Florian Illies hat den Roman eines Jahres geschrieben. “1913” ist das Porträt einer apokalyptischen Übergangszeit. Vor allem Künstler ahnten den Zivilisationsbruch voraus.

Ein Schwarm schwarzer Vögel, der vor der aufgehenden Sonne aufschwirrt. Otto Dix hat den Karton bemalt, 1913. Er steht bei Florian Illies, dem geschäftsführenden Gesellschafter des Auktionshauses Villa Grisebach in Berlin, auf einem Bücherbord.

Für uns Heutige ist 1913 aus einem einzigen Grund ein besonderes Jahr: Es ging dem Jahr 1914 voraus. Ja, 1913 steht so knapp an der Kante zum Abgrund, dass wir im Rückblick geradezu darüber hinwegrasen. Wir nehmen das Jahr allenfalls als frivoles Vorspiel wahr, hin zur Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs. Nur dadurch erhält es historische Würde.

Natürlich können wir 1913 nicht unschuldig anschauen. Wir suchen nach Vorzeichen. Wir suchen nach endzeitlichen Stimmungen, wie sie die Diskurse auch heute bestimmen, die linke oder die rechte Untergangslust, die düsteren Prophetien des Club of Rome oder die der zornigen Evangelikalen. Ja, wir schauen nach Vogelschwärmen, die auffliegen und das große Beben ankündigen, wir Neurastheniker und müden Kollapsgewohnten, wir apokalyptisch Ahnungsvollen des Abendlands.

Dabei hat Florian Illies, 41, Autor des Bestsellers “Generation Golf” und nun auch der Jahres-Collage “1913”, nichts von einem Apokalyptiker, wie er da vor dem Dix sitzt: artige Frisur, freundliches Lächeln(**). Überhaupt nicht verdüstert. Vielleicht, weil er sich nicht für Schwärme interessiert, sondern für den einzelnen Vogel. Für die Nahaufnahme.

Aber hat nicht auch Hitchcocks Thriller “Die Vögel” mit dieser einzelnen Krähe eingesetzt? Wie können wir den folgenden wütenden Vogelsturm vergessen, so einen, wie ihn Dix gemalt hat? Wie können wir das Jahr 1913 erleben, ohne den industriellen Massentod 1914 zu denken, die Giftgaswolken, das millionenfache Verrecken? Wie können wir uns die sorglosen Rilke und Mann und Hofmannsthal, die Protagonisten von damals, vorstellen, ohne mit dem Kopf zu schütteln, ohne ihnen zurufen zu wollen, in Deckung zu gehen?

Illies musste die Hacken eingraben, um sich gegen den Sog der Geschichte zu stemmen, sonst wäre ihm der Stoff entglitten, eine “körperliche Anstrengung”.

In seinem Buch, einem brillanten Spiel aus Originalzitaten und Nachzeichnung, drückt er auf die Zeitlupe, und oft aufs Standbild und zaubert aus dem Jahr, das zur Katastrophe führt, ein Abenteuer der Gegenwärtigkeit. 1913 soll gelten, und nichts sonst. Pure Gleichzeitigkeit von Politik und Liebe, Skandal und Tratsch und Tod, eine raffinierte Montage, eine Mischung aus Einfühlung und Puzzlegeduld, immenser Lektüre und geistesgeschichtlichem Witz.

Berlin 1913: Die Stummfilmdiva Asta Nielsen dreht ihre ersten Filme, Kurt Tucholsky hat seine Manuskripte in der “Weltbühne” abgegeben. Illies arbeitet in vermintem Gelände, historisch gesprochen, die Vergangenheit drängt sich durch und die Gegenwart ist nie unschuldig.

Im Jahr 1913 malt Ernst Ludwig Kirchner die Kokotten unter dem grünen Gaslicht am Potsdamer Platz und sammelt die Brücke-Maler um sich. Ist Illies, der Kunstmensch, neidisch auf die kreativen Explosionen jener Zeit? “Nicht neidisch – interessiert.”

Die Kunst nimmt auf ihre Weise den Zivilisationsbruch vorweg, denn sie bringt gleich zwei Nullpunkte hervor: Malewitsch malt sein schwarzes Quadrat, und Marcel Duchamp verschraubt ein Rad auf einen Schemel zu seinem ersten Readymade. Es ist ein verqueres Jahr.

Nicht nur wir lesen es wie einen letzten Stolperstein ins Unglück, schon manchem Zeitgenossen galt die 13 als Unglückszahl. D’Annunzio datiert die Widmung seines neuen Werkes auf “1912+1”. Schönberg, der kühle Schöpfer der rationalen Zwölfton-Musik, meidet 13. Takte, überhaupt kommt die 13 selten vor, und als er bemerkt, dass der Titel seiner Oper “Moses und Aaron” 13 Buchstaben ergibt,

streicht er ein a, weshalb sie “Moses und Aron” heißt. Und wir staunen über “die Geburt des Rationalen aus dem Geist des Aberglaubens”.

