

Unzählige psychologische Derivate sind heute ins Alltagsleben eingesickert, in Ehe oder Kindererziehung oder Beruf. Beliebt sind die Coachings, die den Bewerbern Charisma und Ausstrahlung beibringen wollen. Sie machen klar, dass man nicht die Arme verschränken sollte im Gespräch. Die derart Gedrillten werden keine Fehler machen, aber gleichzeitig, so Lütz, werde jedes Bewerbungsgespräch zur falschen Welt par excellence.

Wir entkommen ihr nicht, der Lüge. Müßig, auf die Wirkungsweise der Traumindustrie zu verweisen oder das Fernsehen zu erklären mit all seinen Casting-Shows und den Ersatzleben in diversen Serien, in denen sich die Konsumenten oft heimischer fühlen als in der eigenen Familie. Schon 1944 schrieben Adorno und Horkheimer von einem universellen Verblendungszusammenhang der Kulturindustrie. Lütz stellt die verblüffend simple Frage: Wenn wir wüssten, dass wir nur noch einen Tag zu leben haben – würden wir den vor dem Fernseher verbringen?

Da ist die Finanzwelt, die das Glück durch ein erfolgreiches Portfolio ersetzt und Gott durch den Markt. Wahrheitsfähig ist auch die nicht, natürlich nicht. Die Frage, die sich jeder Psychiater angesichts eines Wahns stellt: “Wie geht’s hier raus?”

Hinter all diesen Sedativa ist eine Wahrheit verborgen, die noch die erbittertsten Gegner in ihren Bann ziehen kann. In seinem Aphorismus 344 der “Fröhlichen Wissenschaft” führt Nietzsche aus, “dass auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch unser Feuer noch von jenem Brande nehmen, den ein jahrtausendealter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Platons war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit göttlich ist”.

Nietzsche fand, dass dieser Glaube ein schrecklicher Irrtum sei. Lütz nicht.

Erschienen am 24.09.2012 im DER SPIEGEL 39/2012