Was für ein Jahr der Aufbrüche: Franz Kafka schreibt einen seiner Achterbahn-Briefe an Felice Bauer, diese Kurven aus Nähewunsch und der neurotischen Angst vor Nähe. Und in München besteigt Thomas Mann den Zug, um in Berlin seiner Hinrichtung beizuwohnen.

Mann steigt im Hotel “Unter den Linden” ab und lässt seinen Mantel aufbügeln. Zur gleichen Zeit steht Alfred Kerr vor dem Spiegel seiner Grunewalder Villa, “Deutschlands größter Kritiker und eitelster Fatzke”, entschlossen, Manns Stück “Fiorenza”, aufgeführt in den Kammerspielen, zu meucheln.

Es geht um Theater an diesem Abend, aber mehr noch geht es um Katia Pringsheim, “die reiche Jüdin mit den Katzenaugen”(Illies), die Kerr im Ostseebad Bansin beflirtet hatte, während sie sich diesem steifen Thomas Mann an die Brust warf. Geschichte als Eifersuchtsdrama. Er lächelt kalt, während er die “Fiorenza” sieht, denn er weiß, so Illies: “Er wird sehr fest zudrücken und wenn er loslässt, wird sie leblos zu Boden taumeln.”

Illies ist nicht nur Monteur, sondern auch Zirkusdirektor dieser Nummernrevue. Die Mona Lisa bleibt noch verschwunden, Camille Claudel kommt in die Nervenklinik. Und Rilke? “Wo steckt er eigentlich?”

Rilke muss her, Rilke kommt auf Illies’ Zuruf, da sitzt er schon in einem spanischen Café, denn er meidet den deutschen Winter, und er schreibt Briefe an reiche Gönnerinnen, schreibt an seinen “Duineser Elegien” in seinem kleinen schwarzen Taschenbuch, er sitzt in der grellen Wintersonne, die ihn stört.

Während in München tatsächlich einer dunkle Vorahnungen hat, ein Misanthrop namens Oswald Spengler, der an seinem Monumentalwerk “Der Untergang des Abendlandes” sitzt. Spengler notiert: “Ich bin der letzte meiner Art.” Er geht, so Illies mit feiner Süffisanz, dem Abendland “mit gutem Beispiel voran”.

Darf man in solchen Aperçus Geschichte einfangen? Darf man so unangestrengt flanieren zwischen den Zeitebenen, darf man 1913 zum Feuilleton-Kalauer auf dem Promenadendeck machen? Wenn man den Sound so gut beherrscht: bedingungslos ja. Manchmal scheint es, als ließe sich Illies produktiv anstecken vom frivolen Geplauder dieser europäischen Dämmerstunde 1913 – was sein Buch umso lesbarer macht.

Natürlich kann er nicht wissen, ob Stalin und Hitler im Park Schönbrunn aneinander vorbeigelaufen sind – vorstellbar ist es, und so stellt er es sich vor. Dass Bucharin bei jenem Kindermädchen landen kann, um das sich Stalin vergebens bemüht hat, ist allerdings belegt.

Und dass Bucharin dafür “irgendwann einmal mit einer Kugel im Kopf bezahlen muss”, liegt auf der Hand, denn Geschichte kennt den subjektiven Faktor. Das Kindermädchen mag Stalins Pockennarbengesicht einfach nicht, die Physiognomie eines Menschen kann historisch so entscheidend sein wie ein Panzeraufmarsch, Alexander Kluges Filmessays handeln von nichts anderem.

Auf solche Kausalitäten mag auch Illies nicht verzichten, auch nicht auf den gelegentlichen Sprung in die Zukunft, wenn er zur Pointe taugt. Wenn Rudolf Steiner für die Grundsteinlegung seines Goetheaneums in Dornach ausgiebig die Sterne befragt, dann wäre es, “ein Verbrechen am Leser, nicht hinzuzufügen, dass es zehn Jahre später abbrennen wird”.

Else Lasker-Schüler beschimpft auf einer Vernissage die Malerin Münter als “eine Null”, und wir haben sie vor uns, mit ihren klirrenden Armreifen, ihrer exzentrischen Boheme-Frisur, ihrer Leidenschaftlichkeit und Poesie. Ihre Gedichte, das erfahren wir kurz darauf, kann Kafka partout nicht leiden.

Und Rilke? “Rainer Maria Rilke hat Schnupfen”, und wir sind erst im März.

Wir sind neugierig auf Kokoschka, den eifersüchtigen Faun der Alma Mahler. Er malt vorwiegend Alma Mahler, am liebsten nackt.

Und er malt sie groß, auf einer Leinwand, die die Ausmaße ihres Bettlakens hat, und er malt sich daneben, es ist das Meisterwerk, das sie verlangt hat, bevor sie seinem Heiratsdrängen nachzugeben gewillt sei. (Doch sie, das tuschelt uns Illies zu, hat längst die Angel zu Walter Gropius ausgeworfen.)

In diesen Doppelbelichtungen aus der Gegenwart und Blitzen aus der Zukunft beginnt dieses Jahr zu leuchten, das Illies, zunächst, “völlig langweilig” vorkam, denn weder Wissenschaft noch Technik haben Durchbruchsereignisse zu feiern. Dafür aber ahnt die Kunst, die Literatur, sie eilen voraus.

Ludwig Meidner lädt mittwochs in sein Atelier, Jakob van Hoddis, der Dichter des “Weltendes” ist dabei (“Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut …”), Paul Zech, René Schickele, Kurt Pinthus. Auf Meidners apokalyptischen Gemälden fliegt alles in die Luft. Alles Gerade muss gebrochen werden, auf allen Landschaften Trümmer, Fetzen und Asche.

Natürlich gibt es Prophetien in diesen Tagen, in denen Horrormeldungen vom Balkan kommen, und die sehen so aus: Der britische Schriftsteller und spätere Friedensnobelpreisträger Norman Angell schreibt in einem offenen Brief an die deutsche Studentenschaft, dass der Weltkrieg ausbleiben werde, da die Globalisierung die Wirtschaft der Länder so eng verzahne! Kennen wir das nicht?

Andere schlafen schlecht und träumen wild. C. G. Jung wacht schweißgebadet von der Vision auf, dass Europa unter Riesenfluten versinkt, überall nur Mord und Totschlag und Verwüstungen.

Alma Mahler nennt Kokoschka “verjudet”, und Heinrich Kühn fotografiert seine Familie, in Farbe! Neben allem anderen ist dieser bunte Zeit-Roman auch groteskes Kabarett. Er ist eine Litfaßsäule vor dem Grandhotel “Abgrund”, die beklebt ist mit den Hoffnungen und Verzweiflungen des Tages, mit Meldungen über Liebe, Tod und Teufel.

Wie wird man unser Jahr bekleben in weiteren hundert Jahren?

Nichts ist natürlicher als die Einteilung des Jahres-Buches in zwölf Kapitel, zwölf Monate. Rilke ist im Januar ein anderer als im Juli. An einem “schönen Augusttag” setzt Musils “Mann ohne Eigenschaften” ein. Im November begibt sich Proust mit ” Swann” auf die Suche nach der verlorenen Zeit.

Nicht im großen strategischen Pinselschwung, sondern in der Kleinteiligkeit des Alltags dechiffriert Illies das kommende Unheil. “1913” ist die Apokalypse nach Illies, denn Apokalypse heißt ja nichts anderes als “Offenbarung”. Anders jedoch als in den Visionen des Johannes wird das drohende Weltende nicht mit Posaunenschall und Engelsscharen intoniert, sondern in den banalen Randnotizen gelesen. Kaiser Wilhelm II. lässt in anderthalb Jagdstunden 560 Stück Wild exekutieren, beim österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand sind es 1000 Fasane, die Herren schießen sich warm.

Ist Illies selber über der Lektüre zum Apokalyptiker geworden? Sieht er die Gegenwart anders?

Nein, sagt Illies. Aber genauer. Vor allem hat er gelernt, vorgeblichen Kausalitäten zu misstrauen. Der triumphalen Tagesgewissheit, der tägliche Thesenschmiederei. Heute, sagt Illies, genügen schon zwei Belege für eine These, drei für einen Trend, im Internet ist die Beschleunigung unendlich multipliziert. Aufstieg und Fall der Reiche in fünf Minuten, bald werden sie im gleichen Atemzug prognostiziert.

Dabei sei es doch so: “Geschichte ist natürlich erst mal ein grandioses Durcheinander.” Es kann alles auch anders kippen.

Früher war Illies ein kluger Feuilletonist, vornehmlich für die “FAZ” und die “Zeit”. Vor zwei Jahren ist er Kunsthändler geworden. Er hat dem Thesengeschäft den Rücken gekehrt.

Die drei Jahre, in denen er an “1913” gesessen hat, waren für ihn eine “immens wichtige Disziplinierung, eine Selbsterziehung zur Genauigkeit”.

Doch auf eine andere Art ist es Illies gelungen, an die modernste aller Rezeptionshaltungen anzuknüpfen, an unsere Geläufigkeit der Gleichzeitigkeit. So erleben wir unsere Geschichte: Wir sitzen im Zug und schauen ein Video aus dem Syrien-Krieg, werfen gleichzeitig einen Blick auf Aufstellung der deutschen Nationalmannschaft und kontaktieren über Facebook Freunde in Südafrika

Unser Leben ist ein simultaner Gegenwartsroman, und nicht immer sind wir die Autoren. Kommt das Weltende darin vor? Aber klar, wenn etwas sicher ist, dann das Weltende. Für jeden Einzelnen von uns.

Was übrigens oft übersehen wird: Die delirierende Apokalypse des Johannes schließt mit einem großen Hoffnungshymnus.

Aber es hilft, vorbereitet zu sein.

Erschienen am 22.10.2012 im DER SPIEGEL 43/2